Einsamkeit
Vergleich: Siehe: Religionen
Die Eremitin Maria Anna Leenen
15:22 Minuten
Moderation: Kirsten
Dietrich · 21.08.2022
Einsamkeit ist etwas, was immer mehr Menschen erleben und fürchten. Aber im Alleinsein kann auch große Kraft liegen, wenn man es bewusst sucht. Maria Anna Leenen
hat das sehr radikal getan: Sie
lebt als Einsiedlerin in einem Häuschen mitten im Wald.
Kirsten Dietrich:
Ich möchte jetzt über Einsamkeit reden, über das Alleinsein – und wie man
vielleicht so mit sich allein sein kann, dass man dabei nicht unter Einsamkeit
leidet. Und dazu bin ich mit Maria Anna Leenen verbunden, die das Konzept
Alleinsein sehr radikal lebt, sie ist nämlich Einsiedlerin, Eremitin, und das
seit 25 Jahren. Ich bin mit Ihnen verbunden in Ihrer Einsiedelei. Was ist denn
das für ein Ort, an dem Sie leben, Frau Leenen?
Maria Anna Leenen:
Das ist ein altes Heuerhaus. Das waren kleine, winzige Bauernhäuser, die arme
Leute sich errichten konnten, weil der Großbauer ihnen ein kleines Stück Land
zur Verfügung gestellt hatte. Da durften sie das Häuschen drauf bauen und
vielleicht einen Stall und ein bisschen Vieh halten, ein paar Hühner, eine Kuh
und ein paar Schweine. Dafür mussten sie dem Bauern aber dann rund um die Uhr zur
Verfügung stehen.
Und dieses Häuschen habe ich
beziehungsweise der Förderverein der Klause vor ein paar Jahren kaufen können.
Ich hatte das erst gemietet, aber wir brauchten einfach jede Menge
Unterstützung, um das überhaupt wohnfähig zu machen. Deswegen hat sich da ein
Verein gebildet. Da habe ich es dann irgendwann kaufen können.
Dietrich: Und da
sind Sie immerhin so einsam, dass eine digitale Verbindung nicht klappt und wir
nur per Telefon sprechen können. Ihren Lebensunterhalt, denn ein Eremit muss
sich auch seinen Lebensunterhalt verdienen, verdienen Sie mit Schreiben. Ihr
neuestes Buch ist ein Tagebuch, Sie haben darin das letzte Jahr, 2021, immer
wieder in Notizen gespiegelt und reflektieren darin über Ihren Alltag und über
das Alleinsein – und genau so heißt das Buch dann auch, „Alleinsein“. Schreiben
Sie immer Tagebuch?
Leenen: Nein, ich
mache mir natürlich immer sehr viele Notizen, weil mein Tag, wie es bei einer
Einsiedlerin sein sollte, mit viel Gebet, mit viel Meditation, mit viel
Reflexion verbunden ist, und zwar von morgens um sechs bis abends um elf Uhr.
Und so habe ich in der Pandemie, wo vieles nicht ging, was sonst geht, also
keine Menschen zum Gespräch kommen konnten, keine Gruppen und so weiter, enorm
viel geschrieben, ich habe insgesamt vier Bücher gemacht. Und das intensivste
über die Einsamkeit ist dieses Tagebuch gewesen.
Dietrich: Als ich
Ihr Buch gelesen habe, habe ich mich selber gerade in häuslicher Einsiedelei
befunden. Ich war nämlich an Covid erkrankt und wollte den Rest der Familie
nicht anstecken – was nicht geklappt hat –, ich habe aber auf jeden Fall fast
eine Woche abgeschieden von allen in einem Zimmer gelebt, während jenseits
meiner Tür der Alltag weiterging – und ich fand es furchtbar. Was unterscheidet
meine Einsiedelei von Ihrer?
Leenen: Das lockt
mich natürlich, Sie zu fragen, warum das so furchtbar war, denn diese Gespräche
habe ich in der Corona-Zeit ganz häufig gehabt. Dass Menschen angerufen haben
und gesagt haben, das ist wie Isolationshaft. Was mache ich denn jetzt, was
mache ich denn jetzt? Und ich habe versucht, ihnen Wege zu zeigen, dass sie
dieses Zurückgeworfensein auf sich selbst als positiv empfinden und nicht als
furchtbar.
Und das ist
vielleicht auch der Unterschied zu meiner Einsamkeit oder zu meiner
Zurückgezogenheit, dass ich sie nicht nur als Hilfe, als Herausforderung, aber
auch als positiven Impuls empfinde, sondern: Meine Einsamkeit ist eine
Einsamkeit mit Gott. Und ich nehme seine Präsenz so intensiv wahr, dass mich
das Alleinsein nicht nur nicht stört, sondern, dass es für mich ein ungeheuer
positiver Moment ist, und das wirklich jeden Tag, jede Woche, jeden Monat,
jedes Jahr.
Dietrich: Wenn
Sie von sich selbst reden, sagen Sie dann, dass Sie einsam sind, oder sagen
Sie, dass Sie allein sind? Das macht ja einen Unterschied.
Leenen: Das kommt
darauf an, was Sie unter den verschiedenen Wörtern oder Begriffen verstehen.
Einsamkeit ist ja nicht per se negativ, genauso wie Alleinsein nicht per se
negativ ist, sondern es wird immer das damit verbunden, was ich vielleicht mal
gelesen habe oder was mir selber daran nicht gefällt oder was mich belastet.
Von daher würde ich diese beiden Begriffe gleichsetzen.
Dietrich:
Interessant, für mich wäre einsam eigentlich negativer besetzt, weil das heißt,
dass man sich eigentlich nach Gesellschaft sehnt, während Alleinsein einfach
bedeutet, dass man mit sich alleine ist.
Leenen: Das würde
ich so nicht sehen, aber das ist auch so eine Sache, die man philosophisch von
wirklich vielen Seiten betrachten kann. Für mich sind diese Begriffe im Grunde
genommen gleich.
Dietrich: Sie
haben ja nicht Ihr ganzes Leben alleine gelebt, Sie hatten vor Ihrer Klause ein
anderes Leben mit Job, Beziehung, Reisen – und doch reden Sie davon, dass Sie
irgendwann zur Einsamkeit berufen worden sind. Was heißt das für Sie?
Leenen: Erst
einmal kenne ich das Alleinsein durchaus, auch vorher. Denn ich bin zwar viel
unterwegs gewesen, hatte eine Menge Freunde und habe sehr, sehr viel Sport
gemacht, auch sehr viel Gemeinschaftssport. Aber ich bin immer wieder auch mal
ein Wochenende allein verschwunden, habe mich irgendwo in einem Reiterhof
meistens eingemietet oder bin einfach alleine durch den Wald gelaufen am
Wochenende oder zwischendurch mal einen Tag, wenn ich frei hatte. Von daher
kannte ich das Alleinsein oder die Einsamkeit, je nachdem, schon vorher.
Ich hatte eine sehr,
sehr intensive Bekehrung, ja, so kann man das wohl nennen, in Südamerika, wo
mir schlagartig klar geworden ist, dass ich Gott brauche und dass ich
eigentlich einen tiefen Gotteshunger habe. Dann war mein Weg natürlich sehr
lang, bis ich dann kapiert habe, mein Weg ist in der Einsiedelei, ist in der Klause
als Einsiedlerin.
Das ist jetzt fast 36 Jahre her,
daran sieht man schon, dass das nicht so von jetzt auf gleich ging. Aber für
mich war dann irgendwann klar: Das ist der Weg, das ist die Lebensform, die zu
mir passt, in der ich leben soll.
Stille im Überfluss
Dietrich: Wie
streng ist bei diesem Leben Ihr Tag gegliedert? Und setzen Sie sich selber
einen Tagesrhythmus oder haben Sie da Vorgaben?
Leenen: Vorgaben
habe ich schon insofern, dass ich natürlich – vorsichtig formuliert –
verpflichtet bin zum Gebet, so heißt das kirchenrechtlich. Aber das ist ja
keine Verpflichtung, die man nur schweren Herzens irgendwie erfüllt, sondern
das ist natürlich auch das, was ich möchte. Ich möchte ein intensives Leben des
Gebets und der Meditation führen, der Schriftlesung, der Reflexion.
Von daher gliedert sich der Tag
anhand des sogenannten Stundengebetes. Das heißt, man fängt morgens um sechs
Uhr an mit einem kurzen Gebet in meiner Kapelle, ich habe eine eigene, kleine
Kapelle, dann muss ich aber meine Tiere füttern, trinke selber Kaffee. Dann
gibt es irgendwann die Laudes, das Morgengebet, meistens so gegen halb acht,
acht. Dann ist mittags ein Moment Pause in der Kapelle und am Nachmittag auch
noch mal beziehungsweise am frühen Abend, je nachdem, wie der Tag so abgelaufen
ist.
Und immer wieder zwischendurch
habe ich Zeiten, wo ich einfach in die Kapelle gehe oder mich einfach draußen
hinsetze bei meinen Tieren oder im Garten und ich bin still und versuche, den
inneren Impulsen nachzugehen, die sich tagsüber oder manchmal auch nachts bei
mir bilden. Von daher ist das schon eine starke Gliederung.
Dietrich: Sie
beschreiben das in Ihrem Tagebuch als ein durchaus karges Leben, also ohne
materiellen Überfluss. Gibt es etwas, was Sie dabei auch im Überfluss haben?
Leenen: Stille.
Stille habe ich im Überfluss. Und das ist nicht karg, sondern das ist etwas
Wunderschönes.
Dietrich: Ihr
Tagebuch liest sich oft sehr nah an der Natur, sehr intensiv im Moment. Aber es
gibt auch dunkle Momente, vor allen Dingen in der Zeit, in der Sie einen Unfall
hatten, Ende des Jahres. Ich habe mir den Eintrag gemerkt: „Draußen Schlamm,
drinnen Schmerzen.“ Ist das etwas, was Sie leicht wieder wegstecken konnten,
diesen Gedanken, in der Einsamkeit tatsächlich hilflos zu sein?
Leenen: Ich bin
ja jeden Tag in der Schöpfung, in der Natur, deswegen habe ich auch das große
Buch über Schöpfung geschrieben im letzten Jahr, also eines von den vier, die
ich gemacht habe. Der größte Schmerz war eigentlich nicht die kaputte Schulter
und der kaputte Oberarm, sondern meine Dummheit, dass ich gemeint habe, ich
kann meinen Hund halten, wenn ich eine Zehn-Meter-Leine habe und wir beide
volle Pulle rennen. Das ist dann voll daneben gegangen. Und die Zeit, während
ich mitten im Wald war, es war keiner da, und ich hatte eine kaputte Schulter
und einen Hund, den ich irgendwie handeln musste, das war schon schwierig, das
gebe ich zu. Und ich habe auch ganz schön um Hilfe gebrüllt, hat aber keiner
gehört, weil keiner da war.
Weggesteckt habe ich es, indem ich
darüber natürlich nachgedacht, reflektiert, meditiert habe, mir eingestehen
musste, dass ich dumm bin, dass ich meine, ich könnte den Hund so halten. Und ansonsten
aber dankbar bin, dass meine Nachbarn, meine Freunde mir dann doch geholfen
haben, über diese Zeit hinwegzukommen, vor allen Dingen erst mal hier den Laden
am Laufen zu halten. Mit den Tieren können Sie nicht einfach Urlaub machen oder
krankfeiern, das geht nicht.
Dietrich: Das
heißt, auch eine Einsiedlerin braucht Freunde, braucht ein Netzwerk.
Leenen: Ja, ja,
das ist ja immer so das typische Bild, was man im Kopf hat, wenn man hört, das
ist ein Einsiedler: Ein alter Mann mit Bart und zerrissener Kutte lebt in einer
Felsenhöhle und der Rabe bringt ihm das Brot und er sieht nie jemanden, das ist
natürlich Quatsch. Das gab es sogar in der Vergangenheit so gut wie nie.
Einsiedler waren immer
Ansprechpartner für Menschen in Not, waren immer Ratgeber. Von daher hatten sie
auch immer Kontakte. Und jeder normale, christliche Einsiedler, es gibt auch
außerchristliche, aber auch die christlichen, die gehen zum Gebet irgendwohin,
die gehen in die Kirche, zum Gottesdienst und so weiter. Von daher ist das
Bild, das wir über Einsiedler haben, natürlich ein Idyll, was es so aber nie
gegeben hat.
Maria Anna
Leenen: „Allein sein: Lebensform – Herausforderung – Chance. Aus dem Tagebuch
einer Eremitin.“
Patmos Verlag, Düsseldorf 2022
176 Seiten, 19 Euro
Dietrich: Auch
wenn das Konzept anders gelebt wird, ist es aber eines, das auf jeden Fall
Menschen neugierig macht. Sie beschreiben auch, das kommt ganz regelmäßig in
Ihrem Tagebuch vor, dass eben Menschen Sie anrufen, anschreiben und Sie um Rat
bitten, obwohl sie Sie vielleicht gar nicht persönlich kennen. Was erhoffen
diese Menschen von Ihnen, warum wenden sie sich an die Einsiedlerin?
Leenen: Ja, das
frage ich mich manchmal auch. Es gibt schon Fragen oder Anfragen, wo Menschen
einfach nur neugierig sind. Irgendwo haben sie meine Telefonnummer her und
rufen an und sagen: Erzählen Sie doch mal! Die kann ich relativ schnell immer
sozusagen befriedigen. Dann rufen aber ganz viele Menschen an, gerade in der
Corona-Zeit, die einfach einen brauchen, der einmal zuhört. Die erzählen mir
wirklich manchmal eine Stunde lang über ihre Probleme, ihre Sorgen, die wollen
gar nicht unbedingt den großen Ratschlag haben.
Ich bin, auch wenn
sich das jetzt etwas negativ anhört, wirklich so ein bisschen ein Mülleimer.
Sie können endlich mal erzählen, wie beschissen ihr Leben ist, und keiner hört
zu und keiner will es hören – und ich höre zu. Das ist vielleicht einfach nur
eine Entlastung. Das ist aber für manche Menschen schon sehr, sehr viel.
Dietrich: Ist es
das, was Sie mit der Formulierung, „Wächter für die Einsamkeit des anderen“ zu
sein, meinen, die Sie sich vom Dichter Rainer Maria Rilke geborgt haben?
Leenen: Ich habe
ja viel gelesen über verschiedene Formen der Einsamkeit. Wächter der
Einsamkeit: Ich glaube, das ist eher in einer Beziehung so. Wenn Menschen mich
anrufen, würde ich den Begriff nicht benutzen. Aber in einer Beziehung kann das
schon sein, dass man den anderen auch schützen muss vor zu viel Trubel, zu viel
Action, zu vielen Kontakten. Man muss es im Kontext bei Rilke lesen, sonst kann
man das sehr falsch verstehen, von daher würde ich den Begriff immer sehr
vorsichtig nur benutzen.
Dietrich: Sie
fragen sich aber in diesem Jahr ja sehr oft und sehr ausführlich, was Ihre
Einsamkeit eigentlich bedeutet, Reflexion über das, was Sie da eigentlich
machen und was Sie leben. Haben Sie eine Antwort gefunden?
Leenen: Ich
denke, ja. Aber das ist natürlich schwer zu erklären in einem kurzen Interview.
Wenn Sie sehr intensiv in der Stille mit Gott leben, im Gebet, mit Meditation
und Reflexion, dann ist das fast so ein bisschen wie eine spiralförmige Treppe,
die nach unten geht zu Ihnen selbst.
Das heißt, meine Erfahrung ist,
dass ich über diesen langen, langen Zeitraum, den ich das jetzt lebe, wirklich
einmal viel mehr erfahren habe, wer ich bin – und das meint jetzt nicht so ein
schönes Bild von mir selber, sondern wie ich bin, auch mit allen Ecken und
Kanten und Macken, die ich habe; und dass ich trotzdem – und das ist eigentlich
das, was so wichtig ist – zutiefst davon überzeugt bin, nicht nur, dass dieser
Gott, den ich da anbete, mit dem ich versuche, zu leben, dass der mich liebt,
sondern dass, indem ich diesen Weg sozusagen nach innen gehe, ich auf einen
Punkt komme. An dem merke ich nicht mehr, Gott ist für mich da, er ist für mich
derjenige, der mich geschaffen hat und so, sondern auch, das gilt für jeden
Menschen.
Es ist ein Sinken,
wenn man so will, auf den existentiellen Grund allen Menschseins. Wir sind
geschaffen. Es gibt jemanden, der größer ist als wir, der wollte, dass ich bin,
und der mein ganzes Leben lang immer wieder versucht, mich auf eine Spur zu mir
selbst zu bringen. Und zwar nicht aus Kontrolle oder als Strafe, sondern damit
ich begreife, wie wunderbar es ist, dass es mich gibt – und dass es jeden
Menschen gibt, egal wie er ist. Und das ist meine Antwort.
Dietrich: Ich würde das Gespräch gern beenden mit einem Zitat aus Ihrem Buch: „Trotz meiner stark reduzierten Kontakte, trotz des Alleinseins bin ich zufrieden und, ja, auch glücklich, weil ich mein Leben und mein Tun als sinnvoll empfinde – und zwar generell, nicht punktuell oder nur in gewisser Weise, sondern komplett. Ich bin einsam, aber nicht vereinsamt.“
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