Aquae allgemein Anhang 3

 

[GREENPEACE STUDIE]

Chlor macht krank: Die Auswirkungen von Chlorverbindungen auf die menschliche Gesundheit

Winfried Schwarz, Andre Leisewitz; Öko-Recherche - Büro für Umweltforschung und -beratung GmbH, Frankfurt auf der Grundlage der Greenpeace-Studie

"Body of Evidence - the effects of chlorine on human health" von Michelle Allsopp, Pat Costner und Paul Johnston;

 

Vorwort

In den 60er Jahren begann die beispiellose Karriere der Allround-Chemikalie Chlor: Die Produktion des gelben Gases hat sich seither verfünfzehnfacht. Chlor wird von der

chemische Industrie zur Herstellung von ca. 11.000 verschiedenen chlororganischen Chemikalien benutzt. Jährlich gelangen davon mehrere Millionen Tonnen in die Umwelt.

Chlororganika sind meist schwer abbaubar und reichern sich stark im Körper von Mensch und Tier an.

Heute finden Toxikologen im menschlichen Körper fast 200 Stoffe der Chlorchemie (Muttermilch, Fettgewebe, Sperma, im Blut.... Diese Chemisierung des Menschen mit

den meist naturfremden Chlorchemikalien hat Folgen.

Die Studie "Chlor macht krank" faßt den aktuellen Stand der Forschung über die außerordentlich umfassende Giftwirkung von Chlorchemikalien auf die menschliche

Gesundheit zusammen: Chlorgifte können Krebs, Unfruchtbarkeit, Mißbildungen bei Kindern, Hormonstörungen, Immunschäden, Schäden des Nervensystems und

Schädigungen verschiedener Organe hervorrufen.

Durch das hohe Anreicherungsvermögen der Chlorgifte summieren sich auch kleinste Konzentrationen zu gefährlich hohen Körperbelastungen. Nicht nur besonders exponierte Menschen, auch der Durchschnittsbürger ist der chronischen Langzeitvergiftung durch diese Stoffe ausgesetzt. Besonders gefährdet sind Kinder, die während der Entwicklung im Mutterleib und der Stillphase oft hohen Giftkonzentrationen ausgesetzt sind, die von der Mutter auf das Kind übergehen.

 

Krebsgifte

Bei den krebserregenden Chemikalien nehmen die Chlororganika eine absolute Spitzenstellung ein: Ein Drittel der als krebserregend eingestuften Stoffe sind Chlorverbindungen.

Die Abbauprodukte vieler Chlororganika sind ebenfalls hochgradig krebsauslösend.

 

Hormongifte

Zahlreiche Umweltchemikalien, darunter auch viele Chlorverbindungen, haben hormonähnliche Wirkung und beeinträchtigen das hormonelle System des Menschen.

Diese Stoffe wirken bereits in sehr geringen Konzentrationen. Und sie wirken generationen übergreifend, denn ganz besonders betroffen ist das ungeborene Kind, das in

seiner Entwicklung bereits durch allerkleinste Mengen hormoneller Wirkstoffe beeinträchtigt wird. Die Folgen zeigen sich zum Teil als Mißbildung der Reproduktionsorgane, zum Teil aber auch erst nach Jahren in Form von

Reproduktionsstörungen oder erhöhtem Krebsrisiko.

Die Studie präsentiert alarmierende Ergebnisse: Die Spermienzahl der Männer ist in der Zeit von 1940 - 1990 um 40% zurückgegangen. Auch die Spermienqualität nimmt ab. Zugleich häufen sich andere Störungen des männlichen Reproduktionssystems, wie Hodenkrebs und Mißbildungen. Auch bei Frauen kommt es zu Reproduktionsstörungen und zum Anstieg einiger Krebsarten (Brust-, Vaginal- und Gebärmutterhalskrebs).

Eine steigende Zahl von Frauen leidet unter Endometriose.

Immungifte

Auch beim Immunsystem können kleinste Dosen vieler chlororganischer Schadstoffe schwere Störungen hervorrufen. Die Abwehrkraft wird vermindert und die Immunabwehr gestört.

 

Nervengifte

Viele Chlorchemikalien, z.B. chlorierte Lösemittel, sind ausgesprochene Nervengifte und können zu schweren und nicht wieder heilbaren Beeinträchtigungen des Denkvermögens und der Koordinations funktionen des Körpers führen.

 

Leber- und Nierengifte

Die Leber und die Niere sind, als die wichtigsten Entgiftungsorgane des Körpers, besonders stark mit Chlororganika belastet. Verschiedene Chlorverbindungen können

von diesen Organen zwar in gewissem Umfang abgebaut werden. Doch sind die Abbauprodukte häufig noch giftiger als die Ausgangsstoffe, so daß sich der Körper

durch die Umwandlung der Chlorchemikalien große Schäden zufügt. Dies ist z.B. der Fall bei vielen chlorierten Lösemitteln und Pestiziden wie DDT.

Auf Giftlisten führend

Das hohe Vielfalt und die Schwere der Giftauswirkungen von Chlororganika führte dazu, daß sie heute in Gift- und Verbotslisten die größte Einzelgruppe stellen.

Einzelne Chlororganika wie DDT, PCB's, Lindan, FCKW und PCP wurden verboten.

Doch bis der Gesetzgeber reagierte, war es schon zu spät, um die chemischen Verseuchung der Umwelt und des Menschen mit diesen Stoffen zu verhindern. Denn die Stoffe waren schon in enormen Mengen in die Umwelt gelangt und hatten sich so weit ausgebreitet, daß sie nun noch über Jahrhunderte in der Umwelt zirkulieren werden.

Gruppengefahr - Chlor macht das Gift

Nahezu alle bis heute untersuchten synthetischen chlororganischen Verbindungen sowie ihre Vor- bzw. Abbauprodukte erwiesen sich als umwelt- und gesundheitsschädlich. Die festgestellte Schadwirkung, so zeigen zahlreiche Studien, hängt in der Regel unmittelbar mit der Einführung von Chlor in einen organischen Stoff zusammen.

Die Produktion und Freisetzung chlororganischer Produkte muß gestoppt werden.

Das gleiche gilt für bromorganische Produkte.

- Höchste Priorität hat die Substitution der chlororganischen Produktsparten PVC, FCKW/HFCKW, chlorierte Lösemittel, Pestizide, Chlorparaffine, Papierbleiche und bestimmter Bereiche der Chloraromaten.

- Chlororganische Produkte müssen unverzüglich als chlorhaltig gekennzeichnet werden.

- Die Freisetzung aller - auch schon produzierter - Chlororganika in die Umwelt muß unterbunden werden. Hersteller und Anwender von Chlororganika müssen für die sichere "Entsorgung" dieser Stoffe sorgen.

- Hersteller und Anwender von Chlororganika müssen für Umweltbelastungen, für Umwelt- und Gesundheitsschäden, die durch diese Stoffe hervorgerufen werden, haften.

- Eine grundlegende Konversion der Chlorchemie ist ökologisch notwendig und ökonomisch tragbar. Diese Konversion muß von der chemischen Industrie eingeleitet werden. Die Bundesregierung, die Gewerkschaften und Umweltverbänden müssen diese Umstellung aktiv unterstützen.

- Die chemische Industrie darf grundsätzlich keine Stoffe herstellen und vermarkten, die nicht toxikologisch eingehend untersucht sind und für die keine Nachweisverfahren existieren.

 

1. Chlororganische Umweltchemikalien die krank machen

Die Chlorchemie umfaßt ein weites Gebiet unterschiedlichster Anwendungen von chlorhaltigen Produkten. Hierfür wurden 1992 in Deutschland rund 3 Millionen Tonnen Chlor erzeugt und in der chemischen Industrie eingesetzt. Überall in unserer Lebens- und Arbeitsumwelt haben wir es mit irgendeinem Vertreter der rund 11.000 chlororganischen Produkte zu tun. Auf die verschiedenen Einsatz- und Verwendungsgebiete gehen wir im Schlußkapitel 7 näher ein. Hier, am Anfang dieser Studie, wollen wir uns auf die stofflichen Eigenschaften der chlororganischen Verbindungen konzentrieren, insbesondere die Frage, wie und warum sie krank machen.

Der Toxikologe Dietrich Henschler schreibt hierzu in einer neuen Studie über die "Toxikologie chlororganischer Verbindungen": ".... unter den mutagenen und kanzerogenen Verbindungen (stellen) diejenigen mit Chlorresten einen hohen Anteil. In Deutschland sind sie in der Liste der gesundheitsschädlichen Arbeitsstoffe (MAK-Werte-Liste) zusammengestellt." "Chlorhaltige Verbindungen machen ... zusammengefaßt mit ca. 50 Verbindungen ein Drittel aller bisher erfassten krebserzeugenden oder begründet krebsverdächtigen Stoffe aus." (Henschler 1994, S. 46 f.)

Auch in anderen Giftlisten nehmen chlororganische Verbindungen Spitzenstellungen ein

 

Was chlororganische Verbindungen sind, soll zuerst an einigen Beispielen erläutert werden:

1.1 Was sind chlororganische Verbindungen?

Die Einführung von Chlor in organische (kohlenstoffhaltige) Moleküle führt in vielen Fällen zu hochbeständigen, schwer brennbaren und stark fettlöslichen Substanzen:

Chlorkohlenwasserstoffe (CKW). Jene drei Eigenschaften - Persistenz, Unbrennbarkeit und Lipophilie - sind es vor allem, denen die organische Chlorchemikalien ihren

steilen Aufstieg nach dem Kriege verdanken. Zu diesen Merkmalen kam die vermeintlich geringe Toxizität, von der man aufgrund der Reaktionsträgkeit hochchlorierter Kohlenwasserstoffe ausging.

Chlorierte Kohlenwasserstoffe lassen sich vereinfacht in zwei Gruppen unterteilen:

Erstens die leichtflüchtigen CKW und FCKW, die sich aus offenkettigen, d.h. linearen (aliphatischen) Kohlenwasserstoffen ableiten. Zweitens die schwerflüchtigen CKW,

die meist polychlorierte Ring- oder Aromatenstrukturen aufweisen. Offene und zyklische Chlororganika unterscheiden sich auch hinsichtlich chemischer Eigenschaften wie Reaktionsfreudigkeit, Stabilität, Abbaubarkeit und direkte bzw. indirekte Toxizität, also Eigenschaften, die unter gesundheitlichen Aspekten wichtig sind.

 

Einige Anwendungsbeispiele für beide Gruppen:

1. Leichtflüchtige Chlororganika:

• Chlorierte Kohlenwasserstoffe wie Perchlorethylen, Trichlorethylen, Methylenchlorid u.a. nahmen in der industriellen Metallentfettung, Entlackung und Extraktion, beim Abbeizen sowie in der Chemisch-Reinigung die Stelle der früher eingesetzten brennbaren Benzine als universelle Lösemittel ein.

• In der Kältetechnik und in Spraydosen sowie beim Kunststoffschäumen setzten sich hochstabile und unbrennbare Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffe (FCKW) ebenfalls als sogenannte Sicherheits-, Kälte- und -Treibmittel durch.

2. Schwerflüchtige Chlororganika:

• Mehrfachchlorierte zyklische Kohlenwasserstoffe werden als Pestizide im Pflanzenschutz eingesetzt (z.B. DDT): Aufgrund ihrer chemischen Beständigkeit und Schwerflüchtigkeit stehen

sie in den Pflanzen lange genug zur Verfügung und durchdringen dank ihres hohen Fettlösevermögens die Wachsschicht von Insekten.

• Polychlorierte Biphenyle (PCBs) sind nicht nur chemisch sehr stabil und schwer brennbar, sondern auch elektrische Nichtleiter. Die Elektrotechnik setzte sie daher nach

1930 als Kühl- bzw. Isolierflüssigkeit  in Transformatoren bzw. Kondensatoren ein. Im Bergbau kamen sie untertage als unbrennbare Hydrauliköle zum Einsatz.

  Stabil und global in der Umwelt verbreitet ist auch Pentachlorphenol, ein starkes Gift für tierische und pflanzliche Lebewesen quer durch das ganze Organismenreich.

Es wurde daher als Pestizid und Herbizid, als Konservierungs- und Desinfektionsmittel in breitem Maße eingesetzt und hat erst jüngst in der Bundesrepublik durch den

sog. Holzschutzmittelprozeß traurige Berühmtheit erlangt.

Andere Anwendungsformen von Chlor und Chlororganika, die vorerst nur erwähnt werden sollen, betreffen z.B. den unter dem Kürzel PVC bekannten Kunststoff Polyvinylchlorid, Chloroprenkautschuk, Chlor in der Chlorbleiche von Papier, Chlor in Farbstoffen oder chlorhaltige Zwischenprodukte in der chemischen Industrie.

 

1.2 Der Nachteil der Beständigkeit und Fettlöslichkeit: Globale Verteilung und Anreicherung in der Nahrungskette

Bei den Pestiziden, die bewußt in die Umwelt freigesetzt werden, fiel die nachteilige Kehrseite der Persistenz und Fettlöslichkeit polychlorierter zyklischer Verbindungen zuerst auf. Als flüchtige Substanzen mit langer Lebensdauer werden sie durch meteorologische und hydrologische Vorgänge -Verdriftung durch Wind und Wasser- global verteilt. Viele davon sind heute "ubiquitär", d.h. sie kommen überall vor. Dank ihrer Stabilität und Lipophilie (Fettlöslichkeit) reichern sie sich bevorzugt im Fettgewebe von Organismen an (Bioakkumulation). So angereichert, werden sie in der

Nahrungskette von Organismus zu Organismus weitergereicht und dabei aufkonzentriert (Biomagnifikation).

In den sechziger Jahren wurde bekannt, daß am Ende von aquatischen Nahrungsketten an großen Binnenseen, Flüssen oder Meeren stehende Seevögel sowie von Kleintieren lebende Raubvögel wegen erhöhten DDT-Gehalts Störungen im Östrogenhaushalt aufwiesen, der zu verdünnten Eierschalen (mangelnde Kalkbildung) führte und die Fortpflanzung der Tiere gefährdete (Ratcliffe 1967; Meyburg/Chancellor 1989). Am bekanntesten wurde in Deutschland der Einbruch der Wanderfalken-Populationen.

Bald stellte sich bei allen dem DDT verwandten polychlorierten zyklischen

Verbindungen heraus, daß sie als solche "Umweltchemikalien" wirken.

 

Unter Umweltchemikalien verstehen wir hier Stoffe, die wegen ihrer Persistenz meist ubiquitär in der Ökosphäre verbreitet, also “allgegenwärtig” sind. Außer zahlreichen weiteren chlororganischen Pestiziden sind z.B. auch PCBs über Wasser- und Luftbewegungen (z.T. an Bodenpartikel gebunden) bis in den Schnee der Rocky Mountains

und die Sedimente der Tiefsee gelangt. Zu den Umweltchemikalien zählen auch die gefährlichsten von allen Chlorchemikalien: die spätestens seit dem Seveso-Unfall von

1976 als zwangsläufige Nebenprodukte der Chlorchemie erkannten und als die stärksten anthropogenen Gifte identifizierten Dioxine (polychlorierte Dibenzo-p-dioxine

und -furane).

Die Mehrzahl der Umweltchemikalien ist nach wie vor unbekannt. Sie werden bei der Messung von Umweltmedien und Organismen z.T. als nicht identifizierbare "Peaks" registriert, können aber gar nicht oder nur mit beachtlichem Aufwand identifiziert werden. Die organischen Halogenverbindungen im Abwasser werden z.B. in einem Summen-Parameter zusammengefaßt, dem sog. AOX: der Summe aller an Aktivkohle adsorbierbaren organischen Halogenverbindungen, ausgedrückt in mg Chlorid/l.

Darauf ist eine Abwasserabgabe zu zahlen. Aber eine Zuordnung des AOX zu Einzelstoffen ist nicht möglich; höchstens ein Zehntel des Chlorgehalts im AOX deutscher Flüsse ist identifizierbar.

Durch die Verteilung in die Umweltmedien finden diese Chlororganika Eingang in die Nahrungsketten, wo sie sich in tierischem Fettgewebe anreichern. Zwar verfügen

die Organismen in unterschiedlichem Maße über Entgiftungsmechanismen für Schadstoffe. Eine besondere Rolle spielt dabei das sog. Cytochrom P 450-System, das sich vornehmlich in Zellen des Nahrungstrakts, der Leber etc. findet. Aber auf die synthetischen, weitgehend naturfremden Stoffe der Chlorchemie ist dieses evolutiv

entstandene Entgiftungssystem nicht oder nur sehr unvollkommen eingestellt. Ein biotischer Abbau findet daher meist nur extrem langsam statt (vgl. Abschnitt 1.9).

Und sofern er stattfindet, sind die Umwandlungsprodukte (Metaboliten) mitunter giftiger als der ursprüngliche Stoff (z.B. das DDT-Abbauprodukt "DDE").

Im Fettgewebe von Fischen sind manche Chlororganika in zehntausendfach höherer Konzentration als im umgebenden Wasser vorhanden. Tiere, die von Fischen leben

(Vögel, Robben, Seehunde), konzentrieren den Schadstoff weiter auf. Das Ausmaß der Vergiftung wurde beim Robbensterben 1988 deutlich: Weil die toten Robben in

hohem Maße PCB’s und andere Organochlorverbindungen in ihrem Fettgewebe enthielten, mußten sie als Sondermüll entsorgt werden.

Aber auch der Mensch steht am Ende der Nahrungskette. Insgesamt wenigstens 177 chlororganische Verbindungen haben Toxikologen bislang im Menschen nachgewiesen;

davon 134 in der Frauenmilch, 108 im Fettgewebe, 43 im Sperma, 29 im Blut.

Die Aufnahme schwerflüchtiger chlororganischer Verbindungen in den Körper geschieht zum Teil inhalativ durch partikelverschmutze Luft und dermal, d.h. über Hautkontakt. Über 90% der Schadstoffzufuhr erfolgt jedoch über die Nahrung. Fisch, Milchprodukte und Fleisch weisen die höchsten Konzentrationen von chlororganischen Verbindungen auf, weil diese im tierischen Fettgewebe gespeichert werden. Daher nehmen Vegetarier weniger belastete Nahrung auf. Allerdings können auch sie nur schwer den Pestizidrückständen bei Obst und Gemüse und im Trinkwasser ausweichen.

 

1.3 Dioxin in der Nahrungskette - "Gib uns unser täglich Chlor"

Wie das 2. Internationale Dioxin-Symposium im November 1992 in Berlin (Schuster et al. 1993) ergab, beträgt die mittlere tägliche Aufnahme durch Nahrungsmittel für einen erwachsenen Bundesbürger beim chlororganischen Hauptgift Dioxin 2 Pikogramm (pg = 2 Billionstel Gramm) pro Kilogramm Körpergewicht. Das entspricht bei einem Körpergewicht von 75 Kilogramm einer täglichen Gesamtaufnahme von 150 pg. Als täglich für Menschen duldbarer Wert (TDI = tolerable daily intake) werden in Westeuropa zur Zeit 1 bzw. 10 pg Dioxin pro Kilogramm Körpergewicht angesehen. Die US-amerikanische Umweltbehörde EPA schlägt viel schärfere Grenzwerte vor, die weit unter 1 pg Dioxin pro Kilogramm Körpergewicht liegen.

2 Billionstel Gramm scheinen nicht viel zu sein. Indessen sind toxische Effekte durch Dioxine bereits in solchen gerade noch meßbaren Dosen gegenüber Mikroorganismen nachweisbar, abgesehen davon, daß 2 Billionstel Gramm 2,3,7,8-Tetrachlor-p-Dibenzo-Dioxin (TCDD) immerhin 3,6 Milliarden Moleküle dieser Substanz umfassen.

 

Anteil verschiedener Nahrungsmittel an der Dioxinaufnahme in der Bundesrepublik (alt)

Summe aller Nahrungsmittel = 100%

Rind-/Kalbfleisch 21,8%

Schweinefleisch und Speck 7,1%

Dosenfleisch 3,3%

Geflügel und Eier 1,8%

Milch 10,3%

Milchprodukte 16,0%

Fische 34,0%

Pflanzenöl und Margarine 4,8%

Quelle: Fürst et al. 1994.

Die Anteile verschiedener Nahrungsmittel an der Aufnahme von Chlororganika werden an der Dioxinaufnahme (Tabelle 1) verdeutlicht. Da Fische in ihrem Fett aus

Wasser und Nahrungskette extrem viel Dioxine anreichern können, liegen sie trotz der untergeordneten Bedeutung im Speiseplan der deutschen Bevölkerung an der Spitze

der Aufnahmewege für nahrungsmittelbedingte Belastungen. Eine aktuelle Greenpeace-Untersuchung von Fischölen und fischölhaltigen Gesundheitsprodukten, die aus Fischen der Nordsee und des Nordatlantiks gewonnen wurden, belegt die generell sehr hohe Belastung von Fischöl mit verschiedenen Chlororganika.

Fischölprodukte können wesentlich zur Belastung des Menschen mit diesen Schadstoffen beitragen (Greenpeace 1995f).

Die atmosphärische Deposition von Dioxin-beladenen Partikeln auf Böden und oberirdischen Futterpflanzen belastet auch die Rinder und folglich Fleisch und Milch in erheblichem Maße. Für andere schwerflüchtige chlororganische Schadstoffe wie PCBs und Pestizide sind die menschlichen Aufnahmewege ähnlich: Der Hauptweg ist die Nahrungsaufnahme aus Fetten.

 

1.4 Abbaubar und doch giftig - zur Toxizität leichtflüchtiger Chlororganika

Die offenkettigen, leichtflüchtigen chlorierten Kohlenwasserstoffe (CKW) werden, trotz rückläufiger Tendenz, auch heute noch in weit größerer Tonnage produziert als schwerflüchtige, zyklische

Chlororganika. Sie spielen außerhalb der chemischen Industrie eine große Rolle als Lösemittel in der Metallverarbeitung (Entfettung, Entlackung) und der Textilreinigung (Chemische Reinigung), ferner als Abbeizmittel für Farbanstriche. Dazu sind sie infolge ihres hohen Fettlösevermögens geeignet, das sie mit schwerflüchtigen chlorierten zyklischen Verbindungen gemeinsam haben. Aufgrund ihrer hohen Flüchtigkeit werden sie vom Menschen jedoch weniger über die Nahrung aufgenommen, sondern vorwiegend durch die Atmung. Von der Lunge aus transportiert sie das Blut unverändert ins Gehirn, wo sie sich schnell narkotisch (ZNS-suppressiv) bemerkbar machen können. (Einige chlorierte Methan-, Ethan- und Ethenderivate wurden in der Medizin früher als Narkosegase eingesetzt.) Bei intensiver Exposition sammeln sie sich,

wie alle fettliebenden Lösemittel, in den fettreichen Markscheiden der Nervenfasern und im Hirn.

Sie können u.a. akute bis langfristige Nervenschäden verursachen.

Nicht wieder ausgeatmete leichtflüchtige CKW gelangen in die Leber, wo sie sich anders als chlorierte zyklische Verbindungen verhalten. Bei den zyklischen Verbindungen bewirken die Chloratome eine deutliche Erhöhung der molekularen Stabilität, so daß sie gegen abiotischen und biotischen Abbau weitgehend persistent sind und sich folglich im Körper anreichern können. Anders verhält es sich bei offenen, kurzkettigen chlorierten Aliphaten. Das im Molekül enthaltene Chlor labilisiert bei ihnen die chemische Struktur, weil das Chlor die Eigenschaft hat, die Elektronen benachbarter Atome zu sich heranzuziehen ("Elektrophilie"). Dadurch wird die Bindung von Wasserstoffatomen gelockert, die damit leichter durch Enzyme aus dem Molekül abgespalten werden können (oxidativer Abbau). Folglich werden chlorierte Aliphaten enzymatisch besser als

die zyklischen Chlorverbindungen umgesetzt. Das bedeutet einerseits eine geringere Persistenz im Körper. Andererseits können enzyminduzierte Metaboliten toxisch reagieren. Dieser Prozeß ist als "metabolische Aktivierung" bekannt (vgl. Eisenbrand 1994, 39ff) In der Tat führt die biologische Umwandlung bei allen chlorierten Methan- und bei fast allen Ethan- und Ethenderivaten zu toxischen Metabolismus - wie der Körper versucht zu entgiften.

Der Körper versucht chemische Fremdstoffe mit Hilfe von Enzymen so zu verändern, daß eine Ausscheidung möglich ist; dieser Vorgang wird als Metabolismus bezeichnet. Ziel der metabolischen Umwandlung ist zunächst nicht die Umwandlung in weniger giftige Stoffe, sondern die Erhöhung der Polarität (Wasserlöslichkeit) der Fremdstoffe,

so daß sie über den Harn oder die Galle ausgeschieden werden können. Dabei kommt es häufig dazu, daß weniger toxische Fremdstoffe durch Enzyme in giftigere Metaboliten umgewandelt werden, die zwar leichter wasserlöslich sind, den Körper aber stärker schädigen. Ist der Metabolit toxischer als die Ausgangssubstanz, wird dieser Vorgang als metabolische Aktivierung bezeichnet.

Bei Chlororganika tritt dieser Effekt häufig auf Verbindungen, die im Falle der Ethenderivate wie Vinylchlorid oder Perchlorethylen reaktionsfähige Epoxide (Oxirane) mit genotoxischer bzw. kanzerogener Wirkung sind.

Nur erwähnt werden kann hier die oft dauerhafte CKW-Belastung von Grundwasser- und Trinkwasserquellen und die Gesundheitsgefährdung durch solche Altlasten. FCKW sind ebenfalls hochflüchtige und hochstabile Chlorkohlenwasserstoffe, in deren Molekül neben Chlor auch Fluor eingeführt worden ist. FCKW dürfen auch in Deutschland noch weit über die Jahrtausendwende hinaus als Kältemittel angewandt werden. Ihr toxischer Effekt ist indirekter Art. Chlor aus FCKW greift in der Stratosphäre die lebensschützende Ozonschicht an mit der Folge erhöhter UV-Strahlenbelastung für die Lebewesen auf der Erdoberfläche. Da diese Fragen (Hautkrebsrisiko) anderweitig ausgiebig dokumentiert sind, klammert vorliegende Studie diesen Fall von Gesundheitsrisiken durch Chlororganika aus.

 

1.5 Unterschiedliche Gesundheitsrisiken innerhalb der Bevölkerung oder: Die Chlorchemie ist überall.

In den Kapiteln 2 bis 4 werden Angaben aus vielen Untersuchungen zusammengestellt, um zu zeigen, wie und wo chlorchemische Verbindungen Gesundheitsschäden hervorrufen. Die Angaben stammen aus Laborexperimenten und aus epidemiologischen Studien. Dazu ist noch eine Vorbemerkung erforderlich.

Im Labortest oder im Tierversuch können toxische, auch krebserzeugende Wirkungen für die meisten chlororganischen Umweltchemikalien nachgewiesen werden.

Negative Befunde, bei denen Chlorchemikalien keine gesundheitlichen Auswirkungen zeigen, sind hier "eher die Ausnahme" (Henschler 1994, S. 2). Demgegenüber

gibt es für den Riskionachweis am Menschen verständlicherweise Grenzen. Hier können keine Experimente ausgeführt werden. Wo nicht Störfälle oder Extrembelastungen

am Arbeitsplatz der Forschung unfreiwillig Untersuchungsmaterial liefern, an dem sie die Auswirkungen hoher Stoffexposition erkennen kann, sind aufwendige und langdauernde epidemiologische Untersuchungen erforderlich, insbesondere zur Prüfung der chronischen Toxizität. Deren Ergebnisse sind in der Regel umso aussagekräftiger, je stärker und länger die Untersuchungsgruppe belastet wurde, die mit einer nichtexponierten Kontrollgruppe ("Fall-Kontroll-Studien") verglichen wird. Häufig werden daher für Langzeitprogramme beruflich exponierte Personen herangezogen, die mit den chlororganischen Stoffen zu tun haben:

z.B. Chemiearbeiter, die sie täglich produzieren, oder Metall- oder landwirtschaftliche Arbeiter, die sie - in Form von Lösemitteln bzw. Pestiziden - Tag für Tag anwenden. Auf die Untersuchung an solchen besonders stark belasteten Personengruppen stützen sich viele der Aussagen in den nächsten Kapiteln.

So könnte aus dem nachfolgenden Report der Eindruck mitgenommen werden, als ob chlorbedingte Erkrankungen "nur" ein spezifisches Berufsrisiko einer kleinen Minderheit seien, die mit chlororganischen Verbindungen als Arbeitsstoffen zu tun hat, und die Allgemeinbevölkerung nicht betreffen. Dem ist jedoch keineswegs so.

 

Die Annahme, daß chlororganische Gefährdungen auf das Gelände innerhalb des Werkzauns einzuschränken seien, ist nicht stichhaltig:

a. die Gruppe der beruflich exponierten Personen innerhalb der Allgemeinbevölkerung keineswegs klein. Menschen, die dauerhaft oder periodisch mit chlororganischen Verbindungen zu tun haben, sind nicht nur in Chemie- und landwirtschaftlichen oder Gartenbaubetrieben zu finden. Sie arbeiten auch in der Metallindustrie und in Chemisch-Reinigungen (Lösemittel), in Druckereien (Lösemittel und Druckfarben), Textilbetrieben (Pestizidrückstände und Farbstoffe), in der Kunstoffverarbeitung (PVC, Flammschutzmittel und Weichmacher), bei der Papierherstellung (Rückstände in Zellstoff und Altpapier), der Elektrotechnik (Flammschutzmittel), im Bergbau (PCB-Öle), in der Entsorgungswirtschaft (Abfallsammlung und -verbrennung) oder in Kliniken (Belastung durch Narkotika). Auch im Büro und besonders in den modernen Bürogebäuden gibt es vielfältige Belastungen durch chlorhaltige Ausgasungen aus Inneneinrichtungen, Klimaanlagen (Biozide) und Arbeitsmitteln, die zu dem sogenannten "sick-building-Syndrom" beitragen, einem in seiner Bedeutung zunehmenden unspezifischen Unwohlsein (vgl. Pickshaus/Priester 1991).

Generell gilt jedoch, daß die chlorchemischen Belastungen in der Arbeitswelt, vornehmlich den Fabriken, besonders hoch sind. Deswegen kommt betrieblichen und gewerkschaftlichen Initiativen für die Substitution chlorchemischer Gefahrstoffe besondere Bedeutung zu ("Tatort Betrieb"; vgl. Leisewitz/Pickshaus 1992; Kalberlah 1993; IG Medien/IG Metall 1995).

 

b. Die Erfahrung lehrt: Nicht nur die Dioxinbildung, sondern auch Störfälle mit nachteiligen Hochbelastungen für die Allgemeinbevölkerung sind eine zwangsläufige Begleiterscheinung von Produktion und Anwendung chlororganischer Gifte. Dabei reicht die Skala von sich aufsummierenden sogenannten alltäglichen Bagatellunfällen

bis zur Explosion ganzer Fabriken (Seveso 1976) oder den PCB-Katastrophen in Japan und Taiwan.

So brachte der Brand bei Sandoz nahe bei Basel, bei dessen Löschung 10 bis 30 Tonnen Pestizide in den Rhein geflossen waren, die den gesamten Fischbestand bis zur Loreley vernichteten und für zwanzig Tage die Wasserwerke am Fluß zum Stillstand zwangen, weitere bedeutende chlororganische Gifteinleitungen in den Rhein im gleichen Zeitraum (Juni bis November 1986) an die Öffentlichkeit (Umweltbrief 34, S. 18):

 

Chlorgifteinleitungen in den Rhein zwischen Juni und November 1986 10,0 Tonnen

Dichlorethan von der BASF, Ludwigshafen (25./26.6.86) 11,0 Tonnen

Chlorbenzole von Bayer, Leverkusen (12.-14.10.86) 0,4 Tonnen

Atrazin von Ciba-Geigy, Basel (31.10.86) 2,0 Tonnen

2,4-D von der BASF, Ludwigshafen (21.11.86) 0,1 Tonnen

Chlorkresol von Bayer, Uerdingen (25.11.86)

Von der Quelle bis zur Mündung werden aus dem Rhein bzw. aus dem Uferfiltrat pro Tag für 20 Millionen Menschen rund 5 Millionen Kubikmeter Trinkwasser entnommen!

 

c. Der chlorchemische Risikofall FCKW stellt eine gänzlich umgekehrte Situation dar. Die Gesundheitsgefahren für berufliche Hersteller und Anwender dieses Stoffs stehen

in keinem Verhältnis zu dem quantifizierbaren Gesundheits- bzw. Hautkrebsrisiko, das die erhöhte UV-Strahlung infolge FCKW-bedingter Ozonschichtausdünnung für die Gesamtbevölkerung mit sich bringt.

 

d. Gesundheitsbeschwerden bei Anwohnern von Chemisch-Reinigungen durch emittiertes Perchlorethylen, Nervenschädigungen tausender Menschen durch PCP-haltige Holzschutzmittel in Innenräumen, Übelkeit bei Hobbywerkern, die alten Lack mit Methylenchlorid aus dem Baumarkt entfernen, Kopfschmerzen bei Hausfrauen, die PCB-Katastrophen in Japan und Taiwan 1968 erkrankten mehr als 1000 Japaner in Yusho an Reisöl, in das aus einem defekten Behälter PCB bis zu einer Konzentration von 2000 mg/kg und Dibenzofurane bis zu 5 mg/kg eingesickert waren.

Bei den Betroffenen traten u.a. Chlorakne, Haarausfall, Leberschäden, Immunschwäche, Fehlgeburten, Kindesmißbildungen und erhöhte Krebssterblichkeit auf.

1979 ereignete sich in Taiwan ebenfalls eine Reisölvergiftung durch PCBs. Betroffen waren die 1900 Einwohner in Yu-Cheng. Zum Glück betrug die PCB-Konzentration

im Öl nur ein Zehntel von der in Yusho, so daß die Erkrankungen insgesamt schwächer ausfielen (VUA 1991).

Kleidermotten mit dem Insektenspray Dichlorvos bekämpfen, das in Methylenchlorid gelöst ist - dies sind Alltagsbegegnungen mit chlororganischen Giften außerhalb der Fabrikzäune. Und selbst diese sind harmlos gegenüber den leidvollen Erfahrungen Hunderter von Frauen in der Nähe des Michigan-Sees, die Kinder zur Welt brachten, die bei der Geburt nicht nur weniger Gewicht und geringeren Kopfumfang aufwiesen, sondern später auch überdurchschnittlich häufig Lernschwäche und Verhaltensauffälligkeiten aufwiesen. Nachforschungen ergaben, daß alle Frauen Fisch aus dem PCB-kontaminierten See gegessen hatten, dessen Schadstoffgehalt im Fettgewebe der Fische um ein Vielfaches angereichert worden war.

 

e. Weiter ist auf die Dauerbelastung der Umwelt aus den vielfältigen, meist "diffusen" Quellen zu verweisen, aus denen Chlorchemikalien permanent freigesetzt werden.

Dies reicht von Schiffsunfällen, bei denen Pestizide ins Meer gelangen, über die wilde Entsorgung von chlorhaltigen Produkten und Abfällen bis zu den Emissionen aus Fabrikschornsteinen und Verbrennungsanlagen sowie den Deponien. Für die Dauerbelastung spielen nicht zuletzt Chlorchemikalien, besonders Pestizide, eine Rolle, die in Dritte-Welt-Ländern eingesetzt und atmosphärisch verfrachtet werden. Wie entsprechende Zusammenstellungen zeigen, gibt es heute keinen Flecken dieser Erde mehr, der nicht mit giftigen Chlorchemikalien belastet wäre. Das gilt auch für die

Weltmeere und die Polarregionen (vgl. Tanabe et al. 1994). Aus hunderten von Untersuchungen an Vögeln und Fischen, Muscheln und Meeressäugetieren wissen wir, daß

wir mit diesen Chlorchemieeinträgen in die Umwelt "außerhalb der Fabrikzäune" nicht nur unsere eigene Gesundheit zerstören, sondern auch die unserer Mitlebewelt (Colborn/Clement 1992; Toppari et al. 1995). Daß dabei besonders die im und am Meer lebenden Säuger betroffen sind, sollte uns zu denken geben. Das Schicksal der zunehmend schadstoffbelasteten Robben und Seehunde, Wale und Eisbären mit ihren Krankheiten und Vermehrungsstörungen könnte auch unseres sein.

 

f. Schließlich müssen wir darauf verweisen, daß aus verschiedenen Gründen der Kenntnisstand über Vorkommen, Wirkungsweise und Folgen von Chlororganika in der Umwelt, in den Nahrungsketten und im Organismus völlig ungenügend ist und in vieler Hinsicht auch bleiben wird. Denn einerseits wissen wir über viele Stoffe nichts,

weil sie zwar schon in ganz geringen Konzentrationen und über lange Fristen wirksam werden können, mit den heutigen analytischen Methoden aber nicht nachweisbar sind. Die Kenntniszuwächse der Vergangenheit gingen in hohem Maße gerade auf neue analytische Verfahren und die Verschiebung der Nachweisgrenze für Stoffe in den

Bereich sehr geringer Konzentrationen zurück. Im Labor werden Einzelstoffe untersucht. In der Umwelt haben wir es aber mit dem Zusammenwirken einer Vielzahl verschiedener Stoffe in wechselnden Konzentrationsverhältnissen zu tun - eine "Mischung", die überhaupt nicht modellierbar ist. Dazu kommen die biologischen Faktoren,

z.B. die unterschiedliche Wirkung eines Stoffes je nach Kondition des Organismus (Gesundheitszustand, Streß usw.). Auch dies ist im einzelnen nicht voraussagbar.

Die von der chemischen Industrie geforderte Einzelstoffbewertung kann solche Wirkungen nicht erfassen. Sie ist außerdem außerordentlich zeit- und kostenaufwendig,

so daß angesichts der großen Zahl von schlecht untersuchten Altstoffen bei etwa 11.000 chlororganischen Verbindungen gar nicht damit zu rechnen ist, daß sie jemals

wirklich untersucht werden. Dies ist auch einer der Gründe dafür, warum heute das biologische Schadstoffmonitoring favorisiert wird: Man prüft anhand von Organismen,

die auf die ganze Komplexität der Stoffexposition in der Umwelt reagieren, ob eine Schadsatoffbelastung vorliegt oder nicht. Dabei kann man aber nur im nachhinein feststellen, ob bzw. daß etwas “schiefgelaufen” ist. Es gibt insofern keine vernünftige Alternative zu einer echten Vorsorgepolitik, die nicht nur die Einzelstoffbewertung, sondern auch die Gruppeneigenschaften von Verbindungsklassen -hier der Chlororganika- in Rechnung stellt.

 

1.6 Chlororganika - weiterhin auf Giftlisten führend

In der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegebenen Liste gefährlicher Arbeitsstoffe (MAK-Liste), sind ca. 50, d.h., ein Drittel der als krebserzeugend oder krebsverdächtig eingestuften Stoffe chlorhaltige Verbindungen.

Die International Agency for Research on Cancer (IARC) in Lyon nennt weitere 13 krebserzeugene Chlororganika.

Die Prioritätsliste der EU-Altstoffuntersuchung umfaßt Stoffe, die aus ökologischer und toxikologischer Sicht besonders dringend untersucht werden müssen.

Unter den 135 aufgelisteten Verbindungen sind 62 chlororganische Verbindungen, d.h. 46%.

Das "Beratergremium Umwelt relevante Altstoffe (BUA)" der Gesellschaft Deutscher Chemiker hat ebenfalls die Aufgabe besonders risikoreiche Altchemikalien zu untersuchen. Bis Anfang 1995 legte das Gremium 108 Stoffberichte vor. 78 dieser Stoffe waren chlorhaltig und 6 bromhaltig. D.h. 78% der Risikostoffe waren Halogen-organika.

92 von 129 Stoffen der schwarzen Liste der EU-Gewässerschutzrichtlinie sind Chlororganika.

 

2. Die Wirkung chlororganischer Umweltöstrogene: Reproduktionsstörungen, Brustkrebs, Entwicklungsstörungen

Viele in den vergangenen 50 bis 60 Jahren in die Umwelt freigesetzte chlororganische Chemikalien beeinflussen bei Tieren und Menschen das Hormonsystem, insbesondere die Steroidhormone.

Die Steroidhormone spielen eine große Rolle bei der Steuerung von Entwicklungs- und Reproduktionsprozessen, so daß Störungen des Hormonhaushalts auch die Entwicklung und Fortpflanzung

des Menschen beeinträchtigen können. In Untersuchungen wurden bei Labortieren, Wildtieren und Menschen Zusammenhänge zwischen chlororganischen Verbindungen und Schädigungen von Reproduktion und Entwicklung nachgewiesen. Für lipophile (fettfreundliche) Substanzen wie die meisten Chlororganika stellt die Plazentaschranke zwischen dem Blutkreislauf der Mutter und dem des Kindes keine Hindernis dar. Ist die Mutter daher mit Chlororganika belastet, so sind bei ihrem heranwachsenden Kind besonders die Organe des Reproduktionssystems in ihrer Entwicklung gefährdet:

Brustdrüsen, Gebärmutter, Gebärmutterhals und Scheide bei Frauen, Samenbläschen, Prostata, Nebenhoden und Hoden bei Männern. Betroffen sind aber auch Skelett, Schilddrüse, Leber, Niere und Immunsystem. Das Kind im Mutterleib und das sich entwickelnde Neugeborene sind gegenüber chlororganischen Chemikalien besonders sensibel. Manche Auswirkungen sieht man sofort (Mißbildungen bei den Nachkommen), andere zeigen sich erst, wenn die Nachkommen sexuell voll entwickelt sind (Colborn et al. 1993).

Dieses Kapitel befaßt sich mit Entwicklungsstörungen, die durch chlororganische Stoffe mit hormonähnlicher Wirkung ausgelöst werden. Das betrifft sowohl vorgeburtliche Wirkungen der Exposition gegenüber Chlororganika wie auch spätere Auswirkungen auf die Entwicklung des Reproduktionssystems beim Erwachsenen. Es behandelt das männliche (2.1) und weibliche Reproduktionssystem (2.2) sowie embryonale und kindliche Entwicklungsstörungen (2.3).

Vorbemerkung: Wie wirken zyklische Chlororganika reproduktionstoxisch?

besonders Gruppe von Rezeptoren kann mit dem genetischen Material in Wechselwirkung treten. Diese Rezeptoren nehmen fast nur Steroidhormone an. Der entsprechende Hormon-Rezeptor-Komplex kann sich mit besonderen Regionen der Erbsubstanz (DNA) im Zellkern verbinden (McLachlan et al. 1992), die dadurch z.B. zur Produktion bestimmter Proteine angeregt wird.

Einige chlororganische Verbindungen beeinflussen im Körper speziell die Konzentration von Steroidhormonen. Solche Änderungen im Hormonhaushalt können vorkommen, wenn eine Chemikalie einen spezifschen Hormonrezeptor besetzt und so das Hormon "nachahmt" (hier wird das “Schloß” mit einem “Nachschlüssel” geöffnet). Andererseits sind Chlororganika auch in der Lage, durch direkte oder indirekte Reaktion mit den Hormonen diese zu verändern oder in die Hormonsynthese einzugreifen bzw. die Zahl der Hormonrezeptoren und deren Affinität für besondere Moleküle zu variieren bzw. zu blockieren. So wird z.B. bei den PCBs angenommen, daß sie biologische Wirkungen meistens durch diese Mechanismen erzielen (McKinney und Waller 1994).

Chlororganische Verbindungen wie Dioxine oder PCBs können im Körper auch die Konzentration (den "Spiegel") von Schilddrüsenhormonen beeinflussen, die bei Wachstums- und Entwicklungsprozessen beteiligt sind. Das in der Hirnanhangsdrüse gebildete Follikelstimuliernde Hormon (FSH) und das Luteinisierende Hormon (LH) können gleichfalls durch Chlororganika beeinflußt werden (McLachlan et al. 1992).

Diese Hormone spielen für die Entwicklung von Eizellen und Spermien eine wichtige Rolle und ebenso für die Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale. Sie wirken auch bei der Regulierung anderer Hormone mit (Hall und Besser 1989).

Dioxine und der Ah-Rezeptor

Große Anstrengungen wurden auf die Erforschung der Toxizität von Dioxinen und Furanen (PCDD/Fs), speziell des brisantesten Kongeners TCDD verwendet. Offenbar wirken Dioxine auf den Körper über Steroidhormon-Rezeptoren sowie durch Beeinflussung des Steroid-Metabolismus. Durch in vitro- und in vivo-Studien stellte sich auch heraus, daß einige Dioxineffekte offensichtlich durch einen anderen Rezeptor vermittelt werden - den Aryl-hydrocarbon-Rezeptor (gleichbedeutend mit Ah-Rezeptor oder Aromaten-Kohlenwasserstoff-Rezeptor). Einige natürliche Verbindungen (besonders aus Pflanzen) weisen eine Affinität zu diesem Rezeptor auf. Es ist denkbar, daß der

Ah-Rezeptor sich als System für die Verstoffwechselung lipophiler Nahrungssubstanzen evolutionsgeschichtlich entwickelt hat (US EPA 1994a).

Die Besetzung des Ah-Rezeptors durch Dioxin kann eine Kaskade verschiedener biochemischer und zellulärer Reaktionen auslösen. Wie bei Steroidhormon-Rezeptoren bildet sich bei der Dioxin-Bindung an den Ah-Rezeptor ein Komplex, der sich mit der DNA verbinden und die Aktivität von Genen beeinflussen kann. Experimentell nachgewiesene Dioxinwirkungen betreffen die Induktion einer vermehrten Bildung von Cytochrom P450-Enzymen in der Leber, Gewichtsabnahme und Lebervergiftung.

Andere Dioxinwirkungen sind z.B. Neurotoxizität, Hauttoxizität, Immuntoxizität, veränderter Fettstoffwechsel und Reproduktions- und Entwicklungstoxizität. Vermutlich werden viele dieser biologischen Wirkungen ebenfalls durch den Ah-Rezeptor vermittelt (US EPA 1994). Hier besteht aber noch viel Forschungsbedarf. Auch einige PCBs (koplanare PCBs und ihre koplanaren Mono-ortho-Derivate) können über diesen Mechanismus ihre toxische Wirkung entfalten (Safe 1994).

 

2.1 Reproduktionsstörungen beim Mann

Neuere Forschungen zu Schädigungen der männlichen Fortpflanzungsorgane haben das Interesse auf chlororganische Umweltchemikalien gelenkt, denen ein Stör- und Schädigungspotential gegenüber dem Hormonsystem zugesprochen wird.

In den letzten 50 Jahren ist in diesem Zusammenhang folgendes festgestellt worden:

• Die Zahl der Spermien ist zwischen 1940 und 1990 um 40% gesunken (Carlsen et al. 1992). Jüngere Studien aus Frankreich und Belgien (Auger et al. 1995) legen nahe,

daß der Rückgang der Reduktionsrate zur Zeit bei zwei Prozent jährlich liegt. Dazu kommt, daß sich die Samenqualität verschlechterte (der Anteil abnormaler Spermien ist gestiegen und die Samenbeweglichkeit zurückgegangen). Diese Resultate stützen die Vermutung, daß die männliche Fruchtbarkeit zurückgeht.

• Die Häufigkeit des Auftretens von Hodenkrebs hat zugenommen. Aus Dänemark wurde in einer unstrittigen Studie eine drei- bis vierfache Zunahme für den Zeitraum zwischen den vierziger und achtziger Jahren berichtet (Giwercman und Skakkebaek 1992). Andere Untersuchungen in Europa und den USA kommen zu vergleichbaren Ergebnissen.

• Eine Zunahme weiterer Störungen des männlichen Reproduktionssystems wie Hodenhochstand (Kryptorchismus) und Mißbildungen der Harnröhre (Hypospadie) wird in Europa gemeldet.

Diese Trends werden auch in einer neuen internationalen Übersichtspublikation bestätigt, die für das dänische Umweltministerium zusammengestellt worden ist (Toppari et al. 1995).

Die Entwicklung des männlichen Reproduktionstrakts beim Fetus ist sehr empfindlich gegenüber der Konzentration des weiblichen Sexualhormons Östrogen bei der Mutter.

Höher als normal liegende Östrogenspiegel können zu weitreichenden Störungen des Reproduktionssystems bei männlichen Kindern führen. Dies ist durch Studien bei

Frauen belegt, die während ihrer Schwangerschaft das synthetische Östrogen DES (Diethylstilböstrol) eingenommen hatten. DES wurde lange Zeit in großem Umfang

zur Stabilisierung der Schwangerschaft gegen Spontanabort verschrieben. Die männlichen Kinder dieser Frauen wiesen überdurchschnittlich häufig Kryptorchismus und Hypospadie auf sowie eine reduzierte Spermienzahl, sobald sie erwachsen waren.

Da viele Umweltchemikalien, einschließlich der chlororganischen, sich im Körper in der dargestellten Weise wie Östrogene verhalten, wurde die Hypothese aufgestellt, dass diese "östrogen-irksamen" Chemikalien zum Teil für die Zunahme der männlichen Reproduktionsstörungen in den letzten 50 Jahre verantwortlich sind (Sharpe und Skakkebaek 1993; Toppari et al 1995).

Die schwach östrogene Wirkung vieler Chemikalien, mit denen in den letzten 50 Jahren die Umwelt belastet worden ist -darunter auch Chlororganika- ist bei in vitro- oder

in vivo-Versuchen nachgewiesen worden. Es handelt sich bei den chlorhaltigen Stoffen überwiegend um Pestizide, die zwar in der Landwirtschaft (z.T. im Ausland) ausgebracht werden, die aber auf dem Weg über Lebensmittel, Trinkwasser, Textilien und durch atmosphärische Verfrachtung zum Verbraucher zurückgelangen können.

Genannt werden u.a. die Substanzen Alachlor, Methoxychlor, 2,4-D, Dicofol, Endosulfan, Lindan, die auch in Deutschland zugelassen sind, sowie die im Inland verbotenen Stoffe Chlordecon, β-Hexachlorcyclohexan, DDT/DDE, Toxaphen, Nitrofen, Aldrin/Dieldrin u.a.. Zu den östrogen-wirksamen Chlororganika gehören aber auch einige PCBs und das PCP. Dabei haben in vitro-Studien auch ergeben, dass diese östrogenähnlichen Umweltchemikalien kumulativ wirken, d.h. sich wechselseitig in ihrer Wirkung verstärken. Dioxine werden nicht als direkt östrogen-wirksam eingestuft, allerdings entfalten sie enorme toxische Wirkung auf den Hormonhaushalt.

Es kommen viele Faktoren für die Zunahme männlicher Reproduktionsstörungen infrage. Rauch- und Trinkgewohnheiten haben sich in den letzten 60 Jahren ebenso merklich verändert wie das Sexualverhalten. Höhere Promiskuität kann das Risiko für Geschlechtskrankheiten erhöhen, die oft zu Infektionen des Genitaltrakts mit der Folge verminderter Spermienzahl führen. Es gibt keinen schlüssigen Beweis, daß Rauchen die Spermienzahl bei Männern reduziert, aber Rauchen während der Schwangerschaft kann die Keimdrüsen des Embryos angreifen. Exzessiver, nicht aber moderater Alkoholkonsum stört die Spermatogenese. Auch radioaktive Strahlung beeinträchtigt die Samenqualität (Giwercman et al. 1993).

 

Chlororganische Umweltchemikalien mit Störpotential auf Hormonhaushalt und Reproduktionssystem bei Labortieren, Wildtieren +/o. Menschen Pestizide

Industriechemikalien

Alachlor

Dioxin (2,3,7,8-TCDD)

Atrazin *

PCBs *

Chlordan *

Pentachlorphenol (PCP) *

 

2,4 Dichlorphenoxyessigsäure (2,4-D)

2,4,5-Trichlorphenoxyessigsäure (2,4,5-T *

DBCP (1,2-Dibrom-3-chlorpropan) *

DDT und Metaboliten *

Dicofol

Dieldrin *

Endosulfan

Heptachlor *

Hexachlorbenzol (HCB) *

β-Hexachlorcyclohexan *

Kepone (Chlordecon) *

Lindan

Methoxychlor

Mirex *

Nitrofen *

Toxaphen *

* nicht mehr zur Anwendung in Deutschland zugelassen (eigene Zusammenstellung). Hauptquelle: Colborn et al. 1993.

Die genannten Faktoren können zum Anstieg von Reproduktionsschäden beim Mann in der jüngeren Zeit beigetragen haben. Dieses Problem ist nicht nur durch Veränderungen der Lebensweise erklärbar, zumal es weltweit auftritt. Dazu kommt, dass es sich um eine Zunahme verschiedener Störungen des männlichen Reproduktionssystems handelt, die vermutlich während der Entwicklung des Fetus im Mutterleib angelegt wurden, so daß es naheliegt, nach pränatal wirkenden Ursachen

zu suchen. Der Hauptverdacht fällt hier auf chlororganische Umweltchemikalien, die das natürliche Hormonsystem der Mütter zu stören vermögen.

 

2.1.1 Exposition vor der Geburt

Dioxine sind zwar keine östrogen-wirksamen Chemikalien, aber sie zeigen ähnlich schädliche Wirkungen auf das sich entwickelnde männliche Reproduktionssystem.

Versuche mit Ratten bestätigen, daß Dioxinexposition in utero die Konzentration männlicher Sexualhormone einschließlich Testosteron verändert. Diese Hormone sind an

der normalen Entwicklung von männlichen Reproduktionsorganen und männlichem Sexualverhalten entscheidend beteiligt, so daß erwartet werden kann, daß Dioxine die männliche Sexualentwicklung beeinflussen. Die Exposition trächtiger Ratten gegenüber einer relativ niedrigen Dioxindosis (TCDD) führte zu dauerhaften Veränderungen bei den männlichen Nachkommen: reduzierte Spermienzahl, geringeres Hodengewicht und reduzierte sekundäre Geschlechtsmerkmale (Peterson et. al. 1993). In einem jüngeren Versuch zeigten sich diese Effekte schon nach einer einzigen kleinen Dioxindosis (TCDD) (64 ng/kg), die zu einem kritischen Zeitpunkt (am 15. Tag) nach der Paarung verabreicht wurde. Kein Effekt gegenüber anderen Organen ist jemals bei einer so niedrigen Gesamtdosis beobachtet worden. Die Studie schlußfolgert, daß das männliche Reproduktionssystem hochgradig sensibel gegenüber perinataler (vor- und unmittelbar nach der Geburt erfolgter) Dioxinexposition ist (Mably et. al. 1992).

Bei Inuits (Eskimos), die aufgrund ihrer Fisch- (und Robben-)ernährung relativ hoch dioxinbelastet sind, wurden deutliche Beeinträchtigungen der Kindesentwicklung im Mutterleib festgestellt. Neugeborene Jungen waren kleiner als Mädchen, und diese Abweichung stand in direktem Zusammenhang mit der Höhe der Dioxinbelastung der Mutter (vgl. Greenpeace 1994).

PCBs

In Taiwan wurden 1978/79 beim Yu-Cheng-Unfall viele Personen durch den Konsum von PCB- und Dioxin-verseuchtem Reis vergiftet. Zur Geschlechtsentwicklung der Kinder von Frauen, die während des Unfalls schwanger waren, liegt nun eine Studie vor (Guo et al. 1993). Ihre Ergebnisse zeigen bei Jungen im Alter von 11 bis 14 Jahren signifikant kürzere Penisse als bei den Kindern aus der Kontrollgruppe. Diese Wirkung geht mit großer Wahrscheinlichkeit auf die in utero-Exposition gegenüber PCBs

zurück, die östrogen-wirksame Substanzen sind.

 

2.1.2 Exposition bei erwachsenen Männern

 

PCBs

Wahrscheinlich gibt es verschiedene Mechanismen, durch die chlororganische Chemikalien die Fruchbarkeit erwachsener Männer beeinträchtigen. Tierexperimente haben gezeigt, daß Chlororganika möglicherweise mit Sexualhormonen reagieren, die am Testosteron-Stoffwechsel beteiligt sind (Pines et al. 1987). Andererseits können chlororganische Verbindungen eine Steigerung der Östrogen-Aktivität oder direkte Schädigung von Hodenzellen und Samen bewirken. Auch die Samenbeweglichkeit

kann durch Chlororganika beeinträchtigt werden. So fanden z.B. Bush et al. (1986)

einen Zusammenhang zwischen der Samenbeweglichkeit und der Konzentration einiger PCBs bei unfruchtbaren Männern.

 

DDT, HCH, Endosulfan

Verschiedene Studien zeigen, daß die berufliche Exposition gegenüber chlororganischen Chemikalien die männliche Fruchtbarkeit beeinträchtigt. Rupa et al. (1991) führten eine Untersuchung zur Fruchtbarkeit von 1016 männlichen Arbeitern durch, die einer Mischung chlororganischer Pestizide auf indischen Baumwollfeldern ausgesetzt waren. Die für die Untersuchung ausgewählten Arbeiter waren mit Mischen und Versprühen von Pestiziden beschäftigt, und zwar jährlich von Juli bis März für die Dauer zwischen

1 und 20 Jahren. Sie waren chlororganischen Pestiziden wie DDT,

α- und β-HCH und Endosulfan ebenso ausgesetzt wie phosphororganischen Pestiziden.

Die Studie teilte die Arbeiter in Raucher und Nichtraucher ein. Beide Gruppen wurden mit Kontrollgruppen aus dem gleichen sozialen Milieu verglichen, die beruflich keinen Pestiziden ausgesetzt waren. Die statistische Analyse zeigte gegenüber der Kontrollgruppe einen signifikante Rückgang fruchtbarer Männer in der Gruppe, die Pestiziden ausgesetzt war. In der Nichtrauchergruppe betrug die Zahl fruchtbarer Männer 83,7% verglichen mit 96,5% bei den Kontrollpersonen, und in der Rauchergruppe waren es 76,7% gegenüber 92,5%. Betrachtet man die Folgen für die Kinder derjenigen Arbeiter, die mit Pestiziden zu tun hatten, so ergibt sich eine signifikante Zunahme weiterer Reproduktionsstörungen wie z.B. Totgeburten, Säuglingsstod und Schädigungen der Genitalien. Diese Effekte lassen auf Chromosomenschädigungen in den Keimzellen schließen, in denen das Sperma produziert wird. Die Studie veranschaulicht, daß die Exposition gegenüber derartigen Pestizidmischungen sowohl die Fruchtbarkeit erwachsener Männer als auch die Entwicklung der Kinder von exponierten Männern beeinträchtigen kann.

 

Dioxine

Aus verschiedenen Studien weiß man, daß auch die berufliche Belastung mit Dioxinen das männliche Reproduktionssystem des Erwachsenen angreift. Eine jüngere Studie über Chemiearbeiter, die Dioxinen ausgesetzt waren, fand Veränderungen bei drei Sexualhormonen, u.a. einen Rückgang des Testosteron-Spiegels. Diese Veränderungen standen signifikant in Zusammenhang mit dem Dioxinspiegel im Blut.

Daraus wurde geschlossen, daß Dioxin die Ursache für die Hormonspiegeländerung war (Egeland et al. 1994). Schließlich ist eine Untersuchung über Arbeiter im Gange,

die in einem britischen Chemiebetrieb (Coalite Chemicals) über viele Jahre hinweg Dioxinen ausgesetzt waren. Hier zeigten sich erhöhte Dioxinspiegel (TCDD) im Blut

und signifikant niedrigere Testosteron-Werte (Howard et al. 1995, in Vorber.).

Zu den besonders dioxinverseuchten Regionen dieser Welt gehört -neben dem ICMESA-Fabrikgelände in Seveso, dem BASF-Gelände in Ludwigshafen oder Times Beach

in Missouri- allesamt durch Unfälle verseucht - ein großer Teil Südvietnams.

Über 10% des Landes wurden zwischen 1962 und 1971 im Vietnamkrieg etwa 170 kg TCDD, das als Verunreinigung in dem chlororganischen Entlaubungsmittel Agent Orange enthalten war, versprüht. Ein Großteil der südvietnamesischen Bevölkerung ist hier stark dioxin-exponiert worden. Erste Untersuchungen (Phuong 1989; Phiet 1989) an Krankenhauspatienten ergaben hohe Dioxin-Depots im Körperfett. In einzelnen Fällen wurden Krebsvorstufen (Prostata) und Krebserkrankungen (Leber, Magen) gefunden. Diese Befunde können, da es sich noch nicht um epidemiologische Studien handelt, - sie sind in Vorbereitung - nicht auf die Dioxin-Belastung kausal zurückgeführt werden. Doch liegt ein Zusammenhang nahe. Darauf verweisen auch Befunde an ehemaligen US-Soldaten, die Agent Orange versprüht hatten. Nach dem Kriege stellte sich bei ihnen eine Verminderung der Hodengröße heraus, die mit einem erhöhten Dioxin-Spiegel im Blut ursächlich in Zusammenhang gebracht wurde (Wolfe et al. 1992).

 

2.2 Reproduktionsstörungen bei der Frau

Frauen in Industrieländern erreichen heutzutage die Pubertät (Menarche) früher und das Klimakterium später. Sie stillen weniger oft und kürzer. Bei den Erkrankungen ist

ein Anstieg einiger Krebsarten des Reproduktionssystems feststellbar: Brustkrebs und Vaginal- bzw. Gebärmutterhalskrebs. Die Fälle von Endometriose (Gebärmutterauswucherungen) nehmen zu. Gleichzeitig sinkt das Lebensalter ihres Auftretens. Möglicherweise sind viele dieser Erscheinungen mit erhöhter Exposition gegenüber östrogen-wirksamen Chemikalien während der Entwicklungsphase oder im Erwachsenenstadium verbunden (Eaton et al. 1994).

Früher erhielten schwangere Frauen zur Stabilisierung ihrer Schwangerschaft oft ein synthetisches Östrogen (Diethylstilöstrol, DES). Erwachsene Frauen, die selbst vorgeburtlich in utero auf diese Weise dem synthetischen Östrogen DES ausgesetzt waren, erkrankten in erhöhtem Maße an Vaginal- und Gebärmutterhalskrebs, und sie wiesen mehr Fertilitätsprobleme auf (Hines 1992). In einem Bericht über 20 unfruchtbare Frauen in Heidelberg wiesen 8 dieser Frauen erhöhte Blutbelastungen mit den chlororganischen Holzschutzmitteln Lindan (> 0,1 Mikrogramm/l) +/o. Pentachlorphenol

(> 25 Mikrogramm/l) auf. Diese Belastung kann Störungen in der Balance der Sexualhormone verursacht und zu Fertilitätsproblemen geführt haben (Gerhard et al. 1991). Schließlich zeigte eine Studie zur chlororganischen Belastung von Muttermilch, daß höhere Belastungswerte mit kürzeren Perioden der Milchabsonderung verbunden waren (Hunter und Kelsey 1993).

 

2.2.1 Brustkrebs

Die Fälle von Brustkrebs haben in der jüngeren Zeit sowohl in Industrie- als auch in Entwicklungsländern kontinuierlich zugenommen. Eine von 12 Frauen in Deutschland erkrankt im Laufe ihres Lebens an Brustkrebs. Brustkrebs machte 1980 von allen festgestellten Krebserkrankungen in entwickelten Ländern 22,9%, in Entwicklungsländern 14,2% aus (Boyle 1991). Auf Brustkrebs gehen in den Industrieländern zwischen 3 und 5% aller Sterbefälle zurück. In Entwicklungsländern sind es zwischen 1 und 3%.

Risikofaktoren

Als wichtige Risikofaktoren für Brustkrebs gelten die familiäre Vorbelastung (genetische Disposition), Altersfaktoren (frühe Pubertät, späte erste Schwangerschaft und spätes Klimakterium), die Ernährung, Alkoholkonsum, Übergewicht und Strahlungsbelastung.

Diese Risikofaktoren erklären jedoch allenfalls 30% aller Brustkrebsfälle. Aus Experimenten und aus Humanuntersuchungen geht hervor, daß einige dieser Risikofaktoren mit der  Lebenszeitexposition gegenüber Sexualhormonen in Zusammenhang stehen: Je größer die gesamte Lebenszeitexposition gegenüber Östrogen ist, desto größer ist das Brustkrebsrisiko. Erhöhte Östrogenwerte können das Brustkrebsrisiko also steigern. Seit bekannt ist, daß östrogen-wirksame Umweltchemikalien wie natürliche Östrogene wirken oder ihren Metabolismus stören können, wurde die Hypothese aufgestellt, daß solche Chemikalien auch das Brustkrebsrisiko erhöhen können (Davis et al. 1993).

Zwei weitere Risikofaktoren sind nicht eindeutig belegt: Fettkonsum als risikoerhöhender und Stillen als risikomindernder Faktor. Beide könnten mit der östrogenen Wirkung von Umweltchemikalien in Verbindung stehen: Mit Fett werden diese Chemikalien vermehrt aufgenommen, und beim Stillen entlastet sich die Mutter von diesem potentiellen Risikofaktor (Dewailly et al. 1993).

Mechanismen der Brustkrebsentwicklung

Einige chlororganische Pestizide, z.B. DDT und Triazine wie Atrazin können Brustkrebs bei Labortieren auslösen oder fördern (Scribner und Mottet 1981, Stevens et al. 1994;

zur Induktion und Promotion von Krebs vgl. Abschnitt 3).

Die Mechanismen, durch die solche Umweltöstrogene das Brustkrebsrisiko erhöhen könnten, haben wir schon dargestellt: Veränderungen des Östrogen-Stoffwechsels oder östrogen ähnliche Wirkung durch Besetzung der Östrogen-Rezeptoren. Andererseits ist es denkbar, daß diese Chemikalien auch völlig außerhalb des Östrogen-Stoffwechsels direkt kanzerogen wirken (über ihren Abbau durch Cytochrom P450 Enzyme und durch Beeinflussung bestimmter Gene) (Davis et al. 1993).

Experimentelle Befunde liegen dafür vor, daß eine Zunahme des Östrogenspiegels die Brustzellenwucherung fördern (promovieren) kann. Untersuchungen bei Menschen zeigen auch, daß erhöhte Exposition gegenüber exogenen (körperfremden) Östrogenen das Brustkrebsrisiko steigern kann. Zum Beispiel kann die Östrogen-Substitutionstherapie bei Frauen das Brustkrebskrisiko um etwa 30% nach 15 Jahren Anwendung erhöhen (Steinburg et al. 1991). Ähnlich hatten Frauen, die das synthetische Östrogen DES einnahmen, ein erhöhtes Risiko, Brustkrebs zu entwickeln (Boyle 1991).

 

HCH, DDT, PCB

Eine Untersuchung von Mussala-Rauhama et al. (1990) fand, daß das Brustgewebe von Brustkrebspatientinnen signifikant, d.h. um 40% höhere, Werte von β-HCH aufwies als das Gewebe gesunder Frauen (Durchschnittswert: 0,13 gegenüber 0,08 ppb).

Neue Erkenntnisse zum chlororganisch gestörten Östrogen-Stoffwechsel

Nach jüngeren Studien kann der Östrogen-Haushalt auch durch Umweltöstrogene angegriffen werden. Und zwar wird Östrogen im Körper offenbar auf zwei sich wechselseitig ausschließenden Wegen abgebaut:

Auf dem Abbauweg I wird Östrogen zu 2-Hydroxy-Estron (2-OHE1) metabolisiert, einer Verbindung, die nachweislich die Brustzellenwucherung hemmt. Diese Verbindung kann daher vor Brustkrebs schützen. Der Abbauweg II führt jedoch zu einer anderen Verbindung, genannt 16a-Hydroxy-Estron (16a-OHE1), die das Brustzellenwachstum fördert (da sie sich an den Östrogenrezeptor kovalent binden kann). 16a-OHE1 wurde in vitro bei Kulturen von Brustzellen als gentoxisch nachgewiesen (Schädigung der DNA). Tierversuche zeigten einen erhöhten Anteil von 16-OHE1 bei Brustkrebs (erhöhte Rate von 16a-OHE1 zu 2-OHE1). Nach Befunden ist auch beim menschlichen Brustkrebs der Spiegel von 16a-OHE1 um 50% erhöht. So ist es durchaus wahrscheinlich, daß ein Anstieg von 16a-OHE1 positiv mit erhöhtem Brustkrebsrisiko verbunden ist (Davis et al. 1993).

Eine neue Studie untersuchte in vitro die Auswirkung verschiedener chlororganischer Verbindungen auf den Östrogen-Metabolismus bei Brustkrebszellen (Bradlow et al. 1995, persönliche Mitteilung). Die chlororganischen Pestizide Atrazin, Lindan, DDT, DDE, HCH, Kepone, Endosulfan I und II sowie PCBs hatten die Rate von 16a-OHE1 gegenüber 2-OHE1 signifikant erhöht.

Die Chemikalien erhöhten diese Rate sogar in größerem Maße als Dimethylbenzanthrazen (DMBA), ein bekanntes Karzinogen. Die größten Auswirkungen wurden bei o,p'-DDE, Kepone und Atrazin beobachtet. Somit ist es möglich, daß einige Chlororganika das Brustkrebsrisko durch Angriff auf den Östrogen-Metabolismus steigern, wobei

die Rate 16-OHE1/2-OHE1 erhöht wird.

Zwei andere Studien bezogen DDT und PCBs auf Brustkrebs (Falck et al. 1992, Wolff et al. 1993). Die Studie von Falck et al. (1992) führte Konzentrationsmessungen verschiedener Chlororganika bei Brustgeweben von zwanzig Frauen mit Brustkrebs durch. Die Resultate wurden mit Brustgewebe verglichen, das von zwanzig, nach Alter und anderen relevanten Merkmalen vergleichbaren, Frauen ohne Erkrankung stammte.

Das Brustfett der Frauen mit Krebs enthielt rund 40% mehr DDE (Hauptabbauprodukt von DDT) und PCBs als das der Kontrollgruppe. Die Ergebnisse waren statistisch signifikant und legen nahe, daß diese östrogen-wirksamen Chemikalien bei der Entstehung von Brustkrebs eine Rolle spielen. Nach Ansicht der Autoren (Falck et al. 1992)

ist jedoch nicht auszuschließen, daß die höheren Brustgewebekonzentrationen an DDE und PCBs bei den Krebsfällen erst auf eine Chemikalien Umverteilung in die Brust während des Krankheitsverlaufs zurückgehen. Eine neuere Studie klärte diese Frage teilweise auf, indem sie Blut anstatt Brustgewebe auswählte, und auf Proben aus der

Zeit kurz vor der Krebsdiagnose zurückgriff (Wolff et al. 1993). Die Konzentration von östrogen-wirksamen Umweltchemikalien wurde im Blut von 58 Frauen gemessen,

die 6 Monate nach Beginn der Studie Brustkrebs entwickelten. Diese wurden mit dem Blut von 171 Frauen (Kontrollgruppe) verglichen, die während der Studiendauer nicht an Brustkrebs erkrankten. Die durchschnittlichen DDE- und PCB-Werte bei den Brustkrebspatientinnen waren höher als in der Kontrollgruppe, aber statistische Signifikanz

lag nur für DDE vor. Berechnungen zufolge entwickeln Frauen mit solch erhöhtem DDE-Pegel mit vierfacher Wahrscheinlichkeit Brustkrebs.

Eine ähnliche, aber größere Studie als diejenige von Wolff et al. (1993) wurde von Krieger et al. (1994) durchgeführt. Sie fand jedoch keine Verbindung zwischen dem Chlororganik-Blutspiegel und Brustkrebs. Rund um die San Francisco Bay hatten sich zwischen 1964 und 1971 Tausende von Frauen einer mehrphasigen medizinischen Untersuchung unterzogen, bei der Blutproben genommen und eingefroren worden waren. Der Gesundheitszustand der Frauen wurde bis Ende 1990 verfolgt.

150 Frauen aus dieser Gruppe (50 Weiße, 50 Schwarze, 50 Asiatinnen), die nach Beginn jener Untersuchungen mehr als sechs Monate lang Brustkrebs hatten (im Durchschnitt 14 Jahre), wurden für Kriegers Studie ausgesucht. Im Unterschied zu vorhergehenden Studien standen dieser Studie Blutproben aus der Zeit vor 1972 zur Verfügung, dem Verbotsjahr von DDT in den USA, als die Bevölkerung noch höheren Konzentrationen ausgesetzt gewesen war. Außerdem konnten Blutproben benutzt werden, die lange vor der Brustkrebsdiagnose genommen worden waren. Das war wichtig, weil so die Gefahr ausgeschlossen werden konnte, daß erst der Krebs die ev. erhöhten chlororganischen Blutspiegel ausgelöst hat. Die Konzentrationen von DDE und PCB in den Blutproben der 150 Frauen mit Brustkrebs wurden mit den Werten einer entsprechend angepaßten

Kontrollgruppe von gesunden Frauen verglichen. Es wurde jedoch keine Korrelation zwischen den DDE- oder PCB-Konzentrationen und Brustkrebsrisiko gefunden.

Eine Nachkontrolle dieser Studie offenbarte jedoch: Werden die ethnischen Gruppen der Frauen getrennt voneinander betrachtet, zeigt sich ein anderes Bild (Savitz 1994).

Höhere chlororganische Konzentrationen standen mit 2- bis 3-fach erhöhtem in der Milchwirtschaft Israels verboten, und die Anwendung von DDT wurde stark eingeschränkt. Vor 1978 waren mindestens zehn Jahre lang HCH, Lindan und DDE mit extrem hohen Konzentrationen in der Kuhmilch enthalten; die durchschnittlichen Werte waren 1000, 17 und 5 mal höher als z.B. in der Kuhmilch in den USA. Die radikale Reduktion in der Anwendung dieser Chlororganika könnte zu einem Rückgang in der Exposition der Allgemeinbevölkerung geführt haben. Da Chlororganika

als Krebspromotoren wirken können, ist anzunehmen, daß eine reduzierte Exposition gegenüber diesen Chemikalien schon nach weniger als 10 Jahren einen Rückgang der Sterblichkeitsrate verursacht hat. Obwohl diese Studie eine Verbindung zwischen Chlororganika und Brustkrebs nahelegt, kann sie nicht als schlüssiger Beweis dafür gelten, weil keine direkten Expositionsmessungen bei Menschen gemacht wurden.

Fazit zum Brustkrebs

Erhöhte Östrogenspiegel bei Frauen steigern nachweislich das Risiko für Brustkrebs, so daß die Hypothese, daß zusätzliche Belastung durch Umwelt-Östrogene in die

gleiche Richtung wirken, sehr plausibel ist. Neue in vitro-Studien zeigten, daß Chlororganika den Östrogen-Metabolismus in einer Weise beeinflussen können, die das

Risiko für Brustkrebs erhöhen kann (d.i. durch Anstieg der 16-OHE1/2-OHE1-Rate - wie obendargestellt). DDE, das Hauptabbauprodukt von DDT, hat dabei die größte Wirkung.

Dies ist besonders interessant, weil verschiedene epidemiologische Studien sowie die Brustkrebsstudie aus Israel ebenfalls nahelegen, daß DDT eine Rolle bei der Erhöhung des Brustkrebsrisikos spielt. Es ist auch wahrscheinlich, daß Triazin-Pestizide und HCH mit Brustkrebs in Verbindung stehen, was ebenfalls mit der in vitro-Studie zum Östrogen-Metabolismus übereinstimmt.

Die Resultate aus laborexperimentellen, aus epidemiologischen und aus tierexperimentellen Studien zusammengenommen legen also nahe, daß der Umgang mit Chlororganika, speziell mit DDT, ein erhöhtes Bustkrebsrisiko nach sich zieht.

Allerdings weisen die epidemiologischen Studien einige Inkonsistenzen auf. Es ist also weitere Forschung nötig. Im Lichte der heutigen Kenntnisse und angesichts der weltweiten Zunahme von Brustkrebs scheint es klug, wie in Israel dem Vorsorgeprinzip zu folgen und die Anwendung krebsverdächtiger chlororganischer Verbindungen

zu verbieten.

 

2.2.2 Endometriose

In den USA leiden mehr als fünf Millionen Frauen im gebärfähigen Alter unter Endometriose (Gebärmutterauswucherung). Sie ist durch Wucherung von Gebärmutterschleimhaut-ähnlichem Gewebe außerhalb der Gebärmutter gekennzeichnet. Dieses Gewebe kann bis in den Unterleib, die Eierstöcke, den Darm und zur Blase wandern. Als Folge treten oft innere Blutungen, Unfruchtbarkeit und

andere Probleme auf. Die Ursachen sind bisher unbekannt. Endometriose kommt nur bei Menschen und Primaten vor (Rier et al. 1993).

 

Dioxine

Untersuchungen an Rhesusaffen zeigten, daß die Exposition gegenüber Dioxinen (TCDD) (Rier et al. 1993) das Endometrioserisiko erhöht. Diese chlorhaltigen Kohlenwasserstoffe greifen bekanntlich das Immunsystem an, und es wird vermutet, daß Immunmechanismen beim Krankheitsprozeß eine Rolle spielen. Dazu kommt, dass Dioxine verschiedene für die Funktion der Gebärmutter wichtige Hormon-Rezeptor-Systeme verändern können, und daß sie geeignet sind, die Wirkung von Östrogen in den Reproduktionsorganen zu beeinflussen. Rier et al. (1993) führten eine Langzeitstudie zu gesundheitlichen Auswirkungen von chronischer Dioxinexposition an weiblichen Rhesusaffen durch. Vier Jahre lang erhielt eine Gruppe von Rhesusaffen 25 pg/kg/Tag Dioxin im Futter, eine zweite Gruppe erhielt 5 pg/kg/Tag Dioxin und einer dritten Gruppe wurde zur Kontrolle kein Dioxin gegeben.

Zehn Jahre nach dem Ende der Dioxinbehandlung wurden die Tiere auf Endometriose hin untersucht. Fünf von sieben Tieren (71%), die mit 25 pg/kg/Tag Dioxin behandelt

worden waren, und 3 von 7 Tieren (43%), die 5 pg/kg/Tag Dioxin bekommen hatten, hatten leichte bis schwere Endometriose - im Vergleich zu nur 33% der Tiere in der Kontrollgruppe.

Diese Studie ist von besonderer Bedeutung, weil Endometriose bei sehr niedrigen chronischen Dioxindosen beobachtet wurde. Tatsächlich war die Dosis nur etwa 10 mal so groß wie die derzeitige mittlere Tagesaufnahme der Menschen in den Industrieländern, die bei 2 pg/kg/Tag liegt. Das zeigt, daß ein dioxinbedingtes Endometriose-Risiko auch für den durchschnittlich belasteten Menschen nicht ausgeschlossen werden kann. Weitere Studien werden jetzt in den USA durchgeführt, um die Blutspiegel von Dioxinen und PCBs bei Frauen mit der Diagnose Endometriose zu bestimmen.

 

2.3. Embryonale und kindliche Entwicklungsstörungen

2.3.1 Totgeburten

Aus Tierversuchen und epidemiologischen Untersuchungen geht hervor, daß die Exposition gegenüber verschiedenen Chlororganika unter bestimmten Bedingungen zum Tod des Fetus und zu spontaner Fehlgeburt führen kann. Viele dieser Beobachtungen beim Menschen stammen von Frauen, die berufsmäßig Chemikalien in der Chemischen Reinigung, in der Pharmaindustrie und in der Landwirtschaft ausgesetzt waren. Jüngere Daten über die Exposition von Männern legen ebenfalls nahe, daß Spermienveränderungen durch berufliche Lösemittelbelastung zu spontanen Fehlgeburten führen können.

 

Dibromchlorpropan (DBCP)

Die Exposition männlicher Arbeiter gegenüber dem Pestizid DBCP (Dibromchlorpropan) in Israel dürfte der Grund für den Anstieg spontaner Fehlgeburten bei ihren Frauen gewesen sein. 6,6% der Frauen, die mit Arbeitern verheiratet waren, die nicht DBCP in dieser Region ausgesetzt waren, hatten spontane Aborte - gegenüber 19% bei schwangeren Frauen, die mit exponierten Arbeitern verheiratet waren (Whorton und Foliart 1983). In ähnlicher Weise kam es in Indien zu erhöhten Fallzahlen von Fehlgeburten bei Frauen von Arbeitern, die verschiedenen chlororganischen Pestiziden

ausgesetzt waren (Rupa et al. 1990). Vermutlich waren die spontanen Aborte in diesen Fällen durch genetische Schädigung der Keimzellen der Männer bedingt.

Perchlorethylen (Per) und andere leichtflüchtige chlorierte Lösemittel

Epidemiologischen Studien zufolge kann auch die Exposition gegenüber bestimmten leichtflüchtigen Chlororganika bei Frauen zu mehr spontanen Fehlgeburten während der ersten drei Schwangerschaftsmonate führen. In Chemischen Textilreinigungen sind Frauen relativ hohen atmosphärischen Konzentrationen des (leichtflüchtigen) Lösemittels Tetrachlorethen (Perchlorethylen, Per) ausgesetzt. Eine Studie unter Arbeiterinnen dieses Gewerbes in Finnland ergab, daß die Exposition gegenüber Permit signifikant höherer Anzahl (3,6 fach) von spontanen Aborten während der ersten drei Schwangerschaftsmonate verbunden war - im Vergleich zu nichtexponierten Frauen (Kyyronen et al. 1989). Eine frühere Studie in Finnland (Hemminki et al. 1980) ergab ebenfalls eine größere Fallzahl von spontanen Aborten (10,14%) nach Exposition gegenüber Chemikalien für die Chemisch-Reinigung, verglichen mit der allgemeinen Bevölkerung (5,52%).

Eine Studie zu finnischen Arbeitern in der Pharmaindustrie zwischen 1973 und 1981 brachte zutage, daß Exposition gegenüber organischen Lösemitteln, besonders Methylenchlorid (ebenfalls ein leichtflüchtiger Chloraliphat), in Zusammenhang mit einer Zunahme des Fehlgeburtsrisikos stand. Bei Exposition gegenüber Methylenchlorid lag zum Beispiel ein 2,3-fach höheres Fehlgeburtsrisiko vor. Das Risiko stieg mit der Häufigkeit der Exposition (Taskinen et al. 1986). Methylen ist z.B. in frei verkäuflichen Abbeizmitteln für Lacke enthalten.

Der gleiche Zusammenhang zeigte sich in einer 1989 veröffentlichten Arbeit (Taskinen et al. 1989), bei der die Folgen der männlichen Belastung mit verschiedenen leichtflüchtigen Lösemitteln und Lösemittelgemischen hinsichtlich der Abortrate bei ihren Frauen (in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten) untersucht wurden.

Bei 40-60% aller Spontanaborte in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten liegen chromosomale Anomalien vor. Etwa 98% aller Embryonen mit Chromosomenschäden gehen vor der Geburt zugrunde. Daher wird vermutet, daß die erhöhte Rate an Spontanaborten mit der Samenschädigung durch Lösemittel in Zusammenhang steht.

Diese Studien zeigen im übrigen, daß die heute gültigen Arbeitsschutzbestimmungen, die auf schwangere Frauen bezogen sind, für den Schutz vor Fehlgeburten nicht ausreichen.

 

2.3.2 Vermindertes Geburtsgewicht

Sowohl aus Tierversuchen als auch aus epidemiologischen Untersuchungen liegen substantielle Beweise für einen Zusammenhang zwischen pränataler Exposition gegenüber PCBs und reduzierter Körpergröße bei der Geburt vor. Pränatale Exposition gegenüber PCBs bewirkte bei trächtigen Ratten, Mäusen und Rhesusaffen vermindertes Geburtsgewicht der Jungen.

 

PCBs, Dioxine

Verschiedene epidemiologische Studien untersuchten die Geburtsgröße in der allgemeinen Bevölkerung rund um die Great Lakes. Diese nordamerikanischen Seen waren mit PCBs und anderen chlororganischen Chemikalien sehr stark belastet. Der Verzehr von PCB-kontaminiertem Fisch aus dem Michigan-See wurde mit den PCB-Konzentrationen in Serum und Milch von Müttern in Beziehung gebracht. Die mütterlichen Serumspiegel von PCBs reflektieren ihrerseits die Serum-Belastung in der Nabelschnur, die eine Expositionsquelle für den Fetus darstellt. Die meisten Studien aus der Region der Großen Seen ergaben einen Zusammenhang zwischen Exposition der Mutter gegenüber PCBs durch Verzehr von kontaminiertem Fisch und reduzierter Geburtsgröße bei den Neugeborenen (Swain 1991).

So studierten Fein et al. (1984) 242 Kinder, die zwischen 1980 und 1981 von Frauen geboren worden waren, die vorher eine mäßige Menge Fisch aus dem Michigan-See gegessen hatten. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, daß Exposition gegenüber PCBs, gemessen durch Fischkonsum und die Belastung des Nabelschnurserums, mit geringerer Geburtsgröße und kleinerem Kopfumfang bei neugeborenen Kindern verbunden ist. Ferner zeigte sich eine kürzere Austragsperiode. Exponierte Säuglinge waren signifikant leichter (160 bis 190 Gramm) als die Kontrollkinder, und ihre Köpfe waren signifikant kleiner (0,6 bis 0,7 cm).

Befunde aus dem Yu-Cheng Unfall und aus den Studien zum Michigan-See zeugen auch davon, daß Wachstumsverzögerung durch in Utero-exposition gegenüber PCBs

über die Säuglingsperiode hinaus fortdauern kann. Eine Nachfolgestudie an Kindern aus der Michigan-See-Studie zeigte, daß die Wachstumsverzögerung noch im Alter

von 4 Jahren bestand (Jacobson und Jacobson 1989). Die höchstexponierten Kinder (festgestellt anhand der Serumbelastung in der Nabelschnur von 5 ng/ml oder mehr)

wogen im Durchschnitt 1,8 kg weniger als die am wenigsten exponierten Kinder. Das Ergebnis war statistisch signifikant bei Mädchen, bei denen die Gewichtsdifferenz 2,2 kg betrug. Der Gewichtsunterschied war bei Jungen ähnlich groß (1,7 kg), aber nicht statistisch signifikant. Die Wachstumsverzögerung bei Mädchen wurde auch in der Yu-Cheng-Studie hervorgehoben. Ihre Körpergröße war signifikant geringer (2,8 cm) als bei der Kontrollgruppe im Alter von 11 bis 14 (Guo et al. 1993).

Bei Untersuchungen von Eskimos, die aufgrund ihrer Fischdiät relativ hoch dioxin- und PCB-belastet sind, wurden deutliche Beeinträchtigungen der Entwicklung von Kindern im Mutterleib festgestellt: Neugeborene männliche Kinder waren kleiner als weibliche Kinder, wobei die Körpergröße um so kleiner ausfiel, je höher die Dioxinbelastung der Mutter war (Greenpeace 1994).

Aus Tierversuchen und epidemiologischen Studien ist offenkundig, daß die in Utero-exposition gegenüber PCBs in Verbindung mit reduzierter Geburtsgröße bei Säuglingen steht, und daß diese Wachstumsverzögerung bei Kindern fortdauern kann.

 

2.3.3 Kindliches Nervensystem, Verhalten und Intelligenz

Einige epidemiologische Studien zu Kindern, die in utero einer Belastung durch chlororganische Chemikalien ausgesetzt waren, zeigen, daß ihr Verhalten einschließlich einiger intellektueller Funktionen beeinträchtigt worden ist. Die Mechanismen, die Entwicklungsstörungen des Nervensystems und des Gehirns bewirken, sind nicht ganz aufgeklärt, aber sie unterliegen vermutlich teilweise der Kontrolle durch Sexual- und Schilddrüsenhormone.

Das für die normale Entwicklung des Kindes charakteristische Gleichgewicht dieser Hormone kann durch einige chlororganische Chemikalien gestört werden. Solche Störungen können partiell für die Verhaltensänderungen verantwortlich sein, wie sie bei Kindern beobachtet wurden, die pränatal gegenüber Chlororganika exponiert waren.

Dioxin erhöht Schilddrüsenhormonspiegel

Eine Studie untersuchte die Konzentrationen von Schilddrüsenhormonen bei 38 gesund geborenen Säuglingen in den Niederlanden, weil dort (wie auch in Belgien und Großbritannien) sehr hohe Dioxinwerte in der Muttermilch gemeldet wurden (Pluim et al. 1993). Die Säuglinge wurden in hoch und niedrig exponierte Gruppen eingeteilt, basierend auf den in der jeweiligen Muttermilch gemessenen Dioxinkonzentrationen.

Die Schilddrüsenhormon-Spiegel wurden bei Geburt sowie nach einer und elf Wochen Stillzeit gemessen. Ein Vergleich der beiden Gruppen erbrachte, daß die Spiegel von zwei Hormonen (T4 und TSH) in der hochexponierten Gruppe signifikant höher waren als in der niedrig exponierten Gruppe. Es wurde der Schluß gezogen, daß die Unterschiede in den Konzentrationen von Schilddrüsenhormonen in den zwei Gruppen mit großer Wahrscheinlichkeit von der gestiegenen Exposition gegenüber Dioxinen

im Mutterleib und von der Frauenmilch herrührten (Pluim et al. 1992 und 1993).

 

PCB’s

Starke Beweiskraft für chlororganisch ausgelöste Verhaltenseffekte beim Menschen kommt von Studien über Kinder von Frauen, die gegenüber PCB’s und Dioxinen beim Yu-Cheng-Unfall in Taiwan 1978/79 exponiert waren (Chen et al. 1992, Lai et al. 1994, Guo et al. 1994). Diese Studien verfolgten bis zu zwölf Jahren nach dem Unfall die Entwicklung der Kinder von Frauen, die während des Giftunfalls schwanger waren, und auch jener Kinder von Frauen, die exponiert gewesen waren, bevor sie schwanger wurden. Die kognitive Entwicklung der Kinder wurde mit Hilfe jährlich wiederholter Intelligenztests geprüft. Im Lebensalter von 18 Monaten bis zu 7 Jahren war die Punktezahl bei diesen Tests für die Yu-Cheng-Kinder jedesmal signifikant niedriger, verglichen mit einer Kontrollgruppe von Kindern nichtexponierten Frauen. Das ist umso gravierender, als sich die Intelligenzschwäche dieser Kinder auch mit der Zeit offenbar nicht legte. Das bedeutet, daß der Schaden permanent sein könnte. Dazu kommt, dass Kinder, die bis zu 12 Jahren nach dem Unfall geboren wurden, genauso nachteilig beeinflußt waren wie jene, die nur ein Jahr nach dem Unfall zur Welt gekommen waren, obwohl die Giftbelastung der Frauen zurückgegangen war (Chen et al. 1992, Guo et al. 1994).

Untersuchungen bei den Yu-Cheng-Kindern bis zum Alter von 12 Jahren fanden auch heraus, daß sie unter leicht gestörtem Verhalten litten und Hyperaktivität an den Tag legten. Wie bei der intellektuellen (kognitiven) Entwicklung dauerten auch die Verhaltensprobleme an, als die Kinder älter wurden (Yu et al. 1994).

Die Auswirkungen auf das Verhalten nach pränataler Exposition gegenüber PCBs durch Fischkonsum sind ebenfalls studiert worden. Studien über Kinder der schon erwähnten Frauen, die kontaminierten Fisch vom Michigan-See aßen, legen nahe, dass PCBs im Fisch im Zusammenhang mit Verhaltensproblemen bei den Kindern stehen. In Verhaltenstests im Alter von 3 Tagen, 7  Monaten und 4 Jahren hatten die Kinder signifikant niedrigere Punktezahlen, verglichen mit den Kindern, deren Mütter keinen kontaminierten Fisch gegessen hatten (Jacobson et al. 1985, Jacobson und Jacobson 1993). Tests im vierten Lebensjahr zeigten, daß die pränatale Exposition gegenüber PCBs offenbar auch in Zusammenhang mit kleinen, aber signifikanten Defiziten im Kurzzeit-Gedächtnis und beim Tempo der Informationsverarbeitung (Denken) stand.

Fazit: Es ist offenkundig, daß die in utero-Exposition gegenüber PCBs und Dioxinen nachteilige Effekte auf das Verhalten verursacht. Studien zu den Yu-Cheng-Kindern offenbarten, daß sie signifikant weniger Punkte bei Intelligenztests erzielten und daß sie leichte Verhaltensstörungen hatten, die bis ins fortgeschrittene Kindesalter andauerten. Studien zu Frauen, die Fisch aus dem Michigan-See verzehrt hatten, legen nahe, dass nicht nur bei beruflich Exponierten, sondern auch in der Allgemeinbevölkerung unter bestimmten Bedingungen schon Expositionen gegenüber genügend großen Mengen von Kontaminanten vorliegen können, um nachteilige Wirkungen bei den Kindern zu verursachen. Es ist möglich, daß Auswirkungen dieser Chemikalien auf

Schilddrüsenhormone während der kindlichen Entwicklung Effekte im Nervensystem hervorriefen, die Verhaltensbeeinträchtigungen nach sich ziehen.

 

3. Krebs durch organische Chlorverbindungen

Heute stellen Krebserkrankungen in den westlichen Industrienationen nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen die zweithäufigste Totesursache dar. Jeder vierte Mensch erkrankt

an Krebs, jeder fünfte stirbt daran. Eine rein genetische Ursache haben nur wenige Tumore. (Eisenbrand 1994, 100ff). Nach Expertenmeinungen sind deutlich über die Hälfte aller Krebserkrankungen durch Umwelteinflüsse im weiteren Sinne verursacht. Diese umfassen Chemikalien, Strahlung und Viren, aber auch Aspekte der Lebensweise wie Ernährung, Arbeitsplatz, Rauchen, Alkohol (Moller 1992, Silberhorn et al. 1990). Chemikalien, die zu Krebs führen können, heißen chemische Kanzerogene.

Über 2000 Chemikalien haben sich im Tierversuch als krebserregend erwiesen (Eisenbrand 1994, 102). Zu ihnen gehören auch zahlreiche chlororganische Verbindungen.

Für die Einstufung von Chemikalien als kanzerogen ist in Deutschland die Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft zuständig, die jährliche eine MAK- und BAT-Werte-Liste veröffentlicht (MAK-Werte-Kommission). In der von dieser Kommission veröffentlichten Liste gefährlicher Arbeitsstoffe (MAK-Liste), sind ca. 50, d.h., ein Drittel der als krebserzeugend oder krebsverdächtig eingestuften Stoffe chlorhaltige Verbindungen.

Auf internationaler Ebene gilt als entscheidene Autorität die International Agency for Research on Cancer (IARC) in Lyon, die periodisch die internationale Forschung

über humankanzerogene Risiken von Chemikalien aus- und bewertet. Die IARC nennt weitere 13 krebserzeugene Chlororganika.

 

Vorbemerkung: Chlororganische Umweltchemikalien und Krebsentwicklung

Die meisten chemischen Kanzerogene erzeugen nicht direkt Krebs im Körper, sondern wirken über ihre Abbauprodukte. Der Abbau erfolgt durch Enzyme (z.B. Cytochrom P450). Dabei entstehen Metaboliten, die meist reaktionsfreudiger als die ursprünglichen Chemikalien und damit auch giftiger sind (sog. metabolische Aktivierung).

Dies hängt u.a. mit der "elektronenanziehenden" Wirkung des Chlors zusammen. Auf die synthetischen Chlororganika ist das körpereigene Entgiftungssystem nicht richtig eingestellt. Diese toxischen Abbauprodukte können mit der DNA reagieren und in der DNA Mutationen erzeugen oder bestimmte Gene (genannt Onkogene) aktivieren,

die mit der Bildung von Krebs in Zusammenhang stehen.

Solche genetischen Veränderungen gelten im Prozeß der Krebsentwicklung als kritisch.

Die Krebsentstehung ist sehr komplex. Aber die ersten Stufen lassen sich vereinfacht in zwei Phasen einteilen: Initiation und Promotion. Krebs-Initiation erfolgt durch ein auslösendes Agens (z.B. eine Chemikalie), das Schaden an der DNA verursacht, so daß eine Mutation entsteht. Zwar gibt es Reparaturmechanismen der DNA, aber sie

greifen nicht immer. Die zweite Stufe, Krebs-Promotion, umfaßt wiederholte Exposition gegenüber einem Promotor (meist eine andere Chemikalie), der zu selektivem Wachstum der durch die Krebs-Initiation genetisch vorgeschädigten Zellen führt. Im ersten Schritt wird die Zelle genetisch geschädigt, im zweiten zur Wucherung angeregt.

 

Die Entwicklung von Krebs in dieser Art wird als mehrstufiger Prozeß erklärt, der mehrere Mutationen und viele verschiedene Promotionsmechanismen umfaßt, die das Wachstum der genetisch veränderten Zellen bestimmen. Eine Initiation kann schon nach durch eine einzige minimale Dosis einer karzinogenen Chemikalie hervorgerufen werden, während man bei Promotoren annimmt, daß eine wiederholte Exposition für die Promotionsphase erforderlich ist.

Chemikalien, die als Initiatoren agieren und direkt die DNA schädigen, sind gentoxisch.

Diejenigen Chemikalien, die Promotoren sind, sind meistens nicht gentoxisch und können gewöhnlich nicht von sich aus Krebs erzeugen, aber das Krebsrisiko erhöhen –

z.B. durch Wachstumssteigerung mutierter Zellen. Weder für gentoxische noch für tumorpromovierende Substanzen lassen sich nach der hier vertretenen Auffassung unschädliche Expositionsmengen bestimmen, also auch keine Grenzwerte. Allerdings sind manche Wissenschaftler der Auffassung, daß sich für lediglich Tumor promovierende Stoffe gesundheitlich unbedenkliche Grenzwerte formulieren lassen (z.B. Henschler 1994, S. 54).

Unter den chlororganischen Verbindungen sind einige gentoxisch (insbesondere aliphatische Chlorkohlenwasserstoffe, die leicht Chlor abspalten), während andere als

Krebs- bzw. Tumorpromotoren agieren (insbesondere die hochstabilen polychlorierten zyklischen Verbindungen). Es gibt auch Chlororganika, die sowohl gentoxisch als

auch tumor-promovierend sind. Schon minimale Spurenkonzentrationen karzinogener chlororganischer Verbindungen können somit zu Krebs führen. Indessen nimmt das Risiko mit der Dauer der Exposition und der Höhe der Dosis zu. Zu beachten ist, daß sich manche in Kleinstmengen aufgenommenen Chlororganika aufgrund ihrer Fettlöslichkeit und Langlebigkeit im menschlichen Fettgewebe zu hohen Konzentrationen anreichern und remobilisiert werden können.

Durch diverse in vitro-Tests läßt sich aufdecken, ob Chemikalien genetische Schäden verursachen. Auch Tierversuche liefern bedeutsame Informationen über die Rolle

von Chemikalien bei der Entstehung bestimmter Krebstypen. So sind nahezu 100% aller menschlichen Kanzerogene auch im Tierversuch krebserregend (Henschler 1979). Beide Arten von Experimenten sollen verstehen helfen, wie Umweltchemikalien beim Menschen Krebs erregen können. Befunde aus epidemiologischen Studien an Menschen sind jedoch wesentlich, wenn ein Zusammenhang zwischen Umweltchemikalien und Krebs belegt werden soll. Solche Befunde sich jedoch verständlicherweise viel schwerer beizubringen.

 

3.1 Leber- und Darmkrebs

Vinylchlorid

Von der krebserzeugenden Wirkung von Vinylchlorid (VC), des Monomers für das chlorchemische Hauptprodukt PVC, wurde die internationale Arbeitsmedizin offenbar selbst überrascht: 1974 wurden in den USA und in Deutschland in kurzer Folge eine Reihe tödlich verlaufender seltener Leberkrebserkrankungen (Hämangiosarkome) diagnostiziert und publiziert. Dreißig Jahre lang hatte in der chemischen Industrie ein sorgloser Umgang mit dem gasförmigen Baustein des PVC-Kunststoffes geherrscht,

was von Industrieseite im Nachhinein selber als "Gepansche" (Fleig/Thiess 1974) bezeichnet wurde.

Allein in Deutschland kam es nach der für chemisch verursachte Krebserkrankungen bestehenden 20- bis 30-jährigen Latenzzeit in den siebziger Jahren zu über zwanzig VC-bedingten  Erkrankungsfällen (Konietzko 1992). Gegen den Widerstand aus der chemischen Industrie, bei dem sich das am stärksten von Krebsfällen betroffene damalige Unternehmen Dynamit-Nobel besonders hartnäckig verhielt, mußten große anlagen-, sicherheits- und meßtechnische Umrüstungen vorgenommen werden. VC wurde 1974 von der IARC als "eindeutig krebserzeugender Stoff" eingestuft, und eine Technische Richtkonzentration (TRK) schrieb die Einhaltung von 5 ppm in der Arbeitsplatzluft (2 ppm für Neuanlagen) vor. Das senkte in der Folge das Gesundheitsrisiko der Arbeiter entscheidend. Zugleich konnte der Restmonomergehalt im fertigen PVC bis auf 1 ppm gesenkt werden. Zum Vergleich: PVC-Schallplatten wiesen bis 1975 noch bis zu 0,3% Rest-Vinylchlorid auf (Koch 1984, S. 170). Ein vollständiger Anwohner- und Verbraucherschutz vor VC-Monomeren ist allerdings auch heute noch nicht gegeben. Aus den deutschen PVC-Produktionsanlagen entweichen jährlich noch 300 Tonnen Vinylchlorid (BLAU 1992). In importierten PVC-Produkten wie Puppen und anderem Spielzeug aus Fernost wurden VC-Restgehalte von über 1000 ppm (0,1%) gemessen. Dies ist umso bedenklicher, als wegen der gentoxischen Eigenschaft von VC jede noch so kleinste Dosis -statistisch gesehen- Krebs initiieren kann. Greenpeace-Untersuchungen von "Barbie"-Puppen ergaben VC-Gehalte von 0,44 bis 0,62 mg/kg (Greenpeace 1994b).

 

PCB’s

Aus Tierversuchen liegen eindeutige Beweise dafür vor, daß Langzeitexposition gegenüber PCB-Mischungen zu Leberkrebs (hepatozelluläres Karzinom) führt.

Auch Magenkrebs kann die Folge von PCB-Exposition sein. Die meisten Tier- und in vitro-Studien zeigen, daß PCBs als Tumorpromotoren wirken. Einige Studien legen

aber auch eine Gentoxizität von PCBs nahe (Überblick bei Silberhorn et al. 1990).

In der Literatur gibt es nur wenige Studien zur Mortalität von Menschen, die entweder unfallbedingt oder berufsmäßig PCBs ausgesetzt waren. Die Todesfälle von PCB- und Dioxin-Exponierten beim japanischen Yusho-Unfall zeigen aber, daß die Krebsmortalität im allgemeinen (33 beobachtete gegenüber 15,51 erwarteten Fälle) und die Mortalität durch Leberkrebs im besonderen (9 beobachtete gegenüber 1,61 erwarteten Fällen) bei Männern signifikant höher als erwartet lag. Diese Resultate stimmten mit Tierversuchen überein, so daß dieser von Silberhorn referierten Studie zufolge die Vergiftung Ursache der Leberkrebsfälle war.

Eine Studie zu PCB-exponierten Arbeitern einer Kondensatorenfabrik in den USA fand eine signifikante Überhäufung (mehr Fälle als statistisch zu erwarten) von Todesfällen durch Krebs. Durch Leberkrebs, Gallenblasenkrebs und Krebs des Gallentrakts starben 5 Personen (1,9 erwartete) (Brown 1987). Eine ähnliche Studie in einer italienischen Kondensatorenfabrik berichtet von einer Überhäufung aller zusammengefassten Krebsformen und von einem statistisch signifikanten Anstieg bei Krebsfälle des Verdauungstrakts (2 Magenkrebse, 2 Bauspeicheldrüsenkrebse, 1 Leberkrebs und 1 Krebs des Gallentrakts gg. 2,2 erwartete Fälle) (Bertazzi et al. 1987). Andererseits fand eine andere Studie in einer Kondensatorenfabrik in Schweden keine Überhäufung von Krebs oder von Leberkrebs. Die Untersuchungsgruppe dieser Studie war jedoch relativ klein (Gustavsson et al. 1986).

Tabelle 5: Chlororganische Verbindungen und Krebs Humankanzerogene (A 1) und im Tierversuch eindeutig kanzerogene chlororganische Verbindungen (A 2)

 

Humankanzerogene (A 1) und im Tierversuch eindeutig kanzerogene chlororganische Verbindungen (A 2)

A 1

A 2

Bis(chlormethyl)ether (Dichlordimethylether)

4-Chloranilin

4-Chlor-o-toluidin

4-Chlorbenzotrichlorid α-Chlortoluole

1-Chlor-2,3-epoxypropan (Epichlorhydrin)

Dichlordiethylsulfid

Chlorfluormethan (R 31)

N-methyl-bis(2-chlorethyl)amin

N-Chlorformyl-morpholin

Monochlordimethyleher α-Chlortoluole (Mono-, Di-, Tri-) Vinylchlorid

1,2-Dibrom-3-chlorpropan (DBCP)

Dichloracetylen

3,3 ́-Dichlorbenzidin

1,4-Dichlor-2-buten

1,2-Dichlorethan (Ethylendichlorid)

1,3-Dichlor-2-propanol

1,3-Dichlorpropene (cis- und trans-)

Dimethylcarbamidsäurechlorid

4,4 ́-Methylen-bis(2-chloranilin)

Pentachlorphenol (PCP)

2,3,7,8-Tetrachlordibenzo-p-dioxin (TCDD)

2,3,4-Trichlor-1-buten

1,2,3-Trichlorpropan

Begründet krebsverdächtige organische Chlorverbindungen (B-Verbindungen)

2-Chloracrylnitril

1,2-Dichlormethoxyethan

Chlordan

1,2-Dichlorpropan

Chlordecon

2,2-Dichlor-1,1,1-trifluorethan (R 123)

Chlorethan

Diethylcarbamidsäurechlorid

Chlorierte Biphenyle (PCBs)

Heptachlor

Chlormethan (Methylchlorid)

Hexachlorbutadien

3-Chlor-2-methylpropen

N-Methylolchloracetamid

1-Chlor-2-nitrobenzol

1,1,2,2-Tetrachlorethan

1-Chlor-4-nitrobenzol

Tetrachlorethen (PER)

Chlorparaffine

Tetrachlormethan (Tetra)

3-Chlorpropen

1,1,2-Trichlorethan

Chlorthalonil

Trichlorethen (TRI)

5-Chlor-o-toluidin

Trichlormethan (Choroform)

1,1-Dichlorethen (Vinylidenchlorid) α, α, α-Trichlortoluol

Dichlormethan (Methylenchlorid)

Von der IARC in Lyon außerdem als kanzerogen aufgeführte Chlorverbindungen

Bis(chlorethyl)nitrosoharnstoff

1-(2-Chlorethyl)-3-cyclohexylnitrosoharnstoff

Chlorphenole

Chlorphenoxyessigsäurederivate

4-Chlor-o-phenylendiamin

3,3 ́-Dichlor-4,4 ́-diaminodiphenylether

Dichlorvos

Hexachlorbenzol (HCB)

Hexachlorcyclohexane (HCH)

Melphalan

Metronidazol

Mirex

Trinkwasserchlorierungsprodukte

 Quellen: DFG: MAK- und BAT-Werte-Liste 1994, S. 92-97 und Henschler 1994, S. 49/50.

 

Fazit: Im großen und ganzen sind die wenigen epidemiologischen Studien zu PCBs nicht überzeugend genug. Allerdings legen sie einen Zusammenhang zwischen Exposition gegenüber PCBs und Krebsentwicklung nahe, speziell von Leberkrebs und Krebsen des Verdauungstrakts. Auch passen die epidemiologischen Studien mit Ergebnissen von Tierversuchen zusammen. So hat die US-EPA die PCBs als "beim Menschen wahrscheinlich krebserzeugend" klassifiziert und für das Trinkwasser eine Konzentration von Null empfohlen. Weil das noch nicht erreichbar ist, schlug die EPA 1989 einen Grenzwert im Wasser von 0,0005 mg/l vor und berechnete daraus ein lebenszeitlich zusätzliches Krebsrisiko von etwas weniger als 1 zu 10 000 (Überblick bei Silberhorn et al. 1990).

 

Dioxin

Beim Seveso-Unfall von 1976 wurde die lokale Bevölkerung einer hohen Dioxin-Dosis (TCDD) ausgesetzt. Eine epidemiologische Studie an der Wohnbevölkerung des betroffenen Gebietes fand eine doppelte Überhäufung bei Leberkrebs (4 Fälle) und Krebsen der Gallenblase und der Gallenwege (5 Fälle) sowie einen 1,8-fachen Anstieg bei Leber- und Nierenkrebs (10 Fälle). Diese Studie legt eine Verbindung zwischen Exposition gegenüber Dioxin und diesen Krebsen nahe. Da die betrachtete Latenzperiode erst 10 Jahren betrug -ein nicht ausreichender Zeitraum, um die wirkliche Anzahl der Krebsfälle infolge jenes Unfalls zu ermitteln- muß für eine Bewertung des endgültigen Schadensausmaßes das event. Auftreten weiterer Krebsfälle beobachtet werden. (Bertazzi et al. 1993).

 

3.2 Krebs der Bauchspeicheldrüse

In Tier-Studien wurde festgestellt, daß die Exposition gegenüber DDT das Risiko für Krebs der Bauchspeicheldrüse erhöht. Eine jüngere, gut angelegte epidemiologische Studie ergab eine strenge Assoziation zwischen Exposition gegenüber DDT und dieser Krankheit (Garabrant et al. 1992). Ein Chemieunternehmen in den USA legte ab 1971 ein Sterblichkeitsregister seiner Fabrik-Beschäftigten an. 1987 wurde daraus eine erhöhte Sterblichkeit durch Bauchspeicheldrüsenkrebs offenkundig. Daraufhin sollte eine Untersuchung herausfinden, ob bestimmte Chemikalien in der Fabrik mit diesen Todesfällen zusammen hingen. Die Verstorbenen wurden mit Kontrollpersonen verglichen,

das Rauchen als Risikofaktor für Bauchspeicheldrüsenkrebs wurde berücksichtigt.

Die Ergebnisse zeigten einen engen Zusammenhang zwischen DDT-Exposition und Bauchspeicheldrüsenkrebs, der weder durch die Lebensweise noch durch andere Fabrikchemikalien zu erklären war. Das Risiko wuchs mit der Expositionsdauer und der Zeitdauer seit der ersten Exposition. Verglichen mit nichtexponierten Arbeitern war das Risiko für Bauchspeicheldrüsenkrebs bei DDT-

exponierten Arbeitern insgesamt 4,8 mal höher. Bei Arbeitern mit einer durchschnittlichen DDT-Exposition von 47 Monaten war das Risiko 7,4 mal so groß wie bei Arbeitern ohne Exposition.

Die untersuchenden Wissenschaftler folgerten, daß eine verlängerte Exposition gegenüber DDT zu Bauchspeicheldrüsenkrebs führen kann.

 

3.3 Lungenkrebs

Vinylchlorid: Von der Leber zur Lunge

Als nicht mehr zu bestreiten war, daß die bis Anfang der siebziger Jahre eingetretenen (bzw. durch wissenschaftliche Untersuchungen bekanntgewordenen) rund 20 Leberkrebsfälle  (Hämangiosarkome) in der deutschen PVC-Produktion eindeutig auf den fahrlässigen Umgang mit dem Vinylchlorid-Monomer zurückgingen, wurden die Produktionsanlagen durchgreifend umgebaut. Allerdings ist das Krebsrisiko durch VC nicht aus der Welt. In diesem Zusammenhang ist eine schwedische Studie (Hagmar et al. 1990) bedeutsam. Ihr zufolge beinhaltet eine niedrige Exposition gegenüber VC unterhalb des hierzulande geltenden TRK-Wertes von 2 ppm ein signifikantes Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken. Die Rate aus beobachteten gegenüber erwarteten Fällen

betrug 2,13. Die Kohorte bestand aus 2 031 PVC-Arbeitern.

 

Chlormethylether

Chlormethylether sind chlororganische Chemikalien, die in der chemischen Industrie angewandt werden. Diese Chemikalien enthalten als Verunreinigung Dichlormethylether, der bei Tieren Atemwegskrebs verursacht. Epidemiologische Studien zeigten, daß Arbeiter mit Exposition gegenüber Chlormethylether ein erhöhtes Risiko für Atemwegskrebs aufweisen, das vermutlich in großem Maße auf Dichlormethylether zurückgeht (Gowers et al. 1993). Sowohl von der IARC als auch von der deutschen MAK-Werte-Kommission ist Dichlordimethylether als "beim Menschen

erfahrungsgemäß krebserzeugend" eingestuft (vgl. Tabelle 5).

Als allgemeines Ergebnis zeigen die epidemiologischen Studien, daß die Exposition gegenüber Chlormethylether erhöhte Raten von Atemwegskrebs bei Arbeitern bewirkt, aber kein erhöhtes Risiko für andere Krebse (s. z.B. DeFonso und Kelton 1976, Pasternack et al. 1977, McCallum et al. 1982, Maher und DeFonso 1987 und Gowers et

Die Studien von Maher und DeFonso 1987, DeFonso und Kelton 1976 bzw. Gowers et al. 1993 ergaben eine Risikosteigerung für Atemwegskrebse bei entsprechend exponierten Arbeitern gegenüber nichtexponierten Arbeitern mit dem Faktor 2,79 bzw. 3,8 und 5. Die Ergebnisse zeigen auch klar, daß das Risiko für Atemwegskrebs mit zunehmender Intensität und Dauer der Exposition wächst. Bei hochexponierten Arbeitern lag es zehnmal so hoch wie erwartet (z.B. Pasternack et al. 1977, Maher und DeFonso 1987).

 

Chlorgasanwendung, Hexachlorbenzol und Dioxine als Verunreingungen

Nachgewiesen ist auch ein Zusammenhang zwischen der Exposition gegenüber elementarem Chlor und Lungenkrebs. So betrug bei einer norwegischen Kohorte von Arbeitern in der Magnesiumproduktion mit potentieller Exposition gegenüber Chlorgas und anderen chlorierten Nebenprodukten wie Hexachlorbenzol das relative Risiko (RR) für Lungenkrebs 1,8. Die Überhäufung war besonders offenkundig bei jenen, die seit zehn oder mehr Jahren beschäftigt waren und deren Erstexposition mindestens 20 Jahre zurücklag (Heldaas 1989). Eine schwedische Studie bei Chlor

alkali-Arbeitern, die Chlorgas ausgesetzt waren, berichtet von einem zweifachen Risiko für Lungenkrebs (Barregard 1990). Diese Studien legen eine Verbindung zwischen Chlorexposition und Lungenkrebs nahe, auch wenn sie nicht angemessen die Risikofaktoren Rauchen und berufliche Expositionen wie Asbest ausgeschlossen hatten.

Arbeiter in Zellstoff- und Papierfabriken, die -wie häufig in Skandinavien- noch die Chlorbleiche einsetzen, werden ebenfalls mit Chlor und einer großen Zahl von chlorierten organischen Verbindungen einschließlich Dioxinen (PCDDs und PCDFs) belastet, die sich beim Bleichprozeß bilden. Einige Studien offenbarten einen Überschuß von Lungenkrebs bei Zellstoff- und Papier

arbeitern (Jappinen et al. 1987, Jappinen und Pukkala 1991). Die erste dieser finnischen Studien ergab eine Überhäufung von Lungenkrebs bei männlichen Arbeitern, speziell bei Pappefabrikarbeitern. Die Fallzahl von Lungenkrebs war hier doppelt so groß wie erwartet (40 beobachtete, 18,1 erwartete Fälle). Das Risiko wurde stärker nach einer Latenzzeit von 20 Jahren (25 beobachtete, 7,8 erwartete Fälle) (Jappinen et al 1987). Die andere der beiden finnischen Studien fand bei 152 Arbeitern Lungenkrebs 6 mal häufiger als erwartet (6 beobachtete Fälle, 1 erwartet). In beiden  Untersuchungen akute Lungenschäden durch Chlororganika

Verschiedene Chlororganika können die Lunge akut schädigen. Die wichtigste Rolle spielt dabei das toxische Lungenödem:

Wenn chemisch reaktive Gase mit geringer Wasserlöslichkeit in die Lungenbläschen gelangen, können sie wegen ihrer Fettfreundlichkeit die Wände der Lungenbläschen durchdringen und durch reaktive Prozesse schwer schädigen. Durch die geschädigten Wände kann Blutplasma in die Lungenbläschen austreten, wodurch es zur Durchtränkung der Lunge mit Flüssigkeit, dem Lungen

ödem, kommt. Dabei kann der Austausch von Kohlendioxid und Sauerstoff so stark beeinträchtigt werden, daß es zur Erstickung kommt. Besonders tückisch ist, daß zwischen der Substanzen

wirkung und dem ausgebildeten Lungenödem eine beschwerde freie Zeit von 1-2 Tagen liegen kann.

 

Chlor und Phosgen können nach dem geschilderten Mechanismus ein Lungenödem auslösen und stellen daher vor allem bei Chemieunfällen eine große Gefahr dar. Beide Gase wurden auch als

Kampfgase eingesetzt.

 

Tetrachlorethylen (Per) kann, obwohl es nicht hochreaktiv ist, durch Einlagerung in die Wandung der Lungenbläschen ein Lungenödem auslösen. (Eisenbrand 1994, 68)

Identität der bei Ratten im Test erzeugten Tumoren sowie durch die auf molekularer Ebene schlüssige Beweisführung des kanzerogenen Wirkungsmechanismus (enzymatische Reduktion) unterstützt (s. Henschler 1994, S. 23-28).

Diese Studie teilt nicht die Mängel der vorausgehenden Untersuchungen. Sie kommen meist deshalb zu keiner signifikant positiven Assoziation zwischen TRI und Nierenkrebs, weil sie kaum Personen untersuchten, die über längere Zeiträume gegenüber TRI als Reinstoff exponiert waren. Außerdem erfaßten sie Krebstodesfälle, nicht aber Krebserkrankungen. Letzteres ist aufgrund der Heilbarkeit von Nierenkrebs wichtig.

Diese Nierenkrebsstudie ist in der deutschen Toxikologie wohl die überzeugendste, die in den letzten Jahren zu chlororganischen Krebsrisiken unternommen wurde. Sie muß endlich Anlaß sein,

TRI als humankanzerogene Verbindung einzustufen und die Anwendung von TRI in der Metallentfettung und als Lösemittel in Gummiklebstoffen zu verbieten.

 

3.5 Weichteilsarkom (Soft Tissue Sarkom)

Weichteilsarkom (STS) ist eine seltene Krebsform, die z.B. in England und Wales nur 4 von 100 000 Menschen betrifft (Brahams 1992). STS ist ein allgemeiner Begriff für Tumoren, die sich in verschiedenen Typen von Bindegewebe wie Fett, Muskeln, peripheren Nerven, Blut und Lymphgewebe entwickeln. Einige epidemiologische Studien legen einen Zusammenhang zwischen gestiegener STS-Inzidenz und beruflicher Exposition gegenüber Chlorphenolen und Phenoxyessigsäuren nahe, obwohl andere Studien keinen Zusammenhang fanden. Chlorpenole umfassen u.a. die

Chemikalien Trichlorphenol, Tetrachlorphenol und Pentachlorphenol, ebenso Phenoxyessigsäuren wie 2,4,5-Trichloressigsäure (2,4,5-T) und 2,4-Dichloressigsäure (2,4-D). Diese Chemikalien führen wie gewiesen bei Labortieren zu Krebs und sind durch die IARC als "beim Menschen wahrscheinlich krebserzeugend" eingestuft.

Naheliegend ist auch die Möglichkeit, daß im Falle von Chlorphenolen und Phenoxyessigsäuren Dioxine als Verunreinigungen für die Zuwachsraten von STS mitverantwortlich sind.

Chlorphenole und Chlorphenoxyessigsäuren mit Dioxin-Verunreinigungen

Einige epidemiologische Studien zur Häufigkeit des Weichteilsarkoms nach Exposition gegenüber Chlorphenolen und Phenoxyessigsäuren wurden an Arbeitern aus verschiedenen Berufszweigen in Schweden durchgeführt (z.B. Forstwirtschaft, Landwirtschaft, Malergewerbe, Zimmerleute, Sägewerke) (z.B. Hardell und Sandstrom 1979, Eriksson et al. 1981, Hardell und Eriksson 1988, Eriksson et al. 1990). Diese Studien haben die berufliche Exposition gegenüber Chlorphenolen und Phenoxyessigsäuren anhand von Befragungen der betroffenen Personen gemessen.

Sämtliche Studien fanden eine Verbindung zwischen Exposition gegenüber Phenoxyessigsäuren und STS. In drei Studien fand sich auch ein Zusammenhang mit der Exposition gegenüber Chlorphenolen. In den ersten Studien wurde ein annähernd dreifach höheres STS-Risiko durch Exposition gegenüber diesen Chemikalien konstatiert.

Eriksson et al. (1990) berichten von einem 1,8 fachen Risikoanstieg für STS bei Exposition gegenüber Chlorphenolen oder Phenoxyessigsäuren. Bei separater Betrachtung der Expositionsrisiken für beide Chemikalien stellte sich heraus, daß für die erhöhte STS-Häufigkeit Dioxine als Verunreinigungen mitverantwortlich gewesen sein könnten. Sämtliche Chlorphenole sind herstellungsbedingt mit Dioxinen verunreinigt. Dieser Dioxingehalt könnte bewirkt haben, daß das Risiko bei hoher Exposition gegenüber Chlorphenolen in dieser Studie fünfmal so hoch war (RR = 5,25) wie im Normalfall. Nicht alle Phenoxyessigsäuren sind jedoch mit Dioxinen verschmutzt. Das Expositionsrisiko bei nicht verunreinigten Verbindungen war niedriger als für Chlorphenole und nicht signifikant. Dazu kommt, daß die Phenoxyessigsäure 2,4,5-T mit den giftigsten Dioxin-Kongeneren (TCDD) verunreinigt ist (z.B. bei "Agent Orange", s.u.). Wurde die Exposition gegenüber 2,4,5-T in die Berechnung nicht einbezogen, war das Krebsrisiko entsprechend geringer.

Eine kürzlich veröffentlichte Studie auf der Basis einer Kohorte aus 18919 Produktionsarbeitern und Arbeitern, die als "Sprayers" Chlor-Phenoxy-Herbizide (hauptsächlich 2,4-D, aber auch 2,4-DB, 2,4 DCP, 2,4 DP, 2,4,5-T, MCPA, MCPB und MCPP) versprüht hatten, erbrachte ein neunfaches Weichteilkrebs-Risiko für die Untergruppe der Sprayer, deren Exposition zwischen 10 und 19 Jahren zurücklag. (Saracchi et al. 1991)

Studien zur Dioxin-Exposition legen einen Zusammenhang mit einem erhöhten Risiko für STS nahe. So ergibt die Studie von Fingerhut et al (1991) einen signifikanten 9-fachen Mortalitätsanstieg durch STS in jener Gruppe von Arbeitern, die gegenüber Dioxinen mindestens 1 Jahr exponiert waren. Die Latenzeit lag bei 20 Jahren. Die Fallzahl war allerdings klein (3 Todesfälle bei 922 Personen). Eine Studie zur Krebsinzidenz im Anschluß an den Seveso-Unfall fand einen 2,3 fachen Anstieg der STS-Fälle nach einer Latenzeit von 10 Jahren (Bertazzi et al. 1993).

Vor allem die Ergebnisse schwedischer Studien legen nahe, daß bei Belastung durch Chorphenole und Phenoxyessigsäure mit erhöhter STS-Inzidenz zu rechnen ist.

Befunde zur Dioxinexposition und die jüngste schwedische Studie (Eriksson et al. 1990) lassen vermuten, daß dies teilweise an Dioxinverunreinigungen der Chemikalien liegt.

Die Autoren führen die Unstimmigkeiten mit anderen Studien jedenfalls auf die unterschiedlich starken Verunreinigungen dieser Chemikalien mit Dioxinen zurück.

Als Konsequenz aus dem wachsenden Beweismaterial für eine Verbindung zwischen diesen Chemikalien und STS und möglicherweise Non-Hodgkin-Lymphom (s.u.) wurde Pentachlorphenol in Schweden, der Schweiz, Deutschland und Dänemark verboten (Reigner et al. 1993). In Deutschland waren für das 1989 erfolgte Verbot der Chemikalie allerdings nicht das Berufskrebsrisiko, sondern Gesundheitsschäden der Allgemeinbevölkerung durch PCP in Holzschutzmitteln ausschlaggebend (Interessengemeinschaft der Holzschutzmittel geschädigten 1994). Außerdem hatte man

PCP als eine der Hauptquellen des Dioxineintrags aus der Chemikalienproduktion identifiziert (Umweltbundesamt 1992a, S. 460).

Die Ergebnisse aus den Studien zu dioxinverunreinigtem 2,4,5-T sind auch deswegen beunruhigend, weil Pilotstudien in Vietnam bereits eine hohe Belastung von Einzelpersonen mit 2,3,7,8-TCDD (Dioxin) ergeben haben, das in dem Agent-Orange-Herbizid (2,4,5-T) enthalten war. Epidemiologische Studien zum damit verbundenen Krebsrisiko als Langzeitfolge des US-Krieges in Vietnam befinden sich in Vorbereitung (Phuong et al. 1989; Phiet et al. 1989).

 

3.6 Lymphknotenkrebs (Non Hodgkin Lymphom)

Non Hodgkin Lymphom (NHL) ist ein Krebs des lymphatischen Systems.

Epidemiologische Studien bei Bauern und landwirtschaftlichen Arbeitern legen einen engen Zusammenhang zwischen Exposition gegenüber Phenoxyessigsäure-Herbiziden und NHL nahe. Der Zusammenhang besteht nicht nur mit 2,4,5-T, die in Deutschland zusammen mit Trichlorphenol bei Boehringer-Ingelheim in Hamburg bis 1983 produziert wurde, sondern auch und insbesondere für 2,4-D.

 

2,4-D (2,4-Dichlorphenoxyessigsäure)

Obwohl bei 2,4-D nicht die extrem hohe Dioxinbelastung durch die Herstellung (Abfälle) und durch Verunreinigungen des fertigen Produkts wie bei 2,4,5-T besteht, birgt die Dichlorphenoxyessigsäure große Gesundheitsgefahren in sich. Aus importiertem 2,4-Dichlorphenol werden hierzulande die Herbizide 2,4-D (BASF) und seine Verwandten Dichlorprop (BASF) und Diclofop-methyl (Hoechst) in großem Umfang produziert, angewendet und exportiert. Dazu kommen große Mengen von chemisch ähnlichen Pestiziden wie MCPA (Bayer, BASF), MCPP (Bayer, BASF), Omethoat (Bayer) sowie Metazachlor (BASF). (Umweltbundesamt 1992b, S. 165-192).

Die NHL-Studien fanden das erhöhte Erkrankungsrisiko folglich nicht zufällig in der Landwirtschaft oder in stark pestizidbelasteten Agrargebieten (z.B. Cantor 1982, Burmeister et al. 1983, Buesching und Wollstadt 1984). Cantor (1982) führt die erhöhte Rate an Non-Hodgkin-Lymphomen in Wisconsin hauptsächlich auf 2,4-D zurück.

In Fall-Kontroll-Studien konnte eine Arbeitsgruppe (Cantor et al. 1985) anhand der Daten von 1822 verstorbenen Bauern aus Iowa und Minnesota eine signifikante Häufung an kleinzelligen Non-Hodkin-Lymphomen nachweisen, wenn eine Exposition gegenüber Lindan (OR 1,9), 2,4-5-T (OR 1,9), Atrazin (OR 1,6) vorlag. Ebenso konnte sie den Zusammenhang zwischen allen Typen des Non-Hodgkin-Lymphoms und diversen Pestiziden wie Chloramben (OR 2,2), PCP (OR 1,6) oder DDT (OR 1,5) sichern.

Cantor et al. (1992) haben eine weitere Fall-Kontroll-Studie zum Vorkommen von 622 Non-Hodgkin-Lymphomen in Iowa und Minnesota vorgelegt. Deren Resultat war ein auf das 1,5-fache und mehr erhöhtes Risiko beim persönlichen Umgang, Mischen und Anwenden von chlororganischen Pestiziden. Bei den Stoffen fanden sich Chlordan, DDT, Toxaphen (in Deutschland verboten) sowie Dichlorvos und Lindan (in Deutschland zugelassen).

Auf der Basis von 442 Fällen von NHL bei landwirtschaftlichen Arbeitern in Kansas konnten Hoar et al. (1986) das Herbizid 2,4-D als verursachenden Stoff mit großer Wahrscheinlichkeit nachweisen. Die Abhängigkeit des Risikos von Grad und Dauer der Herbizid-Exposition war signifikant. Mit STS bestand hier keine Verbindung. Aber Männer, die den Herbiziden mehr als 20 Tage im Jahr ausgesetzt waren, wiesen einen 6-fachen Anstieg des NHL-Risikos auf (OR = 6,0). Dieses Ergebnis wurde in einer Folgestudie in Ost-Nebraska erhärtet (Hoar-Zahm et al. 1990). Unter den Männern, die 2,4-D mischten und anwandten, war die Rate an Non-Hodgkin-Lymphomen um 50% erhöht, und sie stieg auf das Dreifache bei solchen Personen, die mehr als 20 Tage pro Jahr gegenüber 2,4-D exponiert waren. Dieses Phenoxyessigsäure-Herbizid (2,4-D) enthielt keine nachweisbaren Mengen der eindeutig hochkarzinogenen Dioxin-Kongenere TCDD. Allerdings konnte es mit anderen, weniger stark toxischen Dioxin-Kongeneren kontaminiert sein.

In einer neueren Studie konnte die italienische Arbeitsgrupppe um Paolo Vineis (1991) ihren Verdacht bestätigen, daß in Arealen mit hoher Belastung durch Phenoxy-Herbizide das Risiko für Lymphknotenkrebs des Non-Hodgkin-Typs erheblich erhöht ist. Sie fanden eine eindeutige Dosis-Wirkung-Beziehung. Auch Wigle et al. (1990) haben in einer Studie an 70 000 kanadischen Farmern in Saskatchewan einen 2,2-fachen Zuwachs der NHL-Mortalität bei Personen festgestellt, die 2,4-D ausgesetzt waren. Allerdings sind für die NHL-Erkrankungen auch andere chlororganische Pestizide mitverantwortlich.

Fazit: Die hohe Evidenz für die kanzerogene Eigenschaft des 2,4-D macht seine toxikologische Fehlklassifikation durch die deutsche MAK-Werte-Kommission, die den Stoff nicht einmal als "mit begründetem Verdacht auf krebserzeugendes Potential" einstuft, immer deutlicher (DFG 1994a, S. 41). Als Folge der neuen Erkenntnisse über 2,4-D wird in Schweden seit 1991 die Anwendung dieses Herbizids nicht mehr gestattet.

 

3.7 Aplastische Anämie

Aplastische Anämie wird als Vorstadium von Krebs betrachtet, das bestimmte weiße Blutzellen und folglich die Funktion des Immunsystems angreift. Der Zusammenhang zwischen aplastischer Anämie und vorausgehender Exposition gegenüber industriellen Chemikalien ist seit langem bekannt, wobei in den meisten Fällen keine Einzel-Chemikalien als Ursache vermutet wurden.

Eine Zusammenschau der bis 1993 verfügbaren Literatur zeigte, daß 280 berichtete Fälle von aplastischer Anämie in Verbindung mit Pestizid-Exposition gebracht wurden (Fleming und Timmeny 1993).

Bezüglich der Exposition gegenüber spezifisch chlororganischen Chemikalien wurde jüngst in einigen Fallstudien bemerkt, daß aplastische Anämie in Verbindung mit Exposition gegenüber Lindan

(γ-Hexachlorcyclohexan/ -HCH) oder Pentachlorphenol nach Anwendung von Holzschutzmitteln in der Wohnung und nach beruflicher Exposition steht (z.B. Rugman und Cosstick 1990; Brahams 1992; Brahams 1994).

 

Lindan und PCP

Lindan, das im Unterschied zu PCP in Deutschland noch erlaubt ist, führt bei Tieren zu Krebs. Der WHO-Report läßt die Bewertung einer solchen Chemikalie auch als für den Menschen "krebsverdächtig" zu (Rugman und Cosstick 1990). Obwohl es keine epidemiologischen Studien zur Exposition gegenüber Chlororganika und aplastischer Anämie gibt, legen individuelle Fallstudien nahe, daß aplastische Anämie durch Lindan-Exposition verursacht werden kann.

 

3.8 Blasen- und Mastdarmkrebs

Blasenkrebs ist überdurchschnittlich stark unter Chemiearbeitern verbreitet, die mit Farbstoffvorprodukten aus aromatischen Aminen zu tun hatten und über das Gefährdungspotential nicht ausreichend informiert worden waren.

 

4-Chlor-ortho-Toluidin

So erkrankten von 1967 bis 1985 in einer kleinen Produktionsabteilung des Stammwerks der Hoechst AG, wo das chlorhaltige Amin "4-Chlor-ortho-Toluidin" hergestellt wurde, acht Personen an Harnblasenkrebs (Stasik 1988). Die Exposition gegenüber diesem Stoff erhöhte das Risiko, an Blasenkrebs zu erkranken, um das 73-fache, verglichen mit der auf der Basis der Allgemeinbevölkerung zu erwartenden Erkrankungsrate. 1992 war die Zahl der Blasenkrebsfälle aus dieser mittlerweile eingestellten Produktion auf zwölf angestiegen (Hien 1994, 244-252; Arbeit&Ökologie-Briefe 6/1993).

Trinkwasserchlorungsprodukte & Badewasserchlorungsprodukte Einigen neueren Studien zufolge sind jedoch nicht nur Chemiearbeiter von Blasenkrebsrisiken betroffen. Auch die Allgemeinbevölkerung unterliegt einem -wenn auch vergleichsweise geringfügigeren- Risiko für Blasen- und Mastdarmkrebs durch Chlororganika.

Chlor und das chlorabspaltende Hypochlorit wird z.T. dem Trinkwasser und Badewasser in Badeanstalten als Desinfektionsmittel zugesetzt, um Infektionskrankheiten vorzubeugen. Diese Gesundheitsschutzmaßnahme hat sich gegenüber weitverbreiteten Erkrankungen zweifellos als sehr erfolgreich erwiesen. 1974 wurde jedoch entdeckt, daß die Chlorung von Wasser zur Bildung vieler flüchtiger chlororganischer Verbindungen führt, die durch Reaktion von Chlor mit organischem Material im Wasser entstehen. Die meisten der bekannten Nebenprodukte sind sogenannte Trihalomethane (THM) einschließlich Chloroform, das bei Tieren eindeutig Krebs verursacht sowie die allergenen Chloramine (Eisenbrand 1994, 95). Chemische Analysen gechlorter Wasserproben haben seitdem Hunderte weiterer nichtflüchtiger chlorierter Substanzen aufgespürt, die nur in Spurenkonzentrationen (< 1 ppb) weit unterhalb des THM-Pegels vorkommen, aber ebenfalls toxisch sind.

Extrakte chlorierter Nebenprodukte aus dem Trinkwasser zeigten sich in einer Vielzahl von in vitro-Tests mit Bakterien-, Nagetier- und Humanzellen als gentoxisch (Wilcox und Williamson 1986).

In den vergangenen 20 Jahren seit der Entdeckung der THMs im Trinkwasser wurden viele epidemiologische Studien mit dem Untersuchungsziel durchgeführt, ob beim Menschen ein erhöhtes Krebsrisiko durch Nebenprodukte der Trinkwasserchlorung besteht (Zieler et al. 1988, Cantor 1994).

Positive Befunde aus solchen Studien legen einen Zusammenhang zwischen Trinkwasserchlorung und erhöhtem Risiko für Krebs der Blase, des Dickdarms und des Mastdarms nahe (Cantor 1994). Die Studien nehmen Vergleiche vor zwischen Krebsmorbiditäts- und Krebsmortalitätsraten in Gebieten vor in denen einerseits gechlortes Oberflächenwasser und andererseits ungechlortes Grundwasser für die Trinkwasserversorgung benutzt wurde. Diese und andere Studien stimmten in der Aufdeckung eines, wenn auch nur geringfügig erhöhten Risikos für Blasen-, Dickdarm-

und Mastdarmkrebs überein.

Neue Fall-Kontroll-Studien legen stärker belastbare Daten zugrunde (Interviews statt Totenschein-Auswertung). Damit konnte die Lebenszeitexposition der Betroffenen gegenüber gechlortem Wasser präziser festgestellt werden (z.B. Cantor et al. 1987, McGeehin et al. 1993). Diese Studien fanden ebenfalls ein erhöhtes Blasenkrebsrisiko bei Langzeitexposition gegenüber gechlortem Trinkwasser. Nach Cantor (1994) legen die toxikologischen und epidemiologischen Daten ein relatives Risiko von 1,5 bis 2 für Blasen- und Mastdarmkrebs nahe.

Welche chlorierten Nebenprodukte im Wasser für das erhöhte Krebsrisiko verantwortlich sind, ist noch nicht geklärt. Die IARC führt in ihrer Zusammenstellung krebserzeugender Stoffe allgemein "Trinkwasserchlorierungsprodukte" auf (vgl. Tabelle 5). Neue Tier-Studien legen nahe, daß die organischen Nebenprodukte der Wasserchlorung, die THMs, von größter Bedeutung sind (Dunnick und Melnick 1993).

Allerdings wächst auch die Evidenz, daß nichtflüchtige chlorierte Nebenprodukte kanzerogen und für den Hauptteil der Toxizität verantwortlich sind (Cantor 1994). Die Europäische Gemeinschaft hat schon 1980 eine Trinkwasser-Richtlinie verabschiedet, die einen Höchstwert für die leichtflüchtigen Organohalogene von 1 Mikrogramm pro Liter vorsieht. Damals betrug der Durchschnittswert für 50 deutsche Städte noch 12 Mikrogamm pro Liter (Koch 1984, S. 261). Erst 1989 wurde in Deutschland, wo die Hälfte des Trinkwasser gechlort wird, die EG-Richtlinie umgesetzt. Allerdings wurde der Höchstwert für organische Chlorverbindungen durch die Trinkwasserverordnung nicht auf 1, sondern auf 3 Mikrogramm pro Liter festgelegt. Mögliche Alternativen zur Trinkwasserchlorung wie Ozon- oder UV-Behandlung wurden u.a. in Deutschland erfolgreich geprüft. Einige Städte in den USA und in Europa setzen diese Alternativverfahren schon ein.

In gechlortem Badewasser entstehen bedenkliche Trihalomethane wie Chloroform. Im Blut von Vielschwimmern wurde Chloroform in stark erhöhter Konzentration nachgewiesen. Die Trihalomethane stellen demnach zumindest für Vielschwimmer, Bademeister u.a. Personen mit erhöhter Exposition ein erhöhtes Gesundheitsrisiko dar.

Auch für die Chlorung des Badewassers stehen Alternativverfahren bzw. Methoden zur Reduktion des Chlorbedarfs wie Ozonbehandlung und Aktivkohlefilterung zur Verfügung. Eine als Entwurf existierende "Verordnung über Schwimm- und Badebeckenwasser", die Richtwerte für die Chlorungsnebenprodukte vorschreiben soll, wartet seit Jahren auf ihre Verabschiedung durch die Bundesregierung.

 

3.9 Allgemeine Krebsmorbidität

 

Dioxine

Daß Dioxine (TCDD) bei Tieren Krebs verursachen, gilt als bewiesen. Neue epidemiologische Studien haben auch gezeigt, daß Dioxinexposition in eindeutigem Zusammenhang mit erhöhter Mortalität durch sämtliche Krebsformen steht (Zober et al. 1990, Manz et al. 1991, Fingerhut et al. 1991). Diese Studien untersuchten die Krebsmortalität von Arbeitern, die beruflich Dioxinen ausgesetzt waren. Manz et al. (1991) studierten eine Gruppe von 1583 Arbeitern, die durch ihre Beschäftigung in einer deutschen Herbizid-Fabrik (2,4,5-Trichlorphenol-Produktion bei Boehringer-Ingelheim, Werk Hamburg) Dioxin ausgesetzt waren. Die Krebssterblichkeit war bei Männern mit 20 oder mehr Beschäftigungsjahren in der Fabrik 1,8 Mal größer als bei nichtexponierten Arbeitern (Standardisierte Mortalitäts-Rate SMR = 1,82). Arbeiter, die schon vor 1955 beschäftigt und sehr hohen Dioxinkonzentrationen ausgesetzt waren, wiesen, wenn sie ebenfalls mindestens 20 Jahre im Betrieb waren, ein noch größeres Krebsmortalitätsrisiko auf (SMR = 2,24).

Die Studie von Zober et al. (1990) untersuchte die Krebsmortalität bei 247 Arbeitern, die nach einem 1954 erfolgten Unfall bei der BASF in Ludwigshafen (2,4,5-Trichlorphenol-Produktion) mit sehr großen Dioxinmengen belastet worden waren. Bei aller Kritikwürdigkeit dieser im Auftrag der BASF durchgeführten Studie (vgl. Hien 1994, 398-409) mußte auch sie bei hochgradig Dioxin-exponierten Arbeitern einen signifikanten Zuwachs der Krebs-Gesamtsterblichkeit 20 oder mehr Jahre nach der Exposition zugeben (SMR = 2,01).

Fingerhuts schon mehrfach zitierte Untersuchung von 5 172 Arbeitern in den USA, die Dioxin-kontaminierte Chemikalien produzierten, stellte unter Berücksichtigung einer Mindestlatenzzeit von

20 Jahren eine signifikant erhöhte Sterblichkeit an malignen Erkrankungen (SMR = 1,46) fest (Fingerhut et al. 1991).

Trotz dieser epidemiologischen Beweise und des 1994 von der US-EPA überzeugend dargelegten "Dioxin-Reassessments" haben weder die IARC noch die deutsche MAK-Werte-Kommission Dioxine (TCDD) bisher als humankanzerogen, sondern nur "im Tierversuch ... eindeutig als krebserzeugend erwiesen" eingestuft (DFG 1994a, S. 95).

Feuerwehrleuten, die bei Löscharbeiten in einem Kraftwerk diesen Chemikalien ausgesetzt gewesen waren, zeigte Gedächtnischwäche und niedrigere Punktwerte bei kognitiven (Intelligenz-)Tests.

Bei den Unfällen in Yusho und Yu-Cheng, wo PCB- und dioxinverseuchter Reis verzehrt wurde, fanden sich Anzeichen von Nervenschäden bei einigen exponierten Erwachsenen. Die Nervenschäden waren durch Verlangsamung der Übertragung von Nervensignalen in das periphere Nervensystem gekennzeichnet (Seegal und Shain 1992).

Nicht immer werden schwerflüchtige chlororganische Verbindungen, die wegen ihres niedrigen Dampfdrucks gewöhnlich nicht zu hohen Luftkonzentrationen führen, auf dem Nahrungsweg aufgenommen. Besonders in Innenräumen können sich auch schwerflüchtige Verbindungen in der Atemluft so stark aufkonzentrieren, dass neurotoxische Effekte möglich sind, insbesonder dann, wenn Personen gegenüber solchen Stoffen langzeitexponiert sind. Das ist häufig in Wohnräumen oder Büros der Fall (Sick building syndrom etc.).

 

Hexachlorcyclohexan (HCH)

Belastende Luftkonzentrationen durch schwerflüchtige Verbindungen sind mitunter auch an industriellen Arbeitsplätzen anzutreffen. Während frühere Studien bei chronischer Niedrigdosis-Exposition keine Auswirkungen auf das Nervensystem gefunden hatten (Baumann et al. 1981), stieß eine neuere Studie zu 356 Arbeitern, die in einer indischen Fabrik HCH verarbeiteten, auf neurologische Symptome (Nigam et al. 1993). Die Belastung wurde durch Blutproben von HCH (α-HCH und β-HCH) bestimmt. Unter den Arbeitern wurden verschiedene Symptome gefunden, vor allem erhöhte Fälle von Kopfschmerzen, Schwindel und Übelkeit. Auch fanden sich bei einigen Arbeitern EEG-Abnormalitäten, die Störungen in den Gehirnfunktionen anzeigen. Diese neurologischen Symptome wurden mit der Intensität der HCH-Exposition der Arbeiter in Beziehung gesetzt und die HCH-Exposition als offenkundige Ursache erkannt.

PCP und Lindan in Holzschutzmitteln

Jene Symptome, nämlich eine Anhäufung relativ unspezifischer subjektiver Befindlichkeitsstörungen, wurden auch beim deutschen Holzschutzmittel-Skandal als Hauptwirkung von Langzeitexposition im Niedrigdosisbereich durch PCP und Lindan diagnostiziert. Sie wurden auch als "Holzschutzmittelsyndrom" bezeichnet. Nach einer Schadensdokumentation der "Interessengemeinschaft Holzschutzmittel-Geschädigter" haben sich mindestens 10 000 Personen in ihren Wohnungen durch das Einatmen langsam ausgasender Holzschutzmittel, die sie zum Teil selber in den siebziger und achtziger Jahren verstrichen hatten, in dieser Art vergiftet. Von betroffenen Patienten wurden in einer Stichprobe (Jüdt-Duve/Duve 1993, S. 85 ff.) am häufigsten

Konzentration-/Schlaf-/Merkfähigkeitsstörungen, depressive Stimmungslage, Schwitzen und Ermüdbarkeit genannt.

Diese Befunde decken sich mit einer Fall-Kontrollstudie an der Universitäts-Frauenklinik Heidelberg, bei der 15 Holzschutzmittel-Exponierte mit einem Mittelwert von 48,3 Mikrogramm PCP im Liter Blutserum und einer mittleren Expositionsdauer von 11 Jahren einer gleichgroßen Kontrollgruppe ohne Belastung gegenübergestellt wurden (Ertl o.J., S. 30). Es wurden folgende Vergleichswerte zwischen beiden Gruppen festgestellt: Erschöpfung (87% gegenüber 15%), Müdigkeit (87% gegenüber 33%), Schlafstörungen (80% gegenüber 15%), Energielosigkeit (67% gegenüber 25%), Libidostörungen (66% zu 0%), Reizbarkeit (60% zu 31%), Antriebslosigkeit (13% zu 0%).

Der Hamburger Mediziner Fabig (1992) dignostizierte bei Holzschutzmittel-Geschädigten mithilfe eines radiologischen Untersuchungsverfahrens eine Veringerung des "regionalen cerebralen Blutflusses", die er mit der Belastung durch PCP, Lindan, Dioxinen und organischen Lösemitteln in Verbindung brachte. Veränderte regionale Hirnstromaktivität stellte der Schleswiger Neurologe Lohmann (1989) mithilfe einer EEG-Weiterentwicklung (brain mapping) fest.

Außer Befindlichkeitsstörungen (Leistungsminderung, Konzentrationsschwäche usw.) diagnostizierten Huber et al. (1990) auch Immunstörungen bei pathologisch belasteten Probanden (PCP-Wert

im Blut über 20 Mikrogramm/Liter). Dies liegt aufgrund der Wechselwirkungen zwischen Nervensystem und Immunsystem nahe (Reichert 1990, S.260).

 

Perchlorethylen

Neben etwa 5 000 Tonnen für Chemische Reinigungen geht heute die Hauptmasse der inländischen Anwendung von Perchlorethylen (Per) in die Metallindustrie zur Metallentfettung. Ca. 20 000 Tonnen Per werden jährlich als Ersatz für verflüchtigtes Lösemittel eingesetzt bzw. emittiert. Nachdem ein teilweiser Umstellungsprozeß auf wäßrige Verfahren mittlerweile weitgehend abgeschlossen ist, dürfte sich der Jahresbedarf auf diesem Niveau einpendeln, wobei die verbleibende Anwendung (Feinstreinigung) tendenziell nur noch in emissionsarmen Anlagen geschieht

(Leisewitz/Schwarz 1994).

Weder solche modernen Anlagen noch die Einhaltung der zulässigen MAK- und BAT-Werte bieten jedoch für die Arbeitsplätze in der näheren betrieblichen Umgebung absolute Sicherheit vor PER-bedingten Beschwerden, wie ein Fallbericht aus einer süddeutschen Fabrik für elektronische Schaltungen zeigt (Seeger 1991). Trotz Unterschreitung des MAK-Wertes von 50 ppm (=345 mg/m3) durch Meßwerte zwischen,je nach Abstand von der Waschanlage, 5 und 15 ppm klagten die Arbeiter in der Stanzerei immer wieder über Kopfschmerzen, Rötung der Augen und der Haut, Probleme mit den Atemwegen, vereinzelt Nasenbluten, Magen beschwerden und Müdigkeit. Auch der BAT-Wert, der bei 1000 Mikrogramm pro Liter Blut lag, wurde nicht überschritten: Während die Referenzbelastung der Gesamtbevölkerung unter 1 Mikrogramm im Liter Blut betrug, die bei Beschäftigen in anderen Produktionsräumen des gleichen Betriebs (0,5 Mikrogramm/l) auch gemessen wurde, fanden sich bei den über neurologische Symptome klagenden Arbeitern im Umfeld von 15 Metern Entfernung von der neuen PER-Reinigungsanlage Konzentrationswerte

zwischen 400 und 720 Mikrogramm/Liter. Daß es sich bei den in Metallbetrieben mit PER-Reinigungsanlagen auftretenden subjektiven Befindlichkeitsstörungen um typische neurotoxische Effekte des Lösemittels Perchlorethylen handelt, belegte eine Untersuchung von Böttger (1989) an 45 Chemisch-Reinigern. Die Studie entstand im Zusammenhang mit der seit 1987 in der Öffentlichkeit geführten Diskussion um Wohnraumbelastungen in der Nachbarschaft Chemischer Reinigungen. (Bis 1990 waren bei über 2000 Messungen in verschiedenen deutschen Großstädten in Abhängigkeit von der Entfernung zum Reinigungsraum Blutwerte bei der Wohnbevölkerung bis zu 100 Mikrogramm PER pro Liter und PER-Konzentrationen in fetthaltigen Lebensmitteln bis zu 100 Milligramm

pro Kilogramm - u.a. in Butter und Speiseeis - gemessen worden).

Die von Böttger zusammengestellte Gruppe von 45 Chemisch-Reinigern aus Düsseldorf klagte signifikant häufiger über gesundheitliche Beschwerden als eine durch PER nicht belastete

Referenzgruppe von 106 Personen. Das galt u.a. für abnorme Müdigkeit, Gedächtnisstörungen, Konzentrationsschwäche, Nervosität, Sprachstörungen, Schweißausbrüche, Völlegefühl.

Zugleich wurden innerhalb der Reinigergruppe auf der Basis regelmäßiger Blutmessungen signifikante Unterschiede in der Klagehäufigkeit von Reinigern mit höheren PER-Blutwerten

gegenüber geringer blutbelasteten Reinigern deutlich. Die Blutkonzentrationen der 45 Reiniger stieg übrigens von montags bis freitags kontinuierlich an (von ca. 150 Mikrogramm/l auf 415

Mikrogramm/l). Die immer noch hohen Eingangsblutwerte am folgenden Montag zeigten, dass ein expositionsfreies Wochenende nicht ausreicht, um das aufgenommene PER in ausreichendem Maß aus dem Körper wieder zu entfernen. Der Vorsorgerichtwert pro Kubikmeter Innenraumluft ist 1990 für Wohnungen auf 0,1 Milligramm pro Kubikmeter gesenkt worden (der MAK-Wert blieb bei 345 Milligramm pro Kubikmeter!), und für Lebensmittel wurde ein PER-Höchstgehalt von 0,1 Milligramm pro Kilogramm festgelegt (Kommunale Briefe für Ökologie 22/1990). Die  Immissionsschutzauflagen für Chemisch-Reinigungen wurden inzwischen zwar drastisch verschärft. Dennoch zeigten sich die Gesundheitsexperten der Stadt Frankfurt am Main nach einer Kontroll-

untersuchung 1992 skeptisch, ob durch verbesserte Reinigungstechnik die PER-Belastung der Anwohner ausreichend gesenkt werden könne, weil auch die Neuanlagen zu 81% die zulässigen Immissionswerte überschritten (Stadt Frankfurt 1992).

 

Trichlorethylen

Die Toxizität von TRI, das heute in der Metallentfettung und in Gummiklebstoffen (Schwarz/Leisewitz 1994) im Umfang von etwa 10 000 Tonnen jährlich eingesetzt wird, beruht auf den physiologischen Wirkungen auf das Zentralnervensystem, hauptsächlich in der Depression der Funktionen des ZNS nach akuten toxischen Einwirkungen. Wie 1,1,1-Trichlorethan wird es von Schnüfflern gern eingeatmet, weil es einen euphorischen Zustand, der zur Sucht führen kann, erzeugt.

Barett et al. (1984) fanden einschlägige Symptome wie Benommenheit, Kopfschmerz und Müdigkeit bei einer Untersuchung von 188 Arbeitern mit TRI-Exposition (Durchschnittsalter 41 Jahre, durchschnittliche Expositionsdauer 7 Jahre). Die Befunde waren sämtlich statistisch signifikant. Eine epidemiologische Studie von Bowler et al. (1991) konstatierte bei 180 ehemaligen Arbeiterinnen der Mikroelektronikindustrie gegenüber einer Vergleichsgruppe signifikant geringere Leistungen bei Aufmerksamkeit, Konzentration, kognitiver Flexibilität, Gedächtnisfunktion und visuomotorischer Beweglichkeit.

Trichlorethylen schädigt das Axon (die Verbindungsleitung) der Nervenzellen, im Sinne eines "chemischen Abschneidens" der Verbindung (Eisenbrand 1994, 85).

 

1.1.1-Trichlorethan

Das ozonschichtschädigende, aber angeblich humantoxisch harmlose Lösemittel (z.B. in Tipp-ex-Verdünner) war vor seinem Verbot (1990) als leichtes Rauschmittel beliebt, weil es in höheren Dosen narkotische und Rausch-Wirkung entfaltet. Drei Todesfälle innerhalb 6 Monaten in Schottland (Mac Dougall et al. 1987) haben zu vermehrter Vorsicht gegenüber diesem Lösemittel geführt (Frentzel-Beyme/Domizlaff, S. 155).

 

Methylenchlorid (Dichlormethan)

Das unter Krebsverdacht stehende Methylenchlorid wurde Anfang der 90er Jahre im Umfang von weit über 10 000 Tonnen in offenen Anlagen und Anwendungsformen eingesetzt: bei der professionellen Metall- und Holzentlackung, als Abbeizmittel für Lacke im Heimwerkerbereich, als Löse- und Treibmittel in Insektensprays oder Sprays für Kfz-Werkstätten und (mit 700 Tonnen) bei der Folienbeschichtung von PVC-Fenstern (Schwarz/Leisewitz 1994).

Zentralnervöse Depression (Benommenheit, Müdigkeit, Augenirritation, Reizhusten) traten bei einem Schreiner auf, der 2 1/2 Jahre lang Methylenchlorid zum Abbeizen von Möbeln verwendet hatte (Shusterman et al 1990). Arbeitsplatzmessungen ergaben eine Konzentration von 350 ppm, der Schreiner trug allerdings Schutzbrille und Atemgerät. Die Symptome ließen jeweils an Wochenenden und im Urlaub nach. Nach Verbesserung der Atemschutz einrichtung (häufigeres Wechseln der Gaspatronen) fielen die Symptome weg. Bedeutsam sind die Befunde einer Kopplung von Kohlenmonoxid aus dem oxidativen Abbau von Methylen chlorid an Hämoglobin (Frentzel-Beyme/Domizlaff, S. 35). Letzteres stimmt mit früheren in-vitro-Studien (Ahmed et al. 1977) überein, denen zufolge die Bioatransformation des Methylenchlorids zu Kohlenmonoxid den Sauerstofftransport des Blutes behindert und somit eine akut-toxische Wirkung hervorruft. Daher ist für  Methylenchlorid ein BAT-Wert von 5% Carboxyhämoglobin im Blut festgelegt (DFG 1994a, S. 143).

 

4.2 Immuntoxizität

Das Immunsystem besteht aus einem Netzwerk spezialisierter Zellen, die im Körper auf Fremdsubstanzen reagieren, um Infektionen und Erkrankungen zu verhüten. Einige chlororganische Chemikalien sind gegenüber diesem Abwehrsystem toxisch. Die wichtigsten toxischen Effekten sind:

- Rückgang bestimmter Zellen des Immunsystems, so daß die Resistenz gegenüber Infekten und Tumoren nachläßt

- Auslösung einer Immunantwort, z.B. durch Zunahme von Zellen des Immunsystems und in Folge Autoimmun-Erkrankungen und Allergien. Charakteristisch für Immunreaktionen ist das praktische Fehlen einer Dosis-Wirkungsbeziehung, da bei einer erfolgten Sensibilisierung schon kleinste Mengen des Allergens zu einer vollen Immunantwort führen können.

- Unterdrückung der Immunreaktion (Immunsuppression).

In Tierversuchen erwiesen sich viele chlororganische Verbindungen als immuntoxisch (vgl. Tabelle 6). Auch in epidemiologischen Studien wurde ein Zusammenhang zwischen einigen dieser Chemikalien und der Immuntoxizität bei Erwachsenen gefunden. Der Mensch in seiner frühen Entwicklungsphase scheint gegenüber den immuntoxischen Effekten durch chlororganische Exposition besonders empfindlich sein.

Tabelle 6: Im Tierversuch als immuntoxisch erwiesene chlororganische Verbindungen

 PCBs

 DDT

 Dieldrin

 Dioxine

 Hexachlorcyclohexane

 Hexachlorbenzol

 Chlordan

 Pentachlorphenol

Quellen: Safe 1994, Thomas 1990, McConnachie et al. 1991 und 1992.

 

Chlordan und Pentachlorphenol

Chlordan ist wie andere chlororganische Chemikalien lipophil und wird daher im Körperfett gespeichert. Es kann aber auch in das Knochenmark eindringen. Viele Zellen des Immunsystems entstehen im Knochenmark und sind folglich gegenüber eventuell vorhandenem Chlordan exponiert, bevor sie reif sind und ins Blut und das lymphatische System übergehen (McConnachie et al. 1992). Das kann die Zellen des Immunsystems schädigen.

Fallberichten zufolge sind bei Personen nach häuslicher Anwendung von PCP-haltigen Holzschutzmitteln und dem Einsatz von Chlordan gegen Termiten bei verschiedenen Zellen des Immunsystems Konzentrationsveränderungen aufgetreten. Eine Studie zu den Auswirkungen auf das Immunsystem führte Chlordan bei 23 Personen an, die in ihren Wohnungen, und 4 Personen, die am Arbeitsplatz exponiert waren (McConnachie et al. 1992). Die Expositionsdauer reichte von drei Tagen bis zu 15 Monaten. Es wurden statistisch signifikante Veränderungen des Immunsystems bei Personen angetroffen, die gegenüber Chlordan 2 bis 10 Jahre vorher exponiert gewesen waren. Das ist erklärlich, weil Chlordan, wie andere Chlororganika auch, in den Fettdepots des Körpers

(einschließlich dem Knochenmark) über sehr lange Zeiträume persistiert.

Eine Studie zu immunologischen Auswirkungen nach PCP-Exposition in Innenräumen wurde bei 38 Personen durchgeführt, die vorher in Holzschutzmittel-behandelten Blockhäusern gewohnt hatten (McConnachie et al. 1991). Die 2 bis 9 Jahre nach Expositionsbeginn durchgeführten Tests zeigten signifikante Veränderungen bei einigen Zelltypen des Immunsystems. Sämtliche Personen in dieser Studie wiesen erhöhte Fallzahlen von Erkältungs- und grippeähnlichen Krankheiten auf. Außerdem berichten sie über zahlreiche Beschwerden wie Übelkeit, Schwindel, Allergien (bei Kindern),

Hautausschläge und Kopfschmerzen. Die Studie schlußfolgert, daß diese Erkrankungen und Symptome nach immunologischen Labortests zu erwarten waren, die Veränderungen bei bestimmten Zellen des Immunsystems gezeigt hatten. Die Resultate stimmen auch mit zahlreichen Befunden im Zusammenhang mit dem deutschen Holzschutzmittel-Prozeß überein (u.a. Karmaus 1990; Jüdt-Duve/Jüdt 1993, S. 66 ff.;. Gerhard et al. 1993). So berichten Gerhard et al. von vermehrter Anfälligkeit "gegenüber bakteriellen, viralen und mykotischen Infektionen" bei Frauen mit erhöhtem

PCP- und Lindan-Gehalt im Blut.

 

PCB’s und Dioxine

PCB’s und Dioxine erweisen sich im Tierversuch als immuntoxisch, d.h. vor allem als immunsuppressiv. Epidemiologische Studien nach den Unfällen von Yusho und Yu-Cheng in Japan und Taiwan ergaben signifikante Verringerungen einiger Zelltypen des Immunsystems und eine Zunahme von Bronchitis bei exponierten Personen. Veränderungen einiger Zelltypen des Immunsystems werden auch bei Bewohnern bei Times Beach, Missouri, berichtet, die potentiell Dioxinen (TCDD) ausgesetzt waren, obwohl diese Veränderungen im allgemeinen nicht signifikant waren (zusammengestellt

bei Margolick und Vogt 1991). Auch bei einer 1973 in Michigan/USA vorgefallenen monatelangen Belastung von Menschen mit PBB (Polybromierte Biphenyle) wurden eindeutige Störungen des Immunsystems beobachtet (Eisenbrand 1994, 95).

Eine Follow-up-Studie bei Arbeitern in Deutschland, die mit hohen Dioxinkonzentrationen (TCDD) nach einem Unfall bei der BASF belastet worden waren (Zober et al. 1990), zeigte, daß Arbeiter unter längeren Krankheitsepisoden litten, einschließlich eines signifikanten Zuwachses von infektiösen und parasitären Erkrankungen sowie von Infekten der oberen Atemwege. Diese Ergebnisse

entsprachen der verringerten Widerstandskraft gegenüber Infektionen infolge immuntoxischer Effekte.

Der Verzehr von fettem Fisch aus der Ostsee ist eine potentielle Quelle menschlicher Exposition gegenüber chlororganischen Verbindungen einschließlich Dioxinen und PCBs. Eine schwedische Studie untersuchte 23 Männer mit hohem Fischkonsum und eine Kontrollgruppe aus 20 Männern mit praktisch keinem Fischkonsum (Svensson et al. 1993). Hoher Fischverzehr stand in Verbindung mit einer signifikanten Konzentrationsverringerung eines Zelltyps im Abwehrsystem, genannt Killerzellen. Bei anderen Zelltypen wurden keine Veränderungen gefunden. Natürliche Killerzellen

tragen vermutlich zur Abwehr von Viren und Krebs ebenso bei wie zur Steuerung von Funktionen anderer Abwehrzellen (Margolick und Vogt 1991; Thomas 1990).

DDT und Dieldrin erwiesen sich im Tierversuch ebenfalls als störend für das Immunsystem (Eisenbrand 1994, 96)

Zusammengefasst legen die angeführten Studien zu Chlordan und PCP einen Zusammenhang zwischen Exposition gegenüber diesen Verbindungen und toxischen Effekten auf das Immunsystem nahe, auch wenn weitere Studien für den Beleg der Aussage nötig sind, daß die Chemikalien das Abwehrsystem ursächlich geschädigt haben. Chlordan ist seit Jahren in Nordamerika (wie in Deutschland) verboten, doch wird es noch in andere Länder exportiert. Ebenso wird PCP noch in vielen Ländern angewendet. Studien zu Dioxinen und PCBs legen nahe, daß eine Exposition zu

immuntoxizischen Effekten führt, obwohl die Daten weniger schlüssig sind.

Untersuchungen zu PCP, PCBs und Chlordan sowie die Studie von Svensson et al. (1993) demonstrieren, daß die Effekte auf das Abwehrsystem aus der alltäglichen Exposition gegenüber chlororganischen Umweltchemikalien resultieren und nicht nur auf Personen begrenzt sind, die ihnen beruflich oder nach Unfällen ausgesetzt waren.

 

4.3 Leber- und Nierentoxizität

Eine der Funktionen von Leber und Niere ist die Entgiftung des Körpers. Viele Umweltschadstoffe werden durch Leberenzyme, u.a. das Cytochrom P 450, entgiftetet, so daß Konzentrationsmessungen dieser Enzyme die Aktivität des Entgiftungsorgans Leber und auch eine toxische Wirkung anzeigen können. Einige Chlororganika, darunter fast alle aliphatischen, sind bei Labortieren leber- und nierentoxisch. Es gehören aber auch Dioxine und einige Pestizide wie Chlordecon (Rao et al. 1990) sowie Dichlorbenzol dazu. Zu schwerflüchtigen Chlororganika liegen allerdings nur wenige Studien vor, die sich speziell mit der Leber- und Nierentoxizität bei Menschen nach Einwirkung solcher Chemikalien beschäftigen.

Degenerative Schädigungen an Leber und Niere sind neben der ZNS-Toxizität und der für einige Verbindungen nachgewiesenen Kanzerogenität die wichtigsten gesundheitlichen Störungen beim Menschen durch chlorierte aliphatische Kohlenwasserstoffe. Entsprechende Organschäden werden von allen als Lösemittel gebräuchlichen CKW wie PER, TRI, 1,1,1,-Trichlorethan sowie Methylenchlorid nicht nur im Tierzucht, sondern auch bei Menschen gemeldet. Dies ergibt sich daraus, daß die Leber der Ort ist, wo der enzymatische Abbau der im Blut enthaltenen CKW zu

Abbauprodukten führt, die gegenüber den Ausgangsstoffen partiell toxischer sind (metabolische Aktivierung). Oft handelt es sich bei den hochtoxischen Metaboliten um Epoxide.

Die Niere wiederum ist der Ort, wo relativ wasserlösliche toxische Umwandlungsprodukte zur Ausscheidung in den Harn gesammelt werden. Nach zwei Studien zu Leber- und Nierenschäden durch schwerflüchtige zyklische Chlororganika werden nachfolgend vor allem Fallberichte zur Leberschädigung durch leichtflüchtige CKW-Lösemittel dokumentiert.

 

HCH und DDT

Eine Studie bei Arbeitern in einer indischen Fabrik für HCH fand signifikante Veränderungen der Leberenzyme, die nach Vergleich mit den entsprechenden HCH-Werten im Blut der Arbeiter eindeutig auf Leberschädigung schließen lassen. Die Ergebnisse stimmen mit einer früheren Studie überein, die Leberschäden (Zirrhose und chronische Hepatitis) bei 8 Arbeitern fand, die gegenüber HCH und DDT exponiert waren (Nigam et al. 1993).

 

Perchlorethylen

Über Leberfunktionsstörungen (Lebervergrößerung) nach zweiwöchiger Inhalation von PER-Dämpfen aus einem Metallentfettungsbad berichten Meckler und Phelps (1966).

Bereits 1953 hatten Coler und Rossmiller (zit. bei Böttger, S. 77) bei einer Untersuchung von 6 Arbeitern in einem metallverarbeitenden Betrieb, der PER zur Entfettung einsetzte, bei einem Arbeiter eine Leberzirrhose diagnostiziert. An seinem Arbeitsplatz wurden 232-385 ppm PER gemessen. (Bis 1982 betrug der MAK-Wert in Deutschland 100, seitdem 50 ppm.) Metke stellte 1976 bei Chemisch-Reinigern Auswirkungen auf die Leber im Sinne von Beeinträchtigungen der Syntheseleistungen und Leberzellintegrität fest. Eine Untersuchung des Hessischen Sozialministeriums bei

Chemisch-Reinigern (1987) ergab 7 Fälle mit erhöhten Leber-Werten, davon 2 mit Leberschäden. Allerdings konnte hier Alkohol als Cofaktor nicht ausgeschlossen werden (vgl. Böttger, S. 79).

 

Trichlorethylen

Auch beim enzymatischen Abbau von TRI werden toxische Epoxide gebildet, welche die Leber und die benachbarten Nieren schädigen können.

 

4.4 Hauterkrankungen, Chlorakne

Die obere Hautschicht (Hornschicht) ist die wichtigste Barriere der Haut gegen das Eindringen von Fremdstoffen, Strahlen und Mikroorganismen. Sie besteht im wesentlichen aus mehreren Lagen verhornter Hautzellen, die von fetthaltigem Talg durchsetzt sind; dadurch stellt sie eine gute Barriere gegen polare Stoffe und Wasser dar.

Fettfreundliche (lipophile) Stoffe können dagegen die Haut leicht durchdringen. Da eine hohe Lipophilie charakteristisch für Chlororganika ist, stellt der bestehende Schutzmechanismus der Haut meist kaum ein Hindernis für die Aufnahme dieser Stoffe dar. Zahlreiche Chlororganika wie chlorierte Lösemittel, Dioxine, PCBs oder diverse Chlorpestizide können daher leicht über die Haut aufgenommen und über die Blutbahn im Köper verteilt werden. Sie können dabei die Haut selber, aber auch andere Teile des Körpers schädigen. Akut kann es dabei zur Austrocknung der Haut, zu Rötungen, Entzündungen, Schwellungen bis hin zu schweren Verätzungen kommen.

Die bekannteste durch Chlororganika hervorgerufene Hauterkrankung, die v.a. durch aromatische Chlororganika wie Dioxine (v.a. TCDD/F) und PCB's ausgelöst wird, ist die Chlorakne. Als stärkster Auslöser von Chlorakne gilt das "Sevesodioxin" 2,3,7,8-

Tetrachlor-dibenzo-p-dioxin (TCDD). Vor allem durch die Bilder der durch Chlorakne verunstalteten Kinder von Seveso (1976) wurde diese Chlor-Erkrankung in einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.

Chlorakne wurde allerdings schon in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts bei Chemiearbeitern, die mit Chloraromaten oder chloraromatenverunreinigten Chemikalien in Berührung kamen, festgestellt, ohne daß man die Ursache direkt zuordnen konnte.

Auch bei chlor chemischen Chemieunfällen (z.B. BASF 1953) kam es schon früher zu Fällen schwerer Chlorakne.

Chlorakne ist vor allem gekennzeichnet durch eine schwere Störung der Talgdrüsenfunktion, die über von den Chloraromaten ausgelöste genetische Zelldefekte hervorgerufen wird. Sie ist gekennzeichnet durch:

- Vergrößerung und Zunahme der Talgdrüsenzellen

- Verhornung der Talgzellen und Bildung eines hornhauthaltigen, harten Talgs

- Dadurch Verstopfung der Talgdrüsen mit der Folge von Entzündungen, Pusteln, Mitessern und eitrigen Abzessen.

Chlorakne heilt nur sehr langsam ab, möglicherweise wegen der Nachlieferung der lipophilen Chloraromaten aus dem Fettgewebe. Sie tritt außer beim Menschen z.B. beim Rhesusaffen, nicht aber bei Nagetieren auf. (Eisenbrand 1994, 91f)

 

5. Chlor-Endlager Mensch

5.1 Giftanreicherung in Körperfett und Muttermilch - "ein chlorchemischer Generationenvertrag?"

Auch beim Menschen reichern sich chlororganische Verbindungen in seinen Fettdepots an. Vergleichbare Konzentrationen liegen, auf das extrahierte Fett bezogen, auch im Blut, im Muskelgewebe und in der Muttermilch vor. Eine Wiederfreisetzung aus dem Körperfett, das bei 70 kg Körpergewicht im Durchschnitt 15% beträgt, ist nur in geringem Umfang möglich.

Bei einer Abmagerungskur wird zwar Fett abgebaut, aber die darin gespeicherten Gifte werden lediglich aus ihrem Depot remobilisiert und zirkulieren im Körper, anstatt ausgeschieden zu werden.

Ein besonderes Gesundheitsrisiko liegt für den gestillten Säugling vor. Erstens nimmt das Neugeborene im Verhältnis zu seinem Körpergewicht viel mehr (drei mal so viel) Giftfreisetzung durch Abmagerungskur.

Fettlösliche Gifte, die im menschlichen Nerven- bzw. Fettgewebe gepeichert wurden, werden beim Fasten vermehrt wieder freigesetzt und gelangen in die Blutbahn. Sie werden von der Leber i.d.R. kaum abgebaut. Über die Galle in den Darm werden sie nur schwer ausgeschieden und selbst bei erfolgreicher Ausscheidung aus den tieferen Darmabschnitten wieder rückresorbiert enterohepatischer Kreislauf).

Abmagerungskuren können somit zwar das Körperfett reduzieren, aber kaum die deponierten Gifte ausleiten. Gerade in der Stillzeit sollten Frauen auf keinen Fall eine Fastenkur durchführen, weil dann zusätzlich, mangels Speichermasse, freigesetzte Schadstoffe in die Muttermilch übergehen.

Aus den Reihen der in Deutschland durch Pentachlorphenol- und Lindan-haltige Holzschutzmittel Geschädigten haben sich mehrere Betroffene bestimmten Entgiftungsprogrammen unterzogen.

Von der "Inititiative gegen Gift e.V." werden gegenwärtig die Therapieansätze des Breakspear Hospitals in Hemel Hempstead, England (Entgiftung durch Vitamin-C-Infusion, Sauna und Bewegungsübungen), und die "nutriologische Behandlung" nach Prof. Dr. William Rea vom Environmental Health Center in Dallas (USA) als erfolgversprechende Möglichkeiten genannt, die jedoch

nicht ohne ärztliche Aufsicht in Angriff genommen werden sollten. Ensprechend der amerikanischen Kur, die für Dioxin-geschädigte Vietnam-Veteranen entwickelt wurde, sind in Deutschland bereits 35 Patienten behandelt worden. Nähere Informationen bei der Initiative gegen Gift e.V. in Karlsbad-Mutschelbach und bei Dr. med. Hannes Kapuste, München.

Nahrung als ein Erwachsener auf, und zweitens ist sein Nahrungsmittel (Muttermilch) weit überdurchschnittlich schadstoffbelastet. Ein Gramm Muttermilchfett enthält, weil durch den Abbau der Fettdepots die Schadstoffe in das Milchfett übergehen, beispielsweise 30 pg Toxizitätsäquivalente (TE) Dioxin - 20 mal mehr als Kuhmilch. Aus dieser Konzentration in der Muttermilch ergibt sich eine tägliche Aufnahme von 150 pg Dioxin (TCDD-Äquivalente) pro Kilogramm Körpergewicht für den Säugling während des Stillens. Das ist die 15- bis 150 fache Menge des 1 bzw. 10 pg betragenden TDI (täglich duldbare Aufnahmemenge) für einen Erwachsenen und 75 mal so viel, wie ein Erwachsener im Durchschnitt pro kg Körpergewicht effektiv aufnimmt.

Durch die Dioxinweitergabe von der Mutter sinken die PCDD/F-Gehalte in der Muttermilch im Verlaufe einer Stillperiode auf etwa 75% ab und gehen nach mehreren Stillperioden beim dritten Kind fast auf die Hälfte der ursprünglichen Gehalte zurück. Diese "Entgiftung" der Mutter ist eine Extrembelastung für das Kind. Da der Fetus auch schon während der Schwangerschaft über die Nabelschnur durch die Plazenta hindurch mit chlororganisch belastetem Blut versorgt wurde (Koopman-Essebohm et al. 1994), wird beim Menschen die erworbene chlororganische Belastung über den Transfer von Körperfett von einer Generation auf die nächste übertragen.

Trotz aller Belastungen rät die große Mehrheit der Kinderärzte und Toxikologen, Säuglinge bis zum sechsten Monat zu stillen. Denn die Vorteile der Muttermilch gegenüber künstlicher Babykost sind vor allem in der frühen Stillphase wissenschaftlich unumstritten. Sowohl von der Nährstoffzusammensetzung her - dies betrifft besonders den Gehalt an langkettigen, ungesättigten (LCP-)Fettsäuren - als auch aufgrund der darin enthaltenen keimtötenden Substanzen, die der Säugling noch nicht selbst produzieren kann, ist die Muttermilch optimal für seine Bedürfnisse geeignet. Die Vorteile des Stillens stehen daher den Nachteilen der chlororganischen Belastung gegenüber und werden oft als höher eingeschätzt (Reich-Schottky 1994).

Die gegenwärtigen Konzentrationen der wichtigsten bekannten chlororganischen Verbindungen in der Muttermilch führt Tabelle 2 an:

 

Tab. 2: Mittlere Konzentration chlororganischer Dioxine, PCBs und Pestizide im Muttermilchfett in der Bundesrepublik (alt*) 1991

Dioxin-TE 31 pg/g

PCBs (3 Kongenere) 600 ng/g

DDT 61 ng/g

DDE 589 ng/g

β-Hexachlorcyclohexan (β-HCH) 75 ng/g

Lindan 16 ng/g

Hexachlorbenzol (HCB) 218 ng/g

Dieldrin 9 ng/g

Heptachlorepoxid 14 ng/g

Quelle: Beck et al. 1994. TE= Toxizitätsäquivalent, gemessen an der Giftwirkung von 2,3,7,8.Tetrachlor-p-Dibenzo-Dioxin (TCDD). Von den 209 möglichen PCB-Kongeneren wurden die 3 giftigsten Leitkongenere (138, 153 und 180) gemessen und addiert.

* Nach der hier zitierten Studie liegen nur die Werte für DDT und seinen Metaboliten DDE in den neuen Bundesländern höher, für alle anderen Schadstoffe niedriger.

Der mittlere Dioxingehalt liegt beim Säugling am Ende der Stillperiode bei etwa 10 pg pro Gramm Fett. Der Dioxingehalt nimmt dann mit der Nahrungsaufnahme jährlich um ca. 1 pg pro Gramm Fett jährlich zu. Infolge der auf über 10 Jahre geschätzten biologischen Halbwertszeit für das 2,3,7,8-TCDD stellt sich ein Kumulationsgleichgewicht (Zufuhr ist gleich Abbau) frühestens nach 20 Lebensjahren ein. Dann hat der herangewachsene Mensch den mittleren Belastungswert für die Gesamtbevölkerung von 55 pg TCDD-Äquivalenten pro Gramm Körperfett erreicht.

Daraus errechnet sich eine sogenannte "Hintergrundbelastung" von 8 bis 9 ng TCDD-Äquivalenten pro Kilogramm Körpergewicht (8-9 ng TE/kg KG). Diese Hintergrundbelastung, die nur ein Mittelwert ist und folglich auch weit höher belastete Personen einschließt, ist keine Bagatelle. Schon ab 14 ng TE/kg KG wurden beim Menschen Verringerung der Hodengröße (Air Force Health Study 1991) oder Veränderungen der Glucose-Toleranz (Verminderung des Blutzuckerabbaus; vgl. Wolfe et al. 1992) festgestellt.

Der auf das Körperfett bezogene Wert von 55 pg TCDD-Äquivalenten pro Gramm liegt über dem in Deutschland für die letzten Jahre ermittelten durchschnittlichen Dioxingehalt des  Muttermilchfetts, der 30 pg pro Gramm beträgt (Streuungsbreite zwischen 6 und 87 pg Dioxin/g Fett). Aus der Meßdatenreihe läßt sich noch nicht mit Sicherheit ein Rückgang feststellen, aber zumindest auch kein Anstieg für die Dioxingehalte in der Muttermilch seit Beginn der Untersuchungen im Jahre 1985.

Noch immer aber sind viele chlororganische Schadstoffe in der Muttermilch nicht nachweisbar. So ist es in Untersuchungen, die im Auftrag von Greenpeace im Frühjahr 1995 durchgeführt wurden, erstmals gelungen, Chlorparaffine in Muttermilch nachzuweisen. Diese als potentiell krebserzeugend eingestuften PVC-Zusätze und Flammschutzmittel werden seit den 60er Jahren in großen Mengen hergestellt; es gab bislang aber kaum geeignete Meßverfahren. Die Greenpeace-Meßreihe zeigt, daß sich -wie nicht anders zu erwarten war- hohe Konzentrationen dieses Schadstoffs in der Umwelt, in Lebensmitteln und im Mensch angesammelt haben. In der Milch von zehn Hamburger Müttern wurden 45 μg/kg Fett gefunden. (Greenpeace 1995c) Der Fall derunbemerkten Anreicherung der Chlorparaffine ist sicher kein Einzelfall, sondern eher typisch für den Großteil der Chlororganika.

 

5.2 Die Belastung des Körpers mit längst verbotenen Schadstoffen - "Chlorchemische Altlasten"

Wie kommt die Giftmischung in der Muttermilch in den neunziger Jahren noch zustande, wo doch die gefundenen Pestizide DDT/DDE, β-HCH, Hexachlorbenzol (HCB), Aldrin/Dieldrin sowie Heptachlor/Heptachlorepoxid teilweise seit zwanzig Jahren nicht mehr auf deutschen Feldern ausgebracht werden dürfen? Auch die Produktion von PCBs ist seit 1983 (Hersteller: Bayer AG) in Deutschland beendet (aber nicht ihre Verwendung). Lindan ist trotz des Holzschutzmittelskandals noch zugelassen, wird aber seit Jahren in verringertem Maße eingesetzt. Dioxine entstehen jedoch jährlich neu, und zwar als unbeabsichtigte Nebenprodukte.

Das Vorkommen verbotener Chlororganika in menschlichem Fett ist zum großen Teil ihrer hohen Lebensdauer in der Umwelt geschuldet. In kleinen Konzentrationen global verbreitet, werden sie auch heute noch über die Nahrungskette "zurückgeholt". Zum Teil werden aber Pestizide, die bei uns verboten sind, noch im Ausland produziert und angewendet. Von DDT ist bekannt, daß es

-u.a. aus indischer Produktion- bei der Chlorparaffine sind Chlorgifte

Außer schwerflüchtigen zyklischen und leichtflüchtigen offenkettigen gibt es auch chlororganische Verbindungen, die schwerflüchtig und offenkettig sind. Wichtigste Vertreter dieser Stoffklasse sind die öl- bis wachsartigen Chlorparaffine, die im Molekül mindestens zehn Kohlenstoffatome enthalten, was ihre Schwerflüchtigkeit bedingt.

Chlorparaffine, in Deutschland gegenwärtig von der Hoechst AG im Umfang von etwa 20 000 Tonnen erzeugt, werden als PVC-Weichmacher, als Flammschutzmittel für andere Kunststoffe und Gummiartikel, als Zusätze in Beschichtungen, Dichtungsmassen, Kitten, in Anstrichmitteln und als Additive in Metallbearbeitungsölen eingesetzt. (Greenpeace 1995 e)

Wie die zyklischen schwerflüchtigen Chlororganika sind sie schwer ab baubar und reichern sich in den Sedimenten von Flüssen und küstennahen Meeresregionen an. (Greenpeace 1995d) Krebse, Würmer, Miesmuscheln konzentrieren sie in ihrem Gewebe auf, so daß sie sich auf höherer Stufe der Nahrungskette auch in Seevögeln und Fischen vor finden. (Greenpeace 1995c)

Im Tierversuch bei Säugern (Ratten, Mäuse) erzeugen Chlorparaffine nicht nur erhöhte Sterblichkeit, sondern schon in niedrigen Gaben bösartige Tumoren bei Leber, Niere und Schilddrüse (BUA-Stoffbericht 93, 168-171). Darum sind sie von der MAK-Werte-Komission als krebsverdächtig (III B-Stoff) eingestuft.

Aus dem Umstand, daß außer einigen Fallberichten über erhöhte menschliche Leberwerte (BUA-Stoffbericht 93, 189) keine systematischen Untersuchungsergebnisse über die Chlorparaffin-Konzentration im menschlichen Gewebe vorliegen und erst recht keine Studienresultate zu gesundheitlichen Schäden bei Menschen (weil keine solchen Studien jemals in Auftrag gegeben worden sind), darf nicht auf die Harmlosigkeit der Chlorparaffine geschlossen werden. Das Vorsorgeprinzip und die leidvolle Erfahrung mit ähnlichen Fällen gebietet gerade umgekehrt,

Stoffe, die sich im Tierversuch als krebserregend erwiesen haben, so lange zu verbieten, bis ihre Unbedenklichkeit für den Menschen positiv bewiesen ist.

Die Hoechst AG hat auf Druck von Greenpeace und anderen Umweltorganisationen im Mai 1995 angekündigt, bis 1998 die Produktion von Chlorparaffinen einzustellen. Die Anwender können allerdings derzeit problemlos auf Importprodukte umsteigen, da es in Deutschland keine Restriktion für Chlorparaffine gibt.

Baumwollproduktion in der Dritten Welt eingesetzt wird und über den atmosphärischen Ferntransport sowie als Pestizidrückstand in Produkten in die Industrieländer gelangt.

Nahezu sämtliche Tropenhölzer und viele Lederwaren und Textilien werden mit dem hierzulande verbotenen PCP für den Export nach Europa "geschützt" (weltweite Produktion: 20 000 t/a) (Spilok 1995), wo das PCP zusammen mit den darin enthaltenen Dioxinen langsam ausgast. Die nachgewiesenen Pestizidreste Heptachlorepoxid, β-HCH und Dieldrin dürften, wie weitere chlororganische Pestizide ohne inländische Anwendung, ebenfalls auf solchen Wegen in unsere Umwelt und Körper gelangen. Von großer Bedeutung ist auch die atmosphärische Verfrachtung von Pestiziden und Chlororganika, die am warmen, auftriebsstarken Tropengürtel freigesetzt werden. Sie gelangen von dort luftgetragen in die Nord- und Südhemisphäre und reichern sich besonders in aquatischen (marinen) Ökosystemen an (vgl. Tanabe et al. 1994).

Für die erst 1989 in Deutschland verbotenen PCBs gibt es jedoch eindeutig inländische Quellen. Zwar kommen die herstellungsbedingt mit Dioxinen verunreinigten Flüssigkeiten (Kühl- und Isolierflüssigkeiten, Hydrauliköle usw.) nicht mehr zur Neuanwendung. Doch bis zum Jahr 2000 dürfen sie noch in Transformatoren, Kleinkondensatoren und im Untertagebergbau weitergenutzt werden. Diese bedeutendste Altlast der Chlorchemie umfaßt in Deutschland 60 000 Tonnen, die schon heute ein großes Entsorgungsproblem darstellt. In regelmäßigen Abständen wird die

Dioxinbildung nach Bränden von PCB-haltigen Trafos oder Gebäuden mit PCB-haltiger Fugendichtmasse dokumentiert. Eine Dioxinquelle sind im Fall von Bränden auch PVC und Chlorparaffine, die z.B. als Weichmacher in PVC (Kabel, Fußbodenbeläge) oder als Flammschutzmittel in Fernsehgehäusen enthalten sind. Zeitungsmeldungen erinnern immer wieder daran, wenn in Schulen oder Kindergärten PCB-haltige Kondensatoren für Leuchtstoffröhren entfernt und aufwendige Raumsanierungsmaßnahmen durchgeführt werden müssen. Laufend gelangen PCBs aus der "Entsorgung", z.B. über Deponien, in die Umwelt. Pro Tag nimmt der Durchschnittsverbraucher 2 Mikrogramm PCB in seinen Körper auf (Gerhard et al. 1993).

Inländische Quellen gibt es auch für andere Chlororganika, die in der Muttermilch nur deshalb nicht gefunden wurden, weil man nicht nach ihnen sucht oder kein Verfahren zu Verfügung hat, um sie nachzuweisen. Immer noch sind 60 Prozent aller marktgängigen Pestizide chlorhaltig (Spilok 1995), und das gilt auch für die jährlich im Inland verspritzten 35 000 Tonnen (alte Bundesländer; vgl. DFG 1 994b, S. 31). Beispiel: Atrazin. Bei 14 000 Messungen in deutschen Wasserwerken fanden sich in 6 200 Fällen Spuren dieses krebsverdächtigen Pestizids im Trinkwasser. Erst Mitte 1991 wurde seine Anwendung verboten. Deutsches Trinkwasser darf aber immer noch 0,5 Mikrogramm Gesamt-Pestizide pro Liter enthalten (vgl. Greenpeace 1995b).

Auch bei Hexachlorbenzol (HCB) braucht die Quelle nicht im Ausland gesucht zu werden, wo es noch verschiedentlich als Pflanzenschutzmittel im Einsatz ist. Aber in der Hauptsache entsteht HCB als unvermeidliches und unnützes Nebenprodukt bei einer Reihe chlorchemischer Synthesen wie von Perchlorethylen, Trichlorethylen, elementarem Chlor und dem PVC-Vorprodukt Vinylchlorid. Soweit HCB aus entsprechenden Chemiebetrieben nicht in die Umwelt entweicht, wird es einer besonderen Rückstandsverbrennung zugeführt. Eine Quelle sind aber auch Müllverbrennungsanlagen, wo HCB als Produkt der unvollständigen Verbrennung auftreten kann.

Für alle in der inländischen Anwendung verbotenen Chlororganika, die in der Muttermilch nachweisbar sind, gibt es zwei Quellen, nämlich Altlasten und Neueinträge. Altlasten sind die zur Zeit ihrer legalen Verwendung in die Umwelt gelangten Stoffe, die dank ihrer chemischen Beständigkeit daraus kaum verschwinden. "Neueinträge" bedeutet, daß solche bei uns verbotenen Stoffe auch heute noch in die Umwelt freigesetzt werden, sei es aus absichtlicher Anwendung im Ausland oder unbeabsichtigt, aber zwangsläufig, durch den Umgang mit chlorchemischen Produkten im Inland.

Daß dennoch für viele der genannten chlororganische Umweltchemikalien seit den achtziger Jahren eine rückläufige Tendenz im menschlichen Fettgewebe feststellbar ist, nachvollziehbar an den Muttermilch meßwerten (Beck 1994), zeigt, daß gesetzliche Verbote chlorchemischer Produkte langfristig durchaus geeignet sind, das Gesundheitsrisiko der Bevölkerung zu mindern.

 

5.3 Keine Entwarnung bei Dioxinen aus chlororganischen Produkten

Noch nicht mit gleicher Sicherheit kann ein Belastungsrückgang für die gefährlichsten aller chororganischen Umweltchemikalien konstatiert werden: die polychlorierten Dibenzo-p-dioxine und

-furane. Ein direktes Verbot dieser Stoffe hat keinen Sinn, da Dioxine nicht absichtlich produziert werden. Vielmehr sind sie eine dirkete Begleiterscheinung der organischen Chlorchemie, folglich in Teilbereichen zwar zurückzudrängen, aber bei Fortexistenz der Chlorchemie als dauerhaftes Gefährdungspotential nicht auszuschalten.

Zu bedenken ist, daß sich der jährliche inländische Umwelteintrag von Dioxinen (TCDD) auf ganze zwei Kilogramm beläuft. Diese scheinbar geringe Menge von 2 Billionen Nanogramm entspricht der Giftmenge, die 1976 beim Störfall einer relativ kleinen chlorchemischen Fabrik - gemeint ist Icmesa-Seveso (s. 4.4) - freigesetzt wurde.

Unter den Dioxinquellen werden zwar so unterschiedliche thermische Prozesse wie Müllverbrennung, Aluminium-, Zink- und Kupferschmelzen, Eisen- und Stahlgewinnung, Gebäudebrände, Auto- und Flugzeugmotoren und chemische Synthesen aufgeführt.

Wirkungsweise von biogenen Chlororganika sollte eigentlich zu einem besonders vorsichtigen Umgang mit synthetischen Chlororganika Anlaß geben. Das Vorkommen biogener Organochlorverbindungen bedingt auch das Vorhanden sein von natürlichen Mechanismen für den totalen oder partiellen Abbau von chlororganischen Verbindungen. Der biotische Abbau kann auf verschiedenen Wegen erfolgen. Bei der Oxidation von Organochlorverbindungen (über die sog. mischfunktionellen Oxidasen des Cytochromsystems, bei Säugern in der Leber lokalisiert) können jedoch Reaktionsprodukte entstehen, die toxischer als die Ausgangsstoffe sind. Außerdem besteht das Problem darin, daß die Anregung der Abbauenzyme (ihre Induktion) zu einem beschleunigten Umsatz anderer körpereigener Stoffe, z.B. von Steroidhormonen, führt. Folge ist eine Störung des Hormonhaushalts.

Einzelne Mikroorganismen können Chlorverbindungen reduzieren. Das führt "theoretisch" dazu, daß z.B. auch synthetische Organochlorverbindungen vollständig in der Natur abgebaut werden können. "Ein vollständiger Abbau (z.B. von DDT durch das Bakterium Pseudomonas aeruginosa) setzt jedoch komplexe Umweltbedingungen voraus., d.h. einen mehrstufigen Prozeß mit wechselnden Belüftungsschritten und Cosubstraten. Daher kann der Abbau sehr langsam vonstatten gehen und zu einer hohen Persistenz von chlorhaltigen Xenobiotika führen, obwohl die zum Totalabbau notwendigen Enzyme in der Natur vorhanden sind." (Geckeler/Eberhardt 1995). Das Vorhandensein von biogenen Organochlorverbindungen sowie biotischen Eliminations- und Abbaumechanismen ändert also nichts an Stabilität, Anreicherungsvermögen und Toxizität der Chlororganika - also gerade der Stoffeigenschaften, die sie aus Gründen des Umwelt- und

 

6. Chlororganika: Die Gruppengefahr wird bestätigt

Die systematische Untersuchung der Toxizität, Persistenz und Bioakkumulierbarkeit der Stoffgruppe der Chlororganika bestätigt die Kritiker der Chlorchemie, die seit langem vor einer Gefahr durch die Stoffgruppe der Chlororganika warnen.

Faktisch alle untersuchten synthetischen chlororganischen Verbindungen oder ihre Vor- bzw. Abbauprodukte sind umwelt- und gesundheitsschädlich.

Dies hängt ursächlich mit der Einführung von Chlor in die organischen Moleküle zusammen. Die Regelhaftigkeit dieses Zusammenhangs begründet die Annahme einer "Gruppengefahr", d.h. einer Gefährdung, die vermutlich von allen, auch den noch nicht untersuchten, Chlororganika ausgeht.

 

Gruppengefahr heißt:

1. Mit dem Chlorgehalt zunehmende akute und chronische Toxizität der Produkte und/oder Nebenprodukte und/oder Abbauprodukte

2.  Mit dem Chlorgehalt zunehmende Persistenz

3.  Mit dem Chlorgehalt zunehmende Bioakkumulation

4. Freisetzung kritisch hoher Stoffmengen in die Umwelt und ubiquitäre Verteilung

5. Folgenschwere Stör- und Unfälle

6.  Entstehung hochtoxischer Dioxine bei der Verbrennung von Chlororganika

Dieses Gefährdungsprofil ist bei chlororganischen Produkten regelmäßig anzutreffen. Daraus folgt:

Gerade chlororganische Produkte, die bisher noch nicht näher auf ihre Human- und Ökotoxizität untersucht wurden, unterliegen dem begründeten Verdacht der Umwelt- und Gesundheitsschädlichkeit. Der Gruppengefahr kann nur durch eine konsequente Anwendung des Vorsorgeprinzip begegnet werden. Das heißt:

- Chlororganische Produkte müssen grundsätzlich vermieden und ggf. durch umweltgerechte chlorfreie Produkte ersetzt werden.

- Die Freisetzung von - auch schon produzierten - Chlororganika in die Umwelt muß unterbunden werden.

Die chlororganikaproduzierende Industrie betreibt dagegen eine andere Politik:

Sie fordert "Einzelstoffprüfungen" und möchte alte und neue Chlororganika solange einsetzen, wie deren Umwelt- und Gesundheitsgefährdung nicht definitiv nachgewiesen

sind. Bei dem vom VCI vorgeschlagenen Einzelstoff-"Risk Assessment" sollen auch noch ökonomische Faktoren berücksichtigt werden, bevor auf einen Stoff verzichtet

wird. Das hat, wie die bisherigen Erfahrungen mit Chlororganika zeigen, mit Gesundheits- und Umweltvorsorge nichts zu tun. Das vom VCI geforderte Einzelstoff-Risk-Assessment unter Berücksichtigung ökonomischer Faktoren würde eine Umkehrung des Vorsorgeprinzips bedeuten. Der VCI setzt sich damit sogar in Widerspruch zu seinen eigenen Umweltleitlinien, wo der Grundsatz formuliert wurde:

"Wenn es die Vorsorge für Gesundheit und Umwelt erfordert, wird sie [die chemische Industrie] ungeachtet der wirtschaftlichen Interessen auch die Vermarktung von Produkten einschränken oder die Produktion einstellen."

Studie des Verbands der Chemischen Industrie bestätigt Gruppengefahr:

 

Der Verband der Chemischen Industrie hat eine Studie zur Klärung der Gruppengefahr durch die Chlorchemie in Auftrag gegeben. Diese Studie wurde vom renommierte Würzburger Toxikologen Prof. Henschler durchgeführt. Diese 1994 abgeschlossene Arbeit kommt gleichfalls zum Ergebnis, daß die Einführung von Chlor in organische Moleküle einen "Gruppenverdacht" begründet.

Wir zitieren aus der Zusammenfassung Aussagen, die auf den Zusammenhang von Struktur und Toxizität bei Chlororganika eingehen.

"Obwohl die vorliegende Untersuchung nicht alle chlororganischen Verbindungen einbezogen hat, können doch grundsätzliche Schlüsse über den Einfluß von Chlorresten in organischen Verbindungen auf deren toxische Wirkqualitäten gezogen werden. (...)

1. Die Einführung von Chlor in organische Moleküle ist nahezu regelhaft mit einer Verstärkung des toxischen Wirkpotentials verbunden. Nur selten hat die Einführung von Chlor keine Wirkungssteigerung oder gar eine Verminderung zur Folge.

Diese Feststellung betrifft alle toxischen Wirkqualitäten (akute, subchronische und chronische Toxizität, Reproduktionstoxizität, Mutagenität und Kanzerogenität).

2. Noch im Rahmen einer allgemeinen Regel, aber weniger stringent als mit der Chloreinführung schlechthin, steigt die Toxizität mit der Zahl der in ein Molekül eingeführten Chlorreste an.

3. Mit der Einführung von Chlor treten häufig auch neue Wirkqualitäten  ins Spiel. Sie betreffen im Hinblick auf akute und subchronische Effekte überwiegend die parenchymatösen Organe (vor allem Leber und Niere, seltener Milz, Kreislauf- und Zentralnervensystem).

4. Mit der Einführung von Chlor erlangen die Mehrzahl der hier betrachteten organischen Verbindungen die Fähigkeit zur Entfaltung von Gentoxizität (Mutagenität) bzw. Kanzerogenität

." (...) (Henschler 1994, S. 55.)

Hinsichtlich des Standes der toxikologischen Prüfung und der Vorhersagbarkeit von toxischen Wirkungen meint Henschler:

"Ein beträchtlicher Anteil aller untersuchten chlororganischen Verbindungen besitzt krebserzeugende Wirksamkeit. Der Anteil kann nicht genau abgeschätzt werden, da es an einer systematischen toxikologischen Prüfung aller chlororganischen Verbindungen mangelt." Und weiter: "Innerhalb chemisch eng verwandter chlororganischer Verbindungen (homologe und analoge Reihen), bei denen die Toxizität durchgängig von einem einheitlichen, chemisch identifizierbaren Molekülfragment getragen wird, sind Voraussagen über das Auftreten oder Ausbleiben toxischer (einschließlich gentoxischer) Wirkungen möglich. Handelt es sich dagegen um eine heterogene Reihe (d.h. mit chemisch unterschiedlichen toxophoren Gruppen), oder treten innerhalb einer Gruppe mehrere Mechanismen der Toxizität ins Spiel, ist die Voraussagbarkeit stark eingeschränkt. Der wesentliche Grund dafür besteht in der Mannigfaltigkeit enzymatischer Aktivierungs- und Deaktivierungsreaktionen, die zum großen Teil auch nebeneinander -von einander abhängig oder unabhängig- an einem Molekül ablaufen können." (Ebd., S. 56.)

Diese letzten Bemerkungen zeigen, daß die strukturelle Ähnlichkeit von Chlororganika einerseits toxische Potentiale wahrscheinlich macht und insofern einen Gruppenverdacht begründet, daß aber andererseits wegen der Komplexität der Stoffwirkungen und des Stoffmetabolismus keine definitiven "positiven" Aussagen aus der Strukturchemie abgeleitet werden können, die einem Stoff ökologische und gesundheitliche Unbedenklichkeit bescheinigen könnten - also keine "Gruppenentlastung" durch Einzelbefunde fehlender oder verminderter Toxizität. Das Prinzip, nach dem die chemische Industrie verfährt -"in dubio pro reo" (Im Zweifel für den Angeklagten)- ist hier noch weniger als anderswo im Umgang mit umwelt- und gesundheitsschädlichen Stoffen angebracht.

 

7. Chlorchemie - unersetzbares Übel?

7.1 Der Chlorverbrauch der chemischen Industrie

Die Chlorproduktion in Deutschland hat sich von den 50er Jahren bis zum Ende der 80er Jahre versechzehnfacht. Lange Zeit galt in der Chemiebranche die Prämisse, ohne steigenden Chlorverbrauch wäre keine Entwicklung in der Stoffwirtschaft möglich.

Untersuchungen der Freien Universität Berlin (Jänicke 1992) widerlegen diese Annahme und zeigen, daß in den meisten großen Industrienationen ein solcher Zusammenhang nie bestand.

Auch in Deutschland hat sich der Trend zum Chlor umgekehrt: Von 1988 bis 1993 fiel die Chlorproduktion um über 20 Prozent. Fast immer waren es schwerwiegende Umwelt- und Gesundheitsschäden, die zur Substitution chlorhaltiger Massenprodukte führte, so bei DDT, PCB ́s, PCP, FCKW, chlorierten Lösemitteln, Chlor für die Papierbleiche und z.T. bei PVC.

Neben dem Rückgang des absoluten Chlorverbrauchs ist ein weiterer Trend von Bedeutung: Die Verbrauchsstruktur für Chlor hat sich dahingehend geändert, daß der Anteil der besonders umweltschädlichen chlorhaltigen Produkte am Chlorverbrauch rückläufig ist, während der Chlorverbrauch für chlorfreie Endprodukte wie Polyurethane,

Polycarbonat und Epoxidharze noch zunimmt. Doch auch diese Gruppe der Chloranwendung birgt Risiken.

 

7.1.1 Chlorhaltige Zwischenprodukte

1992 wurden in der Bundesrepublik etwa 3 Mio.Tonnen neu erzeugtes Chlor (Primärchlor aus der Elektrolyse) in der chemischen Industrie eingesetzt (Prognos 1994, I, Anm.2).

Dieses Primärchlor geht grob geschätzt zu 65% in chlorhaltige Zwischenprodukte für die Herstellung von chlorfreien Endprodukten  (VCI 1995, 5). Bei diesen Synthesen wird das Chlor als Reaktionsvermittler verwendet, um reaktionsfreudige chlorierte Zwischenprodukte für weitergehende Synthesen herzustellen, bei denen es wieder abgespalten und z.T. als Salz und in Form von Abfällen in die Umwelt eingetragen wird. Ökologisch bedenkliche Folge ist u.a. die Aufsalzung der Flüsse.

• 29% des Primärchloreinsatz es gehen in die Herstellung von Propylenoxid (Prognos 1994,II), das als chlorfreies Zwischenprodukt für die Herstellung von Polyurethanschaumstoffen, Alkyd- und Polyesterharzen eingesetzt wird. Das chlorhaltige Zwischenprodukt ist das giftige Propylenchlorhydrin. Bei dem hierzulande für die Propylenoxid-Produktion eingesetzten, chlorverbrauchenden

Chlorhydrinverfahren werden über 90% des eingesetzten Chlors, mit Hilfe von Natronlauge oder Calziumhydroxid als NaCl oder CaCl2 abgespalten und in Flüsse (Rhein, Elbe) eingeleitet. Die restlichen 10% des Chloreinsatzes fallen als -krebserregender- 1,2-Dichlorpropan-Rückstand an.

• Ein anderes, chloriertes Zwischenprodukt für nichtchlorhaltige Endprodukte ist das Phosgen, ein starkes Atemgift. 14% des Primärchloreinsatzes gehen zur Zeit in die nur unter großen Sicherheitsvorkehrungen zu betreibende Phosgenchemie (Zwischenprodukt für Polyurethane, Vorprodukt für Polycarbonate). Der Chloraustrag bei der Weiterverarbeitung erfolgt zum größeren Teil als Chlorwasserstoff (HCl), der in die Produktion zurückgeführt wird, und zu 30% als Kochsalz, das in die Gewässer (wiederum Elbe und Rhein) eingeleitet wird (Prognos 1994, IV-4). Luftseitige Emissionen von nicht unbeträchtlicher Menge sind Dichlormethan, vor allem bei der Polycarbonat-Herstellung.

Gefährliche störfallartige Phosgenaustritte kommen bis heute selbst bei Anlagen mit den aufwendigsten und modernsten technischen Sicherheitsvorkehrungen vor (z.B. bei der von einem "Containment" umgebenen Anlage von Dow Chemical in Stade 1994).

• Auf die Herstellung chlorfreier Epoxidharze werden etwa 8% des Primärchloreinsatzes verwandt. Chlorhaltige Zwischenprodukte ist hier Allylchlorid und das daraus gewonnene Epichlorhydrin. Beide sind nephro- und neurotoxisch, krebsverdächtig (III B bzw. III A 2-Stoffe der MAK-Liste) und wassergefährdend. Wie beim Propylenoxid fällt auch bei der Allylchlorid- und Epichlorhydrin-Umsetzung das freigesetzte Chlor als Salz an, das zur Gewässeraufsalzung beiträgt (Prognos 1995, III-9). Chlororganische Rückstände für die Verbrennung sind insbesondere krebserregende Chlorpropane und -propene (III A 2-Stoffe). Außerdem fallen luft- und abwasserseitig gewisse Emissionen von Epichlorhydrin an.

Die drei hier beispielhaft genannten chlorierten Zwischenprodukte, die für die Herstellung chlorfreier Stoffe erzeugt werden, verbrauchen schon mehr als die Hälfte der Primärchlorproduktion.

Sie stellen z.T. risikoreiche (giftige bzw. gesundheitsschädliche) Stoffe dar. Das Unfallrisiko bei diesen Anlagen ist wegen der hochriskanten Einsatzstoffe besonders hoch. Die schwersten Unfälle der Chemieindustrie der letzten 30 Jahre waren Unfälle der Chlorchemie: Seveso, Bhopal, Sandoz, Hoechst (1993).

Bei allen chlorchemischen Produktionsprozessen entstehen toxische chlororganische Nebenprodukte, die zum Teil verbrannt werden oder zu Perchlorethylen verarbeitet werden. Zu einem nicht unbeträchtlichen Ausmaß werden sie deponiert und in Luft oder Abwasser emittiert.

 

7.1.2 Chlorhaltige Endprodukte

Über 35% des eingesetzten Primärchlors gelangen in chlorhaltige Endprodukte. Dabei ist das Chlor in unterschiedlicher Weise gebunden, so daß es unterschiedlich wirksam werden kann.

Bei chlorhaltigen Endprodukten wie CKW oder Pestiziden kann das Chlor, wie in den Kapiteln 2 bis 4 dargestellt, in die Umwelt gelangen und in Organismen seine gesundheitsschädliche Wirkung entfalten. In anderen Produkten -z.B. dem Kunststoff PVC- ist es stabiler eingebunden, so dass das Produkt unter Gesundheitsgesichtspunkten auf den ersten Blick unproblematisch erscheint. Allerdings sind auch hier erstens die Gesundheitsprobleme durch chlorhaltige reaktive Zwischen- und Nebenprodukte zu beachten, und zweitens dürfen die toxischen chlororganischen Abfälle incl. Dioxinemissionen nicht vergessen werden. Vorprodukte, Nebenprodukte und Abfälle gehören zum Lebenszyklus der jeweiligen Stoffe.

29% der Primärchlorproduktion wird zu PVC verarbeitet. Zwischenprodukte sind die krebserzeugenden Stoffe Ethylendichlorid (III A 2) und Vinylchlorid (III A 1), dessen Gesundheitsgefahren bereits geschildert worden sind. Wir hatten auch darauf hingewiesen, daß bei Bränden, Verschwelungen u.a. Verbrennungsprozessen PVC zur Dioxin-Quelle wird. Eine Dioxinquelle ist auch die Vinylchlorid-Synthese (Greenpeace 1993, Prognos 1995, II-57). PVC ist ferner ein Beispiel dafür, daß die Verwendung von Chlor den Einsatz von Hilfsstoffen erfordern kann, die möglicherweise gesundheitlich (und ökologisch) bedenklich sind. Dies gilt sowohl für einige der bei PVC erforderlichen Stabilisatoren wie für die oft eingesetzten Weichmacher, zu denen mit etwa 10 000

Tonnen wiederum chlorhaltige Stoffe, nämlich Chlorparaffine gehören (BUA-Stoffbericht 93, 54).

Zur Chlorchemie gehört selbstredend auch elementares Chlor. Unter Normalbedingungen liegt es als zweiatomiges Chlorgas vor. Chlor ist giftig (chemischer Kampfstoff im Ersten Weltkrieg).

Es bewirkt bereits in niedrigen Konzentrationen Atemnot, Bluthusten, Erstickung und führt bei längerer Einwirkung zu Lungenödemen.

Es kann in der Chemischen Industrie, in Textilbetrieben, in der Nahrungs- und Genußmittelindustrie, bei Reinigungsprozessen etc. freigesetzt werden. Bei seiner Erzeugung aus Steinsalz (Chlor-Alkali-Elektrolyse) fallen außerdem Quecksilber-haltige Abwässer (Amalgamverfahren) und Asbest-haltige Sonderabfälle (Diaphragmaverfahren) an. Obwohl der Massentransport von elementarem Chlor aufgrund der leidvollen Erfahrungen der Vergangenheit in Deutschland nur noch in Eisenbahnwaggons erfolgen darf, kommt es seit vierzig Jahren kontinuierlich pro Jahr zu durchschnittlich drei schweren Chlorunfällen mit Verletzten (Greenpeace 1992).

 

7.2 Die Rolle der chemischen Industrie

"Die Chemie mit Chlor steht im Mittelpunkt der Diskussion über die Akzeptanz der chemischen Industrie und die damit verbundenen umweltpolitischen Forderungen," stellt der Verband der Chemischen Industrie in seinem Jahresbericht 1993/94 fest. Innerhalb dieser Diskussion verfolgt die Chemieindustrie eine Doppelstrategie:

Einerseits stellt sich die Branche mit öffentlichen Dialogangeboten, Umweltleitlinien, Umweltberichten und neuerdings in ganzseitige abgedruckten Anzeigen zu "responsible care" und "sustainable development" als aufgeschlossene, dialogbereite und umweltbewußte Branche dar.

Andererseits nimmt die Chemie industrie in ihrer Lobbyarbeit vermehrt wieder die Rolle des Maßnahmenverhinderers ein und betreibt hinter den Kulissen ein aktives "roll back" der erreichten Umweltstandards:

- 1993/94: Forderung nach der Abschaffung des EU-Vorsorgewerts für Pestizide im Grundwasser. Noch in den 80er Jahren hatte die Branche ein Bekenntnis zum pestizidfreien Grundwasser abgegeben.

- 1994: Mit der Durchsetzung einer Senkung der Abgabesätze im Abwasserabgabengesetz wurde das bislang einzige ökonomisch lenkend wirkende Umweltgesetz entkräftet.

- Neue umweltpolitische Rahmenbedingungen, seien sie ordnungsrechtlicher oder ökonomisch-lenkender Natur, werden von den Chemieverbänden bekämpft:

 

Chlorgasunfälle

Chlorgasunfälle stellen weltweit die häufigsten chemischen Störfälle dar (UBA 1992a, S. 44). Nach einer Greenpeace-Dokumentation der Chlorstörfälle mit Personenschaden in der Bundesrepublik (alt) von 1952 bis 1991 sind Betriebsunfälle in Industrie oder Schwimmbad die häufigste Unfallursache. Chlortransporte einschließlich Be- und Entladung haben jedoch die schwersten Folgen:

988 von 1290 Chlorverletzten zwischen 1952 und 1991 entfallen auf Chlortransporte. Ein Trend zur Abnahme von Chlorstörfällen ist nicht nachzuweisen.

Meldungen wie die folgende aus dem Lokalteil einer Tageszeitung sind nicht ungewöhnlich: "Bei einem Säureunfall in der Zentralwäscherei der Uni-Klinik sind fünf Bedienstete leicht verletzt worden. Nach Angaben der Feuerwehr war es beim Umfüllen zweier Reinigungschemikalien zu einer Reaktion gekommen, bei der Chlordämpfe freigesetzt wurden." (Frankfurter Rundschau v. 13.5.1995).

- Die schon 1992 angekündigte Umsetzung der Empfehlungen des Bund-Länder-Arbeitskreises Umwelt zu PVC (BLAU 1992) steht noch immer aus. Nicht einmal die angekündigte Kunststoffkennzeichnung wurde eingeführt.

- Die Bundesregierung zeigte keine Initiative bei der Ablösung der Chlorbleiche. Bis heute ist die Chlorbleiche gesetzlich gestattet. Durch den hohen Importanteil bei Papier und Zellstoff werden immer noch große Mengen chlorgebleichten Papiers verbraucht.

- Zur Umsetzung der 1994 ausgesprochenen Empfehlungen der Stoffstrom-Enquete-Kommission gibt es bislang keine konkreten Vorschläge.

- Die Bundesregierung weigert sich, das dringend gebotene und auch vom Umweltbundesamt geforderte Verbot von Chlorparaffinen einzuführen.

Diese Passivität wird von der Bundesregierung immer häufiger damit erklärt, dass marktlenkende Instrumente und freiwillige Maßnahmen der Industrie dem Ordnungsrecht vorzuziehen seien.

Ein solcher Politikgrundsatz bedeutet Rückschritt, denn das Ordnungsrecht ist für Schadstoffe mit hohem und mittlerem Risikopotential weiterhin das Instrument der Wahl. Für Stoffe, bei denen das Ziel der Ressourcen- und Umweltschonung im Fordergrund steht, können ökonomische Instrumente wie eine Energie- und Rohstoffsteuer geeigneter sein.

Die Bundesregierung blieb aber auch die Einführung ökonomischer Instrumente zur Konversion der Chlorchemie schuldig:

- Eine Energiesteuer ist nicht in Sicht. Gerade eine solche Steuer aber könnte den Chlorverbrauch drosseln und eine Konversion einleiten:

Auf die Chlorproduktion entfallen 25% des  Stromverbrauchs der chemischen Industrie. 70% der Produktionskosten für Chlor entfallen auf die Elektrizität. Die deutschen Chlor-Alkali-Elektrolysen verbrauchen zusammen soviel Strom wie 40 Städte a 100.000 Einwohner. Die Strompreise für die Elektrolyse anlagen liegen zwischen 5 und 8 Pf/Kwh - dies sind alles andere als die wahren ökologischen Kosten der elektrischen Energie. Durch die indirekte Subventionierung der Chlorproduktion mit Billigtarifen wird die Chlorchemie sogar begünstigt.

- Konversions- und Förderungspolitik: Obwohl im Auftrag des BMFT und des Landes Hessen erstellten Konversionsstudien zeigen, daß eine Konversion der Chlorchemie ökologisch

vorteilhaft, ökonomisch tragbar und in der Arbeitsplatzbilanz positiv ist, setzt die Bundesregierung diese Erkenntnisse nicht in ihrer Umwelt- und Förderpolitik um.

Statt dessen werden Millionenbeträge für den Neubau von PVC-Produktionsanlagen in den neuen Bundesländern zugeschossen.

In mehreren internationalen Konventionen, die auch in Deutschland gelten, wurden

Restriktionen der Chlorchemie beschlossen:

Die derzeitige Umweltpolitik der Bundesregierung ist ungeeignet, eine Umsetzung dieser Ziele und eine ökologische Umgestaltung der chlorchemischen Industrie einzuleiten.

Abschlußerklärung des Ministertreffens der Kommissionen von Oslo und Paris (OSPARCOM) vom 21./22. September 1992:

"Einleitung und Emission von toxischen, langlebigen und sich anreichernden Stoffen, insbesondere halogenorganischen Substanzen, die in Meeresgebiete gelangen könnten, sollten ohne Achtung auf ihre anthropogene Quelle bis zum Jahr 2000 auf ein für Mensch und Natur unschädliches Niveau reduziert werden, mit dem Ziel ihrer Elimination. Zu diesem Zwecke sind einschneidende Reduktionen dieser Einleitungen und Emissionen durchzuführen und dort, wo es angemessen ist, die Reduzierungsmaßnahmen durch Programme zur graduellen Abschaffung des Einsatzes solcher

Substanzen zu ergänzen;" (Unterzeichnerstaaten: Belgien, Dänemark, Finnland, Deutschland, Großbritannien, Irland, Island, Niederlande, Norwegen, Portugal, Spanien, Schweden, Schweiz und Luxemburg.)

Mittelmeerkonvention von Barcelona (BARCON)

Im Oktober 1993 beschlossen 21 Mittelmeeranrainerstaaten bei ihrem Treffen in Antalya "zu empfehlen, daß die Vertragsparteien Einleitungen toxischer, persistenter und bioakkumulativer Stoffe, die im LBS-Protokoll aufgeführt sind, besonders chlororganischer Verbindungen mit diesen Eigenschaften, zu reduzieren und bis zum Jahr 2005 einzustellen. In diesem Rahmen muß sowohl den diffusen als auch den industriellen Quellen halogenorganischer Einleitungen äußerste Priorität eingeräumt werden."

Resolution der International Whaling Commission in Kioto, 10.-14.5.1993 (IWC/45/50):

 "...calls on contracting government nationaly and in appropriate international for to take all practicable measures to remove existing threats to the marine environment and adopt policies for the prevention, reduction and control of degradation of the marine environment, including, in particular, means to eliminate the emission or discharging of organohalogen compounds that threaten to accumulate to dangerous levels in the marine environment."

Internationale Umweltkonventionen mit Chlorchemiebezug

 

8. Greenpeace fordert:

Die Produktion und Freisetzung chlororganischer Produkte muß gestoppt werden. Das gleiche gilt für bromorganische Produkte.

Höchste Priorität hat die Substitution der chlororganischen

Produktsparten PVC, FCKW/HFCKW, chlorierte Lösemittel,

Pestizide, Chlorparaffine, Papierbleiche und bestimmter Bereiche der Chloraromaten.

der Chloraromaten.

Chlororganische Produkte müssen unverzüglich als chlorhaltig gekennzeichnet werden.

Die Freisetzung aller - auch schon produzierter - Chlororganika in die Umwelt muß unterbunden werden. Hersteller und Anwender von Chlororganika müssen für die sichere "Entsorgung" dieser

Stoffe sorgen.

Hersteller und Anwender von Chlororganika müssen für Umweltbelastungen sowie für Umwelt- und Gesundheitsschäden, die durch diese Stoffe hervorgerufen werden, haften.

Eine grundlegende Konversion der Chlorchemie ist ökologisch notwendig und ökonomisch tragbar. Diese Konversion muß von der chemischen Industrie eingeleitet werden. Die

Bundesregierung, die Gewerkschaften und Umweltverbänden müssen diese Umstellung aktiv unterstützen.

Die chemische Industrie darf grundsätzlich keine Stoffe herstellen und vermarkten, die nicht toxikologisch eingehend untersucht sind und für die keine Nachweisverfahren existieren.

 

Zusammenfassung und Fazit

Epidemiologische Studien, Tierversuche, experimentelle Laborstudien und theoretische Untersuchungen zum Struktur-Wirkungs-Mechanismus bei Chlororganika haben eine Fülle von Indizien und Belegen dafür erbracht, daß die Gruppe der chlororganischen Stoffe ein hohes gesundheitsgefährdendes und ökotoxikologisches Potential mit sich bringt. Dies hängt u.a. mit den struktur

chemischen Auswirkungen der Einführung von Chlor in organische Moleküle zusammen.

Diese Studie gibt eine Übersicht zu Entwicklungs- und Reproduktionsstörungen, die mit hormonähnlichen Wirkungen von Chlororganika in Zusammenhang gebracht werden, zur Bedeutung von Chlororganika für die Krebsentstehung und für Schädigungen des Nerven- und Immunsystems sowie von Leber und Nieren. Die in der Studie referierten Humanbefunde betreffen sowohl beruflich exponierte Personen als auch die Allgemeinbevölkerung.

I. Charakteristik, Verbreitung, Eintragsquellen und Toxizität von Chlororganika 1992 wurden in Deutschland rund 3 Millionen Tonnen Chlor erzeugt und in der chemischen Produktion eingesetzt. Über ein Drittel davon gelangte in die Erzeugung chlorhaltiger Endprodukte. Die Einführung von Chlor in organische Moleküle erhöht fast immer deren Human- und Öko-Toxizität. So sind z.B. ein Drittel der bisher in der Liste gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe (MAK-Liste) erfaßten krebserzeugenden oder krebsverdächtigen Stoffe chlorhaltige Verbindungen.

Chlorhaltige Produkte sind u.a. chlorierte Lösemittel, Pestizide, PCP (Holzschutzmittel),

FCKW, chlorgebleichtes Papier, polychlorierte Biphenyle (PCB), PVC, Chlorparaffine, die bei Verbrennungsprozessen entstehenden Dioxine u.v.a.m.. Auch bei gesundheitlich direkt weniger problematischen chlorhaltigen Produkten wie den Fluorchlorkohlenwasserstoffen (FCKW) und das Ozonloch hat sich inzwischen eine indirekte Öko-Toxizität und Humanschädlichkeit erwiesen.

Die anwendungsorientierten Vorteile vieler organische Chlorverbindungen -hohe Beständigkeit, sehr geringe Brennbarkeit, großes Fettlösevermögen- haben eine negative Kehrseite. Die stabilen Stoffe sind in der Umwelt persistent (schwer abbaubar), sie reichern sich besonders im Fett und damit in der Nahrungskette an (Bioakkumulation), und sie sind in hohem Maße toxisch.

Obwohl es eine beachtliche Zahl natürlich vorkommender Chlororganika -darunter auch solche mit Giftwirkung zur Abwehr anderer Organismen- gibt, sind synthetische chlororganische Stoffe in der erzeugten Art, Vielfalt und Menge naturfremd (Xenobiotika). Verschiedene Organismen verfügen zwar (in unterschiedlichem Maße) über Entgiftungsmechanismen, mit denen auch chlororganische Stoffe z.T. abgebaut und eliminiert werden können. Diese Entgiftungsmechanismen sind, falls sie bei der betroffenen Spezies überhaupt vorhanden sind, nur sehr unvollkommen auf die Belastung durch synthetische (anthropogene) Chlororganika eingestellt. Deren Abbau findet, sofern er überhaupt möglich ist, nur sehr langsam und i.d.R. unvollkommen statt, und er läßt z.T. noch toxischere Abbauprodukte entstehen, die krebs auslösend, organschädigend oder immun- bzw. reproduktionsschädlich sind. Infolge der großen freigesetzten Mengen und der schweren Abbaubarkeit sind

chlororganische Verbindungen heute überall ("ubiquitär") verbreitet. Eine wichtige Quelle sind Produktion und Gebrauch chlororganischer Produkte. Weitere Quellen sind die Freisetzung aus

Altlasten und die Emission chlororganischer "Nebenprodukte" aus Herstellung und Entsorgung (z.B. Dioxine aus der Verbrennung) chlorchemischer Produkte. Zudem werden durch den Einsatz elementaren Chlors in der Textil- und Papierbleiche und bei der Wasserchlorung hoch toxische chlorierte Reaktionsprodukte erzeugt und freigesetzt. Eine andere Quelle stellt der Gebrauch von Chlororganika als Pestizide, Desinfektionsmittel etc. in Dritte-Welt-Länder dar, besonders im Tropengürtel. Die persistenten Chlororganika werden von dort vor allem atmosphärisch über beide

Erdhalbkugeln verfrachtet. Die kälteren Regionen der Nord- und Südhalbkugel sind Senken für diese global verfrachteten Chlororganika. Dies ist einer der Gründe für die in zwischen festgestellte hochgradige Kontamination auch zivilisationsferner Ökosysteme, etwa in den polaren Regionen.

Chlorhaltige Zwischenprodukte, für die rd. 65% des Primärchlors verwendet werden, sind gleichfalls eine wichtige Quelle der Umwelt- und Gesundheitsbelastung, da regelmäßig Störfälle zum Produktions- und Transportbetrieb gehören, wie auch die häufigen Chlorunfälle zeigen.

II. Chlororganische Umweltöstrogene: Reproduktionsstörungen, Brustkrebs, Entwicklungsstörungen

Chlororganische Stoffe greifen auf verschiedenen Wegen in das Hormonsystem, speziell in das Wirkungsgefüge der Steroidhormone, ein. Teils haben sie hormonähnliche Wirkung, teils beeinflussen sie den Hormonspiegel. Zu den Steroidhormonen gehören die für die Entwicklungs- und Reproduktionsprozesse wichtigen Sexualhormone (Östrogen, Progesteron, Testosteron). Deren Wirkung ist

rezeptorvermittelt. Untersuchungen zeigen, daß einzelne Chlororganika diese Rezeptoren blockieren oder aktivieren können. Entwicklungsstörungen können auch durch die Beeinflussung des Schilddrüsenhormonspiegels ausgelöst werden.

Eine Reihe von Indizien sprechen für die These, daß die zunehmenden Reproduktionsstörungen bei Männern (Abnahme der Spermienzahl, Zunahme von Hodenkrebs, Hodenhochstand u.a.) auch auf den Einfluß von östrogen-wirksamen oder den Hormonspiegel beeinflussenden Umweltchemikalien zurückzuführen sind. Hier spielen, wie Tierversuche oder die Folgen des taiwanesischen Yu-heng-Unfalls zeigen, z.B. pränatale Expositionen gegenüber Dioxinen und PCBs offenbar eine Rolle. Tierexperimente sowie verschiedene Untersuchungen bei beruflich exponierten Männern (Pestizide, Dioxine) und Dioxinschädigungen durch den Vietnamkrieg verweisen auf gleiche Zusammenhänge.

Reproduktionsstörungen bei Frauen und Erkrankungen von Organen des Reproduktionssystems (Zunahme von Brust- und anderen Krebsarten, Endometriose) stehen vermutlich ebenfalls mit  erhöhter Belastung durch östrogen-wirksame Chemikalien in pränatalen oder späteren Stadien in Zusammenhang. Indizien für eine Erhöhung des Brustkrebs risikos gibt es für Pestizide (speziell DDT) und PCB; Dioxin kann offenbar in schon geringen (chronischen) Belastungsdosen Endometriose, d.h. Wucherungen von Gebärmuttergewebe außerhalb der Gebärmutter, auslösen.

Schädigungen des Embryos können durch Pestizide und leichtflüchtige Chlororganika bewirkt werden. Pränatale PCB-Exposition kann Wachstumsverzögerungen (Untergewicht bei der Geburt) und kindliche Entwicklungsstörungen nach sich ziehen (Untersuchungen aus dem Umfeld der Great Lakes in den USA und nach dem Yu-Cheng-Unfall). Chlororganisch bewirkte Beeinträchtigungen von Intelligenzleistungen dürften über die Beeinflussung des Schilddrüsenhormonspiegels ausgelöst werden (Dioxine, PCBs). Krebs durch organische Chlorverbindungen Chlororganika gehören zu den chemischen Kanzerogenen. Sie erzeugen meist nicht direkt Krebs, sondern wirken i.d.R. über ihre Abbauprodukte. Einige Chlororganika sind direkt gentoxisch, andere agieren als sog. Krebspromotoren, die nicht für sich genommen Krebs auslösen können, das Krebswachstum aber anregen. Es gibt jedoch auch Chlororganika, die sowohl gentoxisch wie tumorpromovierend sind. Die Latenzzeit bis zum Ausbruch des Krebses beträgt i.d.R. mehrere Jahrzehnte; der Kausalnachweis der Krebsverursachung wird auch hierdurch sehr erschwert.

Generell ist nachgewiesen, daß Dioxin im Tierversuch und beim Menschen zu einer eindeutigen Erhöhung der allgemeinen Krebsmortalität führt. Das bestätigten auch epidemiologische Studien bei dioxinexponierten Arbeitern. Leber- und Darmkrebs wird durch Vinylchlorid ausgelöst. Im Tierversuch gilt dies auch für PCBs; die epidemiologischen Studien zeigen hier kein eindeutiges Bild für den Menschen. Bei Krebs der Bauchspeicheldrüse konnte eine strenge Assoziation mit DDT-Exposition gezeigt werden. Im Fall von Lungenkrebs spielen Vinylchlorid, Chlormethylether, elementares

Chlor sowie Dioxin eine Rolle. Eine 1995 veröffentlichte Studie des ehemaligen

Vorsitzenden der MAK-Kommission, Prof. Henschler, hat nachgewiesen, daß das noch immer gebräuchliche Lösemittel Trichlorethylen Nierenkrebs verursacht. Weichteilsarkome werden gehäuft bei Belastungen durch Chlorphenole, Chlorpenoxydessigsäure (2,4-D) und Dioxine gefunden. 2,4-D-Herbizide erhöhen auch das Risiko für Lymphknotenkrebs. Bei der als Krebsvorstadium zu betrachtenden aplastischen Anämie sind Pestizide (Lindan, PCP) als Verursacher in Verdacht. Blasen- und Mastdarmkrebs wird u.a. gehäuft bei Exposition gegen chlorhaltige Amine und, in

geringfügigem Maße, gegen Hypochlorit (gechlortes Wasser) konstatiert.

Chlororganisch bedingte Krankheiten von Nerven- und Immunsystem, Leber und Nieren

Aus Tierversuchen und epidemiologischen Studien ist eine neurotoxische bzw. narkotische Wirkung vieler chlororganischer Verbindungen auf das zentrale Nervensystem bekannt. Dies gilt besonders für leichtflüchtige, aber auch für schwerflüchtigere Chlororganika. Chronische Effekte sind hier Nervenschädigungen, die sich als verringerte Konzentrationsfähigkeit, verminderte Gedächtnisleistung, Persönlichkeitsveränderungen und dgl. darstellen. Auch in diesem Fall sind die frühen prä- und postnatalen Entwicklungsstufen besonders empfänglich für sich u.U. erst später manifestierende Belastungen.

Die Neurotoxizität von PCBs beim Menschen ist nachgewiesen. Sie wird mit Veränderungen in der Konzentration des Neurotransmitters Dopamin in Verbindung gebracht. Nachgewiesen sind auch entsprechende Dioxin-Schädigungen sowie durch HCH (Hexachlorcyclohexan, Lindan) ausgelöste neurologische Symptome. Die Anhäufung von relativ unspezifischen, in ihrer Summe aber stark belastenden "Befindlichkeitsstörungen" von Bewohnern von Wohnungen mit pestizidbehandeltem Holz, die lange Zeit als irrelevant abgetan wurden, geht u.a. auf PCP und Lindan zurück.

Dies konnte auch in beim Holzschutzmittel-Prozeß präsentierten Studien belegt werden.

Zu den neurotoxischen Wirkungen der chlorierten Lösemittel liegen relativ viele Befunde vor.

Auf Immuntoxizität verweisen neben Tierversuchen -hier sind es die bekannten Auslöser PCB, PCP, Dioxine, Pestizide- auch einige epidemiologische Studien.

Signifikante Veränderungen bei einigen Zelltypen des Immunsystems mit relativ langer Latenzzeit ergaben sich z.B. nach PCP-Exposition. Gleiches gilt auch für PCB- und Dioxin-Belastungen (Yusho- und Yu-Cheng-Unfälle; Dioxin-Unfall bei der BASF).

Degenerative Schädigungen an Leber und Niere - den Hauptentgiftungs- und Ausscheidungsorganen des Körpers für Schadstoffe - sind neben der ZNS-Toxizität und dem kanzerogenen Potential einiger Verbindungen die wichtigsten durch Chloraliphaten ausgelösten Schädigungen beim Menschen, wie sich aus zahlreichen Befunden ergibt.

III. Fazit

Die systematische Untersuchung der Toxizität, Persistenz und Bioakkumulierbarkeit der Stoffgruppe der Chlororganika bestätigt die Kritiker der Chlorchemie, die seit langem vor einer Gefahr durch die Stoffgruppe der Chlororganika warnen.

Faktisch alle untersuchten synthetischen chlororganischen Verbindungen oder ihre Vor- bzw. Abbauprodukte sind umwelt- und gesundheitsschädlich. Dies hängt ursächlich mit der Einführung von Chlor in die organischen Moleküle zusammen. Die Regelhaftigkeit dieses Zusammenhangs begründet die Annahme einer "Gruppengefahr", d.h. einer Gefährdung, die vermutlich von allen, auch den noch nicht untersuchten, Chlororganika ausgeht.

Gruppengefahr heißt:

1. Mit dem Chlorgehalt zunehmende akute und chronische Toxizität der Produkte +/o. Nebenprodukte und/oder Abbauprodukte

2. Mit dem Chlorgehalt zunehmende Persistenz

3. Mit dem Chlorgehalt zunehmende Bioakkumulation

4. Freisetzung kritisch hoher Stoffmengen in die Umwelt und ubiquitäre Verteilung

5. Folgenschwere Stör- und Unfälle

Dieses Gefährdungsprofil ist bei chlororganischen Produkten regelmäßig anzutreffen.

Daraus folgt:

Gerade chlororganische Produkte, die bisher noch nicht näher auf ihre Human- und Ökotoxizität untersucht wurden, unterliegen dem begründeten Verdacht der Umwelt- und Gesundheitsschädlichkeit. Der Gruppengefahr kann nur durch eine konsequente Anwendung des Vorsorgeprinzip begegnet werden.

Das heißt:

- Chlororganische Produkte müssen grundsätzlich vermieden und ggf. durch umweltgerechte chlorfreie Produkte ersetzt werden.

- Die Freisetzung von -auch schon produzierten- Chlororganika in die Umwelt muß unterbunden werden.

 

 

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