Aquae allgemein
Anhang 3
[GREENPEACE STUDIE]
Chlor macht krank: Die Auswirkungen von Chlorverbindungen auf die menschliche
Gesundheit
Winfried Schwarz, Andre Leisewitz; Öko-Recherche - Büro für
Umweltforschung und -beratung GmbH, Frankfurt auf der Grundlage der
Greenpeace-Studie
"Body of Evidence - the effects of
chlorine on human health" von Michelle Allsopp, Pat Costner und Paul
Johnston;
Vorwort
In den 60er Jahren begann die beispiellose Karriere der
Allround-Chemikalie Chlor: Die Produktion des gelben Gases hat sich seither
verfünfzehnfacht. Chlor wird von der
chemische Industrie zur Herstellung von ca. 11.000 verschiedenen
chlororganischen Chemikalien benutzt. Jährlich gelangen davon mehrere Millionen
Tonnen in die Umwelt.
Chlororganika sind meist schwer abbaubar und reichern sich stark im
Körper von Mensch und Tier an.
Heute finden Toxikologen im menschlichen Körper fast 200 Stoffe der
Chlorchemie (Muttermilch, Fettgewebe, Sperma, im Blut.... Diese Chemisierung
des Menschen mit
den meist naturfremden Chlorchemikalien hat Folgen.
Die Studie "Chlor macht krank" faßt den aktuellen Stand der
Forschung über die außerordentlich umfassende Giftwirkung von Chlorchemikalien
auf die menschliche
Gesundheit zusammen: Chlorgifte können Krebs, Unfruchtbarkeit,
Mißbildungen bei Kindern, Hormonstörungen, Immunschäden, Schäden des
Nervensystems und
Schädigungen verschiedener Organe hervorrufen.
Durch das hohe Anreicherungsvermögen der Chlorgifte summieren sich auch
kleinste Konzentrationen zu gefährlich hohen Körperbelastungen. Nicht nur
besonders exponierte Menschen, auch der Durchschnittsbürger ist der chronischen
Langzeitvergiftung durch diese Stoffe ausgesetzt. Besonders gefährdet sind
Kinder, die während der Entwicklung im Mutterleib und der Stillphase oft hohen
Giftkonzentrationen ausgesetzt sind, die von der Mutter auf das Kind übergehen.
Krebsgifte
Bei den krebserregenden Chemikalien nehmen die Chlororganika eine
absolute Spitzenstellung ein: Ein Drittel der als krebserregend eingestuften
Stoffe sind Chlorverbindungen.
Die Abbauprodukte vieler Chlororganika sind ebenfalls hochgradig
krebsauslösend.
Hormongifte
Zahlreiche Umweltchemikalien, darunter auch viele Chlorverbindungen,
haben hormonähnliche Wirkung und beeinträchtigen das hormonelle System des
Menschen.
Diese Stoffe wirken bereits in sehr geringen Konzentrationen. Und sie
wirken generationen übergreifend, denn ganz besonders betroffen ist das
ungeborene Kind, das in
seiner Entwicklung bereits durch allerkleinste Mengen hormoneller
Wirkstoffe beeinträchtigt wird. Die Folgen zeigen sich zum Teil als Mißbildung
der Reproduktionsorgane, zum Teil aber auch erst nach Jahren in Form von
Reproduktionsstörungen oder erhöhtem Krebsrisiko.
Die Studie präsentiert alarmierende Ergebnisse: Die Spermienzahl der
Männer ist in der Zeit von 1940 - 1990 um 40% zurückgegangen. Auch die
Spermienqualität nimmt ab. Zugleich häufen sich andere Störungen des männlichen
Reproduktionssystems, wie Hodenkrebs und Mißbildungen. Auch bei Frauen kommt es
zu Reproduktionsstörungen und zum Anstieg einiger Krebsarten (Brust-, Vaginal-
und Gebärmutterhalskrebs).
Eine steigende Zahl von Frauen leidet unter Endometriose.
Immungifte
Auch beim Immunsystem können kleinste Dosen vieler chlororganischer
Schadstoffe schwere Störungen hervorrufen. Die Abwehrkraft wird vermindert und
die Immunabwehr gestört.
Nervengifte
Viele Chlorchemikalien, z.B. chlorierte Lösemittel, sind ausgesprochene
Nervengifte und können zu schweren und nicht wieder heilbaren
Beeinträchtigungen des Denkvermögens und der Koordinations funktionen des
Körpers führen.
Leber- und Nierengifte
Die Leber und die Niere sind, als die wichtigsten Entgiftungsorgane des
Körpers, besonders stark mit Chlororganika belastet. Verschiedene
Chlorverbindungen können
von diesen Organen zwar in gewissem Umfang abgebaut werden. Doch sind
die Abbauprodukte häufig noch giftiger als die Ausgangsstoffe, so daß sich der
Körper
durch die Umwandlung der Chlorchemikalien große Schäden zufügt. Dies
ist z.B. der Fall bei vielen chlorierten Lösemitteln und Pestiziden wie DDT.
Auf Giftlisten führend
Das hohe Vielfalt und die Schwere der Giftauswirkungen von Chlororganika
führte dazu, daß sie heute in Gift- und Verbotslisten die größte Einzelgruppe
stellen.
Einzelne Chlororganika wie DDT, PCB's, Lindan, FCKW und PCP wurden
verboten.
Doch bis der Gesetzgeber reagierte, war es schon zu spät, um die
chemischen Verseuchung der Umwelt und des Menschen mit diesen Stoffen zu
verhindern. Denn die Stoffe waren schon in enormen Mengen in die Umwelt gelangt
und hatten sich so weit ausgebreitet, daß sie nun noch über Jahrhunderte in der
Umwelt zirkulieren werden.
Gruppengefahr - Chlor macht das Gift
Nahezu alle bis heute untersuchten synthetischen chlororganischen
Verbindungen sowie ihre Vor- bzw. Abbauprodukte erwiesen sich als umwelt- und
gesundheitsschädlich. Die festgestellte Schadwirkung, so zeigen zahlreiche
Studien, hängt in der Regel unmittelbar mit der Einführung von Chlor in einen
organischen Stoff zusammen.
Die Produktion und Freisetzung chlororganischer Produkte muß gestoppt
werden.
Das gleiche gilt für bromorganische Produkte.
- Höchste Priorität hat die Substitution der chlororganischen
Produktsparten PVC, FCKW/HFCKW, chlorierte Lösemittel, Pestizide,
Chlorparaffine, Papierbleiche und bestimmter Bereiche der Chloraromaten.
- Chlororganische Produkte müssen unverzüglich als chlorhaltig
gekennzeichnet werden.
- Die Freisetzung aller - auch schon produzierter - Chlororganika in
die Umwelt muß unterbunden werden. Hersteller und Anwender von Chlororganika
müssen für die sichere "Entsorgung" dieser Stoffe sorgen.
- Hersteller und Anwender von Chlororganika müssen für Umweltbelastungen,
für Umwelt- und Gesundheitsschäden, die durch diese Stoffe hervorgerufen
werden, haften.
- Eine grundlegende Konversion der Chlorchemie ist ökologisch notwendig
und ökonomisch tragbar. Diese Konversion muß von der chemischen Industrie eingeleitet
werden. Die Bundesregierung, die Gewerkschaften und Umweltverbänden müssen
diese Umstellung aktiv unterstützen.
- Die chemische Industrie darf grundsätzlich keine Stoffe herstellen
und vermarkten, die nicht toxikologisch eingehend untersucht sind und für die
keine Nachweisverfahren existieren.
1. Chlororganische Umweltchemikalien die krank machen
Die Chlorchemie umfaßt ein weites Gebiet unterschiedlichster
Anwendungen von chlorhaltigen Produkten. Hierfür wurden 1992 in Deutschland
rund 3 Millionen Tonnen Chlor erzeugt und in der chemischen Industrie
eingesetzt. Überall in unserer Lebens- und Arbeitsumwelt haben wir es mit
irgendeinem Vertreter der rund 11.000 chlororganischen Produkte zu tun. Auf die
verschiedenen Einsatz- und Verwendungsgebiete gehen wir im Schlußkapitel 7
näher ein. Hier, am Anfang dieser Studie, wollen wir uns auf die stofflichen
Eigenschaften der chlororganischen Verbindungen konzentrieren, insbesondere die
Frage, wie und warum sie krank machen.
Der Toxikologe Dietrich Henschler schreibt hierzu in einer neuen Studie
über die "Toxikologie chlororganischer Verbindungen": "....
unter den mutagenen und kanzerogenen Verbindungen (stellen) diejenigen mit
Chlorresten einen hohen Anteil. In Deutschland sind sie in der Liste der
gesundheitsschädlichen Arbeitsstoffe (MAK-Werte-Liste) zusammengestellt."
"Chlorhaltige Verbindungen machen ... zusammengefaßt mit ca. 50
Verbindungen ein Drittel aller bisher erfassten krebserzeugenden oder begründet
krebsverdächtigen Stoffe aus." (Henschler 1994, S. 46 f.)
Auch in anderen Giftlisten nehmen chlororganische Verbindungen
Spitzenstellungen ein
Was chlororganische Verbindungen sind, soll zuerst an einigen
Beispielen erläutert werden:
1.1 Was sind chlororganische Verbindungen?
Die Einführung von Chlor in organische (kohlenstoffhaltige) Moleküle
führt in vielen Fällen zu hochbeständigen, schwer brennbaren und stark
fettlöslichen Substanzen:
Chlorkohlenwasserstoffe (CKW). Jene drei Eigenschaften - Persistenz,
Unbrennbarkeit und Lipophilie - sind es vor allem, denen die organische
Chlorchemikalien ihren
steilen Aufstieg nach dem Kriege verdanken. Zu diesen Merkmalen kam die
vermeintlich geringe Toxizität, von der man aufgrund der Reaktionsträgkeit
hochchlorierter Kohlenwasserstoffe ausging.
Chlorierte Kohlenwasserstoffe lassen sich vereinfacht in zwei Gruppen
unterteilen:
Erstens die leichtflüchtigen CKW und FCKW, die sich aus offenkettigen,
d.h. linearen (aliphatischen) Kohlenwasserstoffen ableiten. Zweitens die
schwerflüchtigen CKW,
die meist polychlorierte Ring- oder Aromatenstrukturen aufweisen.
Offene und zyklische Chlororganika unterscheiden sich auch hinsichtlich
chemischer Eigenschaften wie Reaktionsfreudigkeit, Stabilität, Abbaubarkeit und
direkte bzw. indirekte Toxizität, also Eigenschaften, die unter
gesundheitlichen Aspekten wichtig sind.
Einige Anwendungsbeispiele für beide Gruppen:
1. Leichtflüchtige Chlororganika:
• Chlorierte Kohlenwasserstoffe wie Perchlorethylen, Trichlorethylen,
Methylenchlorid u.a. nahmen in der industriellen Metallentfettung, Entlackung
und Extraktion, beim Abbeizen sowie in der Chemisch-Reinigung die Stelle der
früher eingesetzten brennbaren Benzine als universelle Lösemittel ein.
• In der Kältetechnik und in Spraydosen sowie beim Kunststoffschäumen
setzten sich hochstabile und unbrennbare Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffe (FCKW)
ebenfalls als sogenannte Sicherheits-, Kälte- und -Treibmittel durch.
2. Schwerflüchtige Chlororganika:
• Mehrfachchlorierte zyklische Kohlenwasserstoffe werden als Pestizide
im Pflanzenschutz eingesetzt (z.B. DDT): Aufgrund ihrer chemischen
Beständigkeit und Schwerflüchtigkeit stehen
sie in den Pflanzen lange genug zur Verfügung und durchdringen dank
ihres hohen Fettlösevermögens die Wachsschicht von Insekten.
• Polychlorierte Biphenyle (PCBs) sind nicht nur chemisch sehr stabil
und schwer brennbar, sondern auch elektrische Nichtleiter. Die Elektrotechnik
setzte sie daher nach
1930 als Kühl- bzw. Isolierflüssigkeit
in Transformatoren bzw. Kondensatoren ein. Im Bergbau kamen sie
untertage als unbrennbare Hydrauliköle zum Einsatz.
• Stabil und global in der
Umwelt verbreitet ist auch Pentachlorphenol, ein starkes Gift für tierische und
pflanzliche Lebewesen quer durch das ganze Organismenreich.
Es wurde daher als Pestizid und Herbizid, als Konservierungs- und
Desinfektionsmittel in breitem Maße eingesetzt und hat erst jüngst in der
Bundesrepublik durch den
sog. Holzschutzmittelprozeß traurige Berühmtheit erlangt.
Andere Anwendungsformen von Chlor und Chlororganika, die vorerst nur
erwähnt werden sollen, betreffen z.B. den unter dem Kürzel PVC bekannten
Kunststoff Polyvinylchlorid, Chloroprenkautschuk, Chlor in der Chlorbleiche von
Papier, Chlor in Farbstoffen oder chlorhaltige Zwischenprodukte in der
chemischen Industrie.
1.2 Der Nachteil der Beständigkeit und Fettlöslichkeit: Globale
Verteilung und Anreicherung in der Nahrungskette
Bei den Pestiziden, die bewußt in die Umwelt freigesetzt werden, fiel
die nachteilige Kehrseite der Persistenz und Fettlöslichkeit polychlorierter
zyklischer Verbindungen zuerst auf. Als flüchtige Substanzen mit langer
Lebensdauer werden sie durch meteorologische und hydrologische Vorgänge
-Verdriftung durch Wind und Wasser- global verteilt. Viele davon sind heute "ubiquitär",
d.h. sie kommen überall vor. Dank ihrer Stabilität und Lipophilie
(Fettlöslichkeit) reichern sie sich bevorzugt im Fettgewebe von Organismen an
(Bioakkumulation). So angereichert, werden sie in der
Nahrungskette von Organismus zu Organismus weitergereicht und dabei
aufkonzentriert (Biomagnifikation).
In den sechziger Jahren wurde bekannt, daß am Ende von aquatischen
Nahrungsketten an großen Binnenseen, Flüssen oder Meeren stehende Seevögel
sowie von Kleintieren lebende Raubvögel wegen erhöhten DDT-Gehalts Störungen im
Östrogenhaushalt aufwiesen, der zu verdünnten Eierschalen (mangelnde
Kalkbildung) führte und die Fortpflanzung der Tiere gefährdete (Ratcliffe 1967;
Meyburg/Chancellor 1989). Am bekanntesten wurde in Deutschland der Einbruch der
Wanderfalken-Populationen.
Bald stellte sich bei allen dem DDT verwandten polychlorierten
zyklischen
Verbindungen heraus, daß sie als solche "Umweltchemikalien"
wirken.
Unter Umweltchemikalien verstehen wir hier Stoffe, die wegen ihrer
Persistenz meist ubiquitär in der Ökosphäre verbreitet, also “allgegenwärtig”
sind. Außer zahlreichen weiteren chlororganischen Pestiziden sind z.B. auch
PCBs über Wasser- und Luftbewegungen (z.T. an Bodenpartikel gebunden) bis in
den Schnee der Rocky Mountains
und die Sedimente der Tiefsee gelangt. Zu den Umweltchemikalien zählen
auch die gefährlichsten von allen Chlorchemikalien: die spätestens seit dem
Seveso-Unfall von
1976 als zwangsläufige Nebenprodukte der Chlorchemie erkannten und als
die stärksten anthropogenen Gifte identifizierten Dioxine (polychlorierte Dibenzo-p-dioxine
und -furane).
Die Mehrzahl der Umweltchemikalien ist nach wie vor unbekannt. Sie
werden bei der Messung von Umweltmedien und Organismen z.T. als nicht
identifizierbare "Peaks" registriert, können aber gar nicht oder nur
mit beachtlichem Aufwand identifiziert werden. Die organischen
Halogenverbindungen im Abwasser werden z.B. in einem Summen-Parameter
zusammengefaßt, dem sog. AOX: der Summe aller an Aktivkohle adsorbierbaren
organischen Halogenverbindungen, ausgedrückt in mg Chlorid/l.
Darauf ist eine Abwasserabgabe zu zahlen. Aber eine Zuordnung des AOX
zu Einzelstoffen ist nicht möglich; höchstens ein Zehntel des Chlorgehalts im
AOX deutscher Flüsse ist identifizierbar.
Durch die Verteilung in die Umweltmedien finden diese Chlororganika
Eingang in die Nahrungsketten, wo sie sich in tierischem Fettgewebe anreichern.
Zwar verfügen
die Organismen in unterschiedlichem Maße über Entgiftungsmechanismen
für Schadstoffe. Eine besondere Rolle spielt dabei das sog. Cytochrom P
450-System, das sich vornehmlich in Zellen des Nahrungstrakts, der Leber etc.
findet. Aber auf die synthetischen, weitgehend naturfremden Stoffe der
Chlorchemie ist dieses evolutiv
entstandene Entgiftungssystem nicht oder nur sehr unvollkommen
eingestellt. Ein biotischer Abbau findet daher meist nur extrem langsam statt
(vgl. Abschnitt 1.9).
Und sofern er stattfindet, sind die Umwandlungsprodukte (Metaboliten)
mitunter giftiger als der ursprüngliche Stoff (z.B. das DDT-Abbauprodukt
"DDE").
Im Fettgewebe von Fischen sind manche Chlororganika in zehntausendfach
höherer Konzentration als im umgebenden Wasser vorhanden. Tiere, die von
Fischen leben
(Vögel, Robben, Seehunde), konzentrieren den Schadstoff weiter auf. Das
Ausmaß der Vergiftung wurde beim Robbensterben 1988 deutlich: Weil die toten
Robben in
hohem Maße PCB’s und andere Organochlorverbindungen in ihrem Fettgewebe
enthielten, mußten sie als Sondermüll entsorgt werden.
Aber auch der Mensch steht am Ende der Nahrungskette. Insgesamt
wenigstens 177 chlororganische Verbindungen haben Toxikologen bislang im
Menschen nachgewiesen;
davon 134 in der Frauenmilch, 108 im Fettgewebe, 43 im Sperma, 29 im
Blut.
Die Aufnahme schwerflüchtiger chlororganischer Verbindungen in den
Körper geschieht zum Teil inhalativ durch partikelverschmutze Luft und dermal,
d.h. über Hautkontakt. Über 90% der Schadstoffzufuhr erfolgt jedoch über die
Nahrung. Fisch, Milchprodukte und Fleisch weisen die höchsten Konzentrationen
von chlororganischen Verbindungen auf, weil diese im tierischen Fettgewebe
gespeichert werden. Daher nehmen Vegetarier weniger belastete Nahrung auf.
Allerdings können auch sie nur schwer den Pestizidrückständen bei Obst und
Gemüse und im Trinkwasser ausweichen.
1.3 Dioxin in der Nahrungskette - "Gib uns unser täglich
Chlor"
Wie das 2. Internationale Dioxin-Symposium im November 1992 in Berlin
(Schuster et al. 1993) ergab, beträgt die mittlere tägliche Aufnahme durch
Nahrungsmittel für einen erwachsenen Bundesbürger beim chlororganischen
Hauptgift Dioxin 2 Pikogramm (pg = 2 Billionstel Gramm) pro Kilogramm
Körpergewicht. Das entspricht bei einem Körpergewicht von 75 Kilogramm einer
täglichen Gesamtaufnahme von 150 pg. Als täglich für Menschen duldbarer Wert
(TDI = tolerable daily intake) werden in Westeuropa zur Zeit 1 bzw. 10 pg
Dioxin pro Kilogramm Körpergewicht angesehen. Die US-amerikanische
Umweltbehörde EPA schlägt viel schärfere Grenzwerte vor, die weit unter 1 pg
Dioxin pro Kilogramm Körpergewicht liegen.
2 Billionstel Gramm scheinen nicht viel zu sein. Indessen sind toxische
Effekte durch Dioxine bereits in solchen gerade noch meßbaren Dosen gegenüber
Mikroorganismen nachweisbar, abgesehen davon, daß 2 Billionstel Gramm
2,3,7,8-Tetrachlor-p-Dibenzo-Dioxin (TCDD) immerhin 3,6 Milliarden Moleküle
dieser Substanz umfassen.
Anteil verschiedener Nahrungsmittel an der Dioxinaufnahme in der
Bundesrepublik (alt)
Summe aller Nahrungsmittel = 100%
Rind-/Kalbfleisch 21,8%
Schweinefleisch und Speck 7,1%
Dosenfleisch 3,3%
Geflügel und Eier 1,8%
Milch 10,3%
Milchprodukte 16,0%
Fische 34,0%
Pflanzenöl und Margarine 4,8%
Quelle: Fürst et al. 1994.
Die Anteile verschiedener Nahrungsmittel an der Aufnahme von
Chlororganika werden an der Dioxinaufnahme (Tabelle 1) verdeutlicht. Da Fische
in ihrem Fett aus
Wasser und Nahrungskette extrem viel Dioxine anreichern können, liegen
sie trotz der untergeordneten Bedeutung im Speiseplan der deutschen Bevölkerung
an der Spitze
der Aufnahmewege für nahrungsmittelbedingte Belastungen. Eine aktuelle
Greenpeace-Untersuchung von Fischölen und fischölhaltigen Gesundheitsprodukten,
die aus Fischen der Nordsee und des Nordatlantiks gewonnen wurden, belegt die
generell sehr hohe Belastung von Fischöl mit verschiedenen Chlororganika.
Fischölprodukte können wesentlich zur Belastung des Menschen mit diesen
Schadstoffen beitragen (Greenpeace 1995f).
Die atmosphärische Deposition von Dioxin-beladenen Partikeln auf Böden
und oberirdischen Futterpflanzen belastet auch die Rinder und folglich Fleisch
und Milch in erheblichem Maße. Für andere schwerflüchtige chlororganische
Schadstoffe wie PCBs und Pestizide sind die menschlichen Aufnahmewege ähnlich:
Der Hauptweg ist die Nahrungsaufnahme aus Fetten.
1.4 Abbaubar und doch giftig - zur Toxizität leichtflüchtiger
Chlororganika
Die offenkettigen, leichtflüchtigen chlorierten Kohlenwasserstoffe
(CKW) werden, trotz rückläufiger Tendenz, auch heute noch in weit größerer
Tonnage produziert als schwerflüchtige, zyklische
Chlororganika. Sie spielen außerhalb der chemischen Industrie eine
große Rolle als Lösemittel in der Metallverarbeitung (Entfettung, Entlackung)
und der Textilreinigung (Chemische Reinigung), ferner als Abbeizmittel für
Farbanstriche. Dazu sind sie infolge ihres hohen Fettlösevermögens geeignet, das
sie mit schwerflüchtigen chlorierten zyklischen Verbindungen gemeinsam haben.
Aufgrund ihrer hohen Flüchtigkeit werden sie vom Menschen jedoch weniger über
die Nahrung aufgenommen, sondern vorwiegend durch die Atmung. Von der Lunge aus
transportiert sie das Blut unverändert ins Gehirn, wo sie sich schnell
narkotisch (ZNS-suppressiv) bemerkbar machen können. (Einige chlorierte
Methan-, Ethan- und Ethenderivate wurden in der Medizin früher als Narkosegase
eingesetzt.) Bei intensiver Exposition sammeln sie sich,
wie alle fettliebenden Lösemittel, in den fettreichen Markscheiden der
Nervenfasern und im Hirn.
Sie können u.a. akute bis langfristige Nervenschäden verursachen.
Nicht wieder ausgeatmete leichtflüchtige CKW gelangen in die Leber, wo sie
sich anders als chlorierte zyklische Verbindungen verhalten. Bei den zyklischen
Verbindungen bewirken die Chloratome eine deutliche Erhöhung der molekularen
Stabilität, so daß sie gegen abiotischen und biotischen Abbau weitgehend
persistent sind und sich folglich im Körper anreichern können. Anders verhält
es sich bei offenen, kurzkettigen chlorierten Aliphaten. Das im Molekül
enthaltene Chlor labilisiert bei ihnen die chemische Struktur, weil das Chlor
die Eigenschaft hat, die Elektronen benachbarter Atome zu sich heranzuziehen
("Elektrophilie"). Dadurch wird die Bindung von Wasserstoffatomen
gelockert, die damit leichter durch Enzyme aus dem Molekül abgespalten werden
können (oxidativer Abbau). Folglich werden chlorierte Aliphaten enzymatisch
besser als
die zyklischen Chlorverbindungen umgesetzt. Das bedeutet einerseits
eine geringere Persistenz im Körper. Andererseits können enzyminduzierte
Metaboliten toxisch reagieren. Dieser Prozeß ist als "metabolische
Aktivierung" bekannt (vgl. Eisenbrand 1994, 39ff) In der Tat führt die
biologische Umwandlung bei allen chlorierten Methan- und bei fast allen Ethan-
und Ethenderivaten zu toxischen Metabolismus - wie der Körper versucht zu
entgiften.
Der Körper versucht chemische Fremdstoffe mit Hilfe von Enzymen so zu
verändern, daß eine Ausscheidung möglich ist; dieser Vorgang wird als
Metabolismus bezeichnet. Ziel der metabolischen Umwandlung ist zunächst nicht
die Umwandlung in weniger giftige Stoffe, sondern die Erhöhung der Polarität
(Wasserlöslichkeit) der Fremdstoffe,
so daß sie über den Harn oder die Galle ausgeschieden werden können.
Dabei kommt es häufig dazu, daß weniger toxische Fremdstoffe durch Enzyme in
giftigere Metaboliten umgewandelt werden, die zwar leichter wasserlöslich sind,
den Körper aber stärker schädigen. Ist der Metabolit toxischer als die
Ausgangssubstanz, wird dieser Vorgang als metabolische Aktivierung bezeichnet.
Bei Chlororganika tritt dieser Effekt häufig auf Verbindungen, die im
Falle der Ethenderivate wie Vinylchlorid oder Perchlorethylen reaktionsfähige
Epoxide (Oxirane) mit genotoxischer bzw. kanzerogener Wirkung sind.
Nur erwähnt werden kann hier die oft dauerhafte CKW-Belastung von
Grundwasser- und Trinkwasserquellen und die Gesundheitsgefährdung durch solche
Altlasten. FCKW sind ebenfalls hochflüchtige und hochstabile
Chlorkohlenwasserstoffe, in deren Molekül neben Chlor auch Fluor eingeführt
worden ist. FCKW dürfen auch in Deutschland noch weit über die Jahrtausendwende
hinaus als Kältemittel angewandt werden. Ihr toxischer Effekt ist indirekter
Art. Chlor aus FCKW greift in der Stratosphäre die lebensschützende Ozonschicht
an mit der Folge erhöhter UV-Strahlenbelastung für die Lebewesen auf der
Erdoberfläche. Da diese Fragen (Hautkrebsrisiko) anderweitig ausgiebig
dokumentiert sind, klammert vorliegende Studie diesen Fall von
Gesundheitsrisiken durch Chlororganika aus.
1.5 Unterschiedliche Gesundheitsrisiken innerhalb der Bevölkerung oder:
Die Chlorchemie ist überall.
In den Kapiteln 2 bis 4 werden Angaben aus vielen Untersuchungen
zusammengestellt, um zu zeigen, wie und wo chlorchemische Verbindungen
Gesundheitsschäden hervorrufen. Die Angaben stammen aus Laborexperimenten und
aus epidemiologischen Studien. Dazu ist noch eine Vorbemerkung erforderlich.
Im Labortest oder im Tierversuch können toxische, auch krebserzeugende
Wirkungen für die meisten chlororganischen Umweltchemikalien nachgewiesen
werden.
Negative Befunde, bei denen Chlorchemikalien keine gesundheitlichen
Auswirkungen zeigen, sind hier "eher die Ausnahme" (Henschler 1994,
S. 2). Demgegenüber
gibt es für den Riskionachweis am Menschen verständlicherweise Grenzen.
Hier können keine Experimente ausgeführt werden. Wo nicht Störfälle oder
Extrembelastungen
am Arbeitsplatz der Forschung unfreiwillig Untersuchungsmaterial
liefern, an dem sie die Auswirkungen hoher Stoffexposition erkennen kann, sind
aufwendige und langdauernde epidemiologische Untersuchungen erforderlich,
insbesondere zur Prüfung der chronischen Toxizität. Deren Ergebnisse sind in
der Regel umso aussagekräftiger, je stärker und länger die Untersuchungsgruppe
belastet wurde, die mit einer nichtexponierten Kontrollgruppe
("Fall-Kontroll-Studien") verglichen wird. Häufig werden daher für
Langzeitprogramme beruflich exponierte Personen herangezogen, die mit den
chlororganischen Stoffen zu tun haben:
z.B. Chemiearbeiter, die sie täglich produzieren, oder Metall- oder
landwirtschaftliche Arbeiter, die sie - in Form von Lösemitteln bzw. Pestiziden
- Tag für Tag anwenden. Auf die Untersuchung an solchen besonders stark
belasteten Personengruppen stützen sich viele der Aussagen in den nächsten
Kapiteln.
So könnte aus dem nachfolgenden Report der Eindruck mitgenommen werden,
als ob chlorbedingte Erkrankungen "nur" ein spezifisches Berufsrisiko
einer kleinen Minderheit seien, die mit chlororganischen Verbindungen als
Arbeitsstoffen zu tun hat, und die Allgemeinbevölkerung nicht betreffen. Dem
ist jedoch keineswegs so.
Die Annahme, daß chlororganische Gefährdungen auf das Gelände innerhalb
des Werkzauns einzuschränken seien, ist nicht stichhaltig:
a. die Gruppe der beruflich exponierten Personen innerhalb der
Allgemeinbevölkerung keineswegs klein. Menschen, die dauerhaft oder periodisch
mit chlororganischen Verbindungen zu tun haben, sind nicht nur in Chemie- und
landwirtschaftlichen oder Gartenbaubetrieben zu finden. Sie arbeiten auch in
der Metallindustrie und in Chemisch-Reinigungen (Lösemittel), in Druckereien
(Lösemittel und Druckfarben), Textilbetrieben (Pestizidrückstände und
Farbstoffe), in der Kunstoffverarbeitung (PVC, Flammschutzmittel und
Weichmacher), bei der Papierherstellung (Rückstände in Zellstoff und
Altpapier), der Elektrotechnik (Flammschutzmittel), im Bergbau (PCB-Öle), in
der Entsorgungswirtschaft (Abfallsammlung und -verbrennung) oder in Kliniken (Belastung
durch Narkotika). Auch im Büro und besonders in den modernen Bürogebäuden gibt
es vielfältige Belastungen durch chlorhaltige Ausgasungen aus
Inneneinrichtungen, Klimaanlagen (Biozide) und Arbeitsmitteln, die zu dem
sogenannten "sick-building-Syndrom" beitragen, einem in seiner
Bedeutung zunehmenden unspezifischen Unwohlsein (vgl. Pickshaus/Priester 1991).
Generell gilt jedoch, daß die chlorchemischen Belastungen in der
Arbeitswelt, vornehmlich den Fabriken, besonders hoch sind. Deswegen kommt
betrieblichen und gewerkschaftlichen Initiativen für die Substitution
chlorchemischer Gefahrstoffe besondere Bedeutung zu ("Tatort
Betrieb"; vgl. Leisewitz/Pickshaus 1992; Kalberlah 1993; IG Medien/IG
Metall 1995).
b. Die Erfahrung lehrt: Nicht nur die Dioxinbildung, sondern auch
Störfälle mit nachteiligen Hochbelastungen für die Allgemeinbevölkerung sind
eine zwangsläufige Begleiterscheinung von Produktion und Anwendung
chlororganischer Gifte. Dabei reicht die Skala von sich aufsummierenden
sogenannten alltäglichen Bagatellunfällen
bis zur Explosion ganzer Fabriken (Seveso 1976) oder den
PCB-Katastrophen in Japan und Taiwan.
So brachte der Brand bei Sandoz nahe bei Basel, bei dessen Löschung 10
bis 30 Tonnen Pestizide in den Rhein geflossen waren, die den gesamten
Fischbestand bis zur Loreley vernichteten und für zwanzig Tage die Wasserwerke
am Fluß zum Stillstand zwangen, weitere bedeutende chlororganische
Gifteinleitungen in den Rhein im gleichen Zeitraum (Juni bis November 1986) an
die Öffentlichkeit (Umweltbrief 34, S. 18):
Chlorgifteinleitungen in den Rhein zwischen Juni und November 1986 10,0
Tonnen
Dichlorethan von der BASF, Ludwigshafen (25./26.6.86) 11,0 Tonnen
Chlorbenzole von Bayer, Leverkusen (12.-14.10.86) 0,4 Tonnen
Atrazin von Ciba-Geigy, Basel (31.10.86) 2,0 Tonnen
2,4-D von der BASF, Ludwigshafen (21.11.86) 0,1 Tonnen
Chlorkresol von Bayer, Uerdingen (25.11.86)
Von der Quelle bis zur Mündung werden aus dem Rhein bzw. aus dem Uferfiltrat
pro Tag für 20 Millionen Menschen rund 5 Millionen Kubikmeter Trinkwasser
entnommen!
c. Der chlorchemische Risikofall FCKW stellt eine gänzlich umgekehrte
Situation dar. Die Gesundheitsgefahren für berufliche Hersteller und Anwender
dieses Stoffs stehen
in keinem Verhältnis zu dem quantifizierbaren Gesundheits- bzw.
Hautkrebsrisiko, das die erhöhte UV-Strahlung infolge FCKW-bedingter
Ozonschichtausdünnung für die Gesamtbevölkerung mit sich bringt.
d. Gesundheitsbeschwerden bei Anwohnern von Chemisch-Reinigungen durch
emittiertes Perchlorethylen, Nervenschädigungen tausender Menschen durch
PCP-haltige Holzschutzmittel in Innenräumen, Übelkeit bei Hobbywerkern, die
alten Lack mit Methylenchlorid aus dem Baumarkt entfernen, Kopfschmerzen bei Hausfrauen,
die PCB-Katastrophen in Japan und Taiwan 1968 erkrankten mehr als 1000 Japaner
in Yusho an Reisöl, in das aus einem defekten Behälter PCB bis zu einer
Konzentration von 2000 mg/kg und Dibenzofurane bis zu 5 mg/kg eingesickert
waren.
Bei den Betroffenen traten u.a. Chlorakne, Haarausfall, Leberschäden,
Immunschwäche, Fehlgeburten, Kindesmißbildungen und erhöhte Krebssterblichkeit
auf.
1979 ereignete sich in Taiwan ebenfalls eine Reisölvergiftung durch
PCBs. Betroffen waren die 1900 Einwohner in Yu-Cheng. Zum Glück betrug die
PCB-Konzentration
im Öl nur ein Zehntel von der in Yusho, so daß die Erkrankungen
insgesamt schwächer ausfielen (VUA 1991).
Kleidermotten mit dem Insektenspray Dichlorvos bekämpfen, das in
Methylenchlorid gelöst ist - dies sind Alltagsbegegnungen mit chlororganischen
Giften außerhalb der Fabrikzäune. Und selbst diese sind harmlos gegenüber den
leidvollen Erfahrungen Hunderter von Frauen in der Nähe des Michigan-Sees, die
Kinder zur Welt brachten, die bei der Geburt nicht nur weniger Gewicht und
geringeren Kopfumfang aufwiesen, sondern später auch überdurchschnittlich
häufig Lernschwäche und Verhaltensauffälligkeiten aufwiesen. Nachforschungen
ergaben, daß alle Frauen Fisch aus dem PCB-kontaminierten See gegessen hatten,
dessen Schadstoffgehalt im Fettgewebe der Fische um ein Vielfaches angereichert
worden war.
e. Weiter ist auf die Dauerbelastung der Umwelt aus den vielfältigen,
meist "diffusen" Quellen zu verweisen, aus denen Chlorchemikalien
permanent freigesetzt werden.
Dies reicht von Schiffsunfällen, bei denen Pestizide ins Meer gelangen,
über die wilde Entsorgung von chlorhaltigen Produkten und Abfällen bis zu den
Emissionen aus Fabrikschornsteinen und Verbrennungsanlagen sowie den Deponien.
Für die Dauerbelastung spielen nicht zuletzt Chlorchemikalien, besonders
Pestizide, eine Rolle, die in Dritte-Welt-Ländern eingesetzt und atmosphärisch
verfrachtet werden. Wie entsprechende Zusammenstellungen zeigen, gibt es heute
keinen Flecken dieser Erde mehr, der nicht mit giftigen Chlorchemikalien
belastet wäre. Das gilt auch für die
Weltmeere und die Polarregionen (vgl. Tanabe et al. 1994). Aus
hunderten von Untersuchungen an Vögeln und Fischen, Muscheln und
Meeressäugetieren wissen wir, daß
wir mit diesen Chlorchemieeinträgen in die Umwelt "außerhalb der
Fabrikzäune" nicht nur unsere eigene Gesundheit zerstören, sondern auch
die unserer Mitlebewelt (Colborn/Clement 1992; Toppari et al. 1995). Daß dabei
besonders die im und am Meer lebenden Säuger betroffen sind, sollte uns zu
denken geben. Das Schicksal der zunehmend schadstoffbelasteten Robben und
Seehunde, Wale und Eisbären mit ihren Krankheiten und Vermehrungsstörungen
könnte auch unseres sein.
f. Schließlich müssen wir darauf verweisen, daß aus verschiedenen
Gründen der Kenntnisstand über Vorkommen, Wirkungsweise und Folgen von
Chlororganika in der Umwelt, in den Nahrungsketten und im Organismus völlig
ungenügend ist und in vieler Hinsicht auch bleiben wird. Denn einerseits wissen
wir über viele Stoffe nichts,
weil sie zwar schon in ganz geringen Konzentrationen und über lange
Fristen wirksam werden können, mit den heutigen analytischen Methoden aber
nicht nachweisbar sind. Die Kenntniszuwächse der Vergangenheit gingen in hohem
Maße gerade auf neue analytische Verfahren und die Verschiebung der
Nachweisgrenze für Stoffe in den
Bereich sehr geringer Konzentrationen zurück. Im Labor werden
Einzelstoffe untersucht. In der Umwelt haben wir es aber mit dem Zusammenwirken
einer Vielzahl verschiedener Stoffe in wechselnden Konzentrationsverhältnissen
zu tun - eine "Mischung", die überhaupt nicht modellierbar ist. Dazu
kommen die biologischen Faktoren,
z.B. die unterschiedliche Wirkung eines Stoffes je nach Kondition des
Organismus (Gesundheitszustand, Streß usw.). Auch dies ist im einzelnen nicht
voraussagbar.
Die von der chemischen Industrie geforderte Einzelstoffbewertung kann
solche Wirkungen nicht erfassen. Sie ist außerdem außerordentlich zeit- und
kostenaufwendig,
so daß angesichts der großen Zahl von schlecht untersuchten Altstoffen
bei etwa 11.000 chlororganischen Verbindungen gar nicht damit zu rechnen ist,
daß sie jemals
wirklich untersucht werden. Dies ist auch einer der Gründe dafür, warum
heute das biologische Schadstoffmonitoring favorisiert wird: Man prüft anhand
von Organismen,
die auf die ganze Komplexität der Stoffexposition in der Umwelt
reagieren, ob eine Schadsatoffbelastung vorliegt oder nicht. Dabei kann man
aber nur im nachhinein feststellen, ob bzw. daß etwas “schiefgelaufen” ist. Es
gibt insofern keine vernünftige Alternative zu einer echten Vorsorgepolitik,
die nicht nur die Einzelstoffbewertung, sondern auch die Gruppeneigenschaften
von Verbindungsklassen -hier der Chlororganika- in Rechnung stellt.
1.6 Chlororganika - weiterhin auf Giftlisten führend
In der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegebenen Liste
gefährlicher Arbeitsstoffe (MAK-Liste), sind ca. 50, d.h., ein Drittel der als
krebserzeugend oder krebsverdächtig eingestuften Stoffe chlorhaltige
Verbindungen.
Die International Agency for Research on Cancer (IARC) in Lyon nennt
weitere 13 krebserzeugene Chlororganika.
Die Prioritätsliste der EU-Altstoffuntersuchung umfaßt Stoffe, die aus
ökologischer und toxikologischer Sicht besonders dringend untersucht werden
müssen.
Unter den 135 aufgelisteten Verbindungen sind 62 chlororganische
Verbindungen, d.h. 46%.
Das "Beratergremium Umwelt relevante Altstoffe (BUA)" der
Gesellschaft Deutscher Chemiker hat ebenfalls die Aufgabe besonders
risikoreiche Altchemikalien zu untersuchen. Bis Anfang 1995 legte das Gremium
108 Stoffberichte vor. 78 dieser Stoffe waren chlorhaltig und 6 bromhaltig.
D.h. 78% der Risikostoffe waren Halogen-organika.
92 von 129 Stoffen der schwarzen Liste der EU-Gewässerschutzrichtlinie
sind Chlororganika.
2. Die Wirkung chlororganischer Umweltöstrogene:
Reproduktionsstörungen, Brustkrebs, Entwicklungsstörungen
Viele in den vergangenen 50 bis 60 Jahren in die Umwelt freigesetzte
chlororganische Chemikalien beeinflussen bei Tieren und Menschen das
Hormonsystem, insbesondere die Steroidhormone.
Die Steroidhormone spielen eine große Rolle bei der Steuerung von
Entwicklungs- und Reproduktionsprozessen, so daß Störungen des Hormonhaushalts
auch die Entwicklung und Fortpflanzung
des Menschen beeinträchtigen können. In Untersuchungen wurden bei
Labortieren, Wildtieren und Menschen Zusammenhänge zwischen chlororganischen
Verbindungen und Schädigungen von Reproduktion und Entwicklung nachgewiesen.
Für lipophile (fettfreundliche) Substanzen wie die meisten Chlororganika stellt
die Plazentaschranke zwischen dem Blutkreislauf der Mutter und dem des Kindes
keine Hindernis dar. Ist die Mutter daher mit Chlororganika belastet, so sind
bei ihrem heranwachsenden Kind besonders die Organe des Reproduktionssystems in
ihrer Entwicklung gefährdet:
Brustdrüsen, Gebärmutter, Gebärmutterhals und Scheide bei Frauen,
Samenbläschen, Prostata, Nebenhoden und Hoden bei Männern. Betroffen sind aber
auch Skelett, Schilddrüse, Leber, Niere und Immunsystem. Das Kind im Mutterleib
und das sich entwickelnde Neugeborene sind gegenüber chlororganischen
Chemikalien besonders sensibel. Manche Auswirkungen sieht man sofort
(Mißbildungen bei den Nachkommen), andere zeigen sich erst, wenn die Nachkommen
sexuell voll entwickelt sind (Colborn et al. 1993).
Dieses Kapitel befaßt sich mit Entwicklungsstörungen, die durch
chlororganische Stoffe mit hormonähnlicher Wirkung ausgelöst werden. Das
betrifft sowohl vorgeburtliche Wirkungen der Exposition gegenüber Chlororganika
wie auch spätere Auswirkungen auf die Entwicklung des Reproduktionssystems beim
Erwachsenen. Es behandelt das männliche (2.1) und weibliche Reproduktionssystem
(2.2) sowie embryonale und kindliche Entwicklungsstörungen (2.3).
Vorbemerkung: Wie wirken zyklische Chlororganika reproduktionstoxisch?
besonders Gruppe von Rezeptoren kann mit dem genetischen Material in
Wechselwirkung treten. Diese Rezeptoren nehmen fast nur Steroidhormone an. Der
entsprechende Hormon-Rezeptor-Komplex kann sich mit besonderen Regionen der
Erbsubstanz (DNA) im Zellkern verbinden (McLachlan et al. 1992), die dadurch
z.B. zur Produktion bestimmter Proteine angeregt wird.
Einige chlororganische Verbindungen beeinflussen im Körper speziell die
Konzentration von Steroidhormonen. Solche Änderungen im Hormonhaushalt können
vorkommen, wenn eine Chemikalie einen spezifschen Hormonrezeptor besetzt und so
das Hormon "nachahmt" (hier wird das “Schloß” mit einem
“Nachschlüssel” geöffnet). Andererseits sind Chlororganika auch in der Lage,
durch direkte oder indirekte Reaktion mit den Hormonen diese zu verändern oder
in die Hormonsynthese einzugreifen bzw. die Zahl der Hormonrezeptoren und deren
Affinität für besondere Moleküle zu variieren bzw. zu blockieren. So wird z.B.
bei den PCBs angenommen, daß sie biologische Wirkungen meistens durch diese Mechanismen
erzielen (McKinney und Waller 1994).
Chlororganische Verbindungen wie Dioxine oder PCBs können im Körper
auch die Konzentration (den "Spiegel") von Schilddrüsenhormonen
beeinflussen, die bei Wachstums- und Entwicklungsprozessen beteiligt sind. Das
in der Hirnanhangsdrüse gebildete Follikelstimuliernde Hormon (FSH) und das
Luteinisierende Hormon (LH) können gleichfalls durch Chlororganika beeinflußt
werden (McLachlan et al. 1992).
Diese Hormone spielen für die Entwicklung von Eizellen und Spermien
eine wichtige Rolle und ebenso für die Ausbildung der sekundären
Geschlechtsmerkmale. Sie wirken auch bei der Regulierung anderer Hormone mit
(Hall und Besser 1989).
Dioxine und der Ah-Rezeptor
Große Anstrengungen wurden auf die Erforschung der Toxizität von
Dioxinen und Furanen (PCDD/Fs), speziell des brisantesten Kongeners TCDD
verwendet. Offenbar wirken Dioxine auf den Körper über Steroidhormon-Rezeptoren
sowie durch Beeinflussung des Steroid-Metabolismus. Durch in vitro- und in
vivo-Studien stellte sich auch heraus, daß einige Dioxineffekte offensichtlich
durch einen anderen Rezeptor vermittelt werden - den Aryl-hydrocarbon-Rezeptor
(gleichbedeutend mit Ah-Rezeptor oder Aromaten-Kohlenwasserstoff-Rezeptor).
Einige natürliche Verbindungen (besonders aus Pflanzen) weisen eine Affinität
zu diesem Rezeptor auf. Es ist denkbar, daß der
Ah-Rezeptor sich als System für die Verstoffwechselung lipophiler
Nahrungssubstanzen evolutionsgeschichtlich entwickelt hat (US EPA 1994a).
Die Besetzung des Ah-Rezeptors durch Dioxin kann eine Kaskade
verschiedener biochemischer und zellulärer Reaktionen auslösen. Wie bei
Steroidhormon-Rezeptoren bildet sich bei der Dioxin-Bindung an den Ah-Rezeptor
ein Komplex, der sich mit der DNA verbinden und die Aktivität von Genen beeinflussen
kann. Experimentell nachgewiesene Dioxinwirkungen betreffen die Induktion einer
vermehrten Bildung von Cytochrom P450-Enzymen in der Leber, Gewichtsabnahme und
Lebervergiftung.
Andere Dioxinwirkungen sind z.B. Neurotoxizität, Hauttoxizität, Immuntoxizität,
veränderter Fettstoffwechsel und Reproduktions- und Entwicklungstoxizität.
Vermutlich werden viele dieser biologischen Wirkungen ebenfalls durch den
Ah-Rezeptor vermittelt (US EPA 1994). Hier besteht aber noch viel
Forschungsbedarf. Auch einige PCBs (koplanare PCBs und ihre koplanaren
Mono-ortho-Derivate) können über diesen Mechanismus ihre toxische Wirkung
entfalten (Safe 1994).
2.1 Reproduktionsstörungen beim Mann
Neuere Forschungen zu Schädigungen der männlichen Fortpflanzungsorgane
haben das Interesse auf chlororganische Umweltchemikalien gelenkt, denen ein
Stör- und Schädigungspotential gegenüber dem Hormonsystem zugesprochen wird.
In den letzten 50 Jahren ist in diesem Zusammenhang folgendes
festgestellt worden:
• Die Zahl der Spermien ist zwischen 1940 und 1990 um 40% gesunken
(Carlsen et al. 1992). Jüngere Studien aus Frankreich und Belgien (Auger et al.
1995) legen nahe,
daß der Rückgang der Reduktionsrate zur Zeit bei zwei Prozent jährlich liegt.
Dazu kommt, daß sich die Samenqualität verschlechterte (der Anteil abnormaler
Spermien ist gestiegen und die Samenbeweglichkeit zurückgegangen). Diese
Resultate stützen die Vermutung, daß die männliche Fruchtbarkeit zurückgeht.
• Die Häufigkeit des Auftretens von Hodenkrebs hat zugenommen. Aus
Dänemark wurde in einer unstrittigen Studie eine drei- bis vierfache Zunahme
für den Zeitraum zwischen den vierziger und achtziger Jahren berichtet
(Giwercman und Skakkebaek 1992). Andere Untersuchungen in Europa und den USA
kommen zu vergleichbaren Ergebnissen.
• Eine Zunahme weiterer Störungen des männlichen Reproduktionssystems
wie Hodenhochstand (Kryptorchismus) und Mißbildungen der Harnröhre (Hypospadie)
wird in Europa gemeldet.
Diese Trends werden auch in einer neuen internationalen
Übersichtspublikation bestätigt, die für das dänische Umweltministerium
zusammengestellt worden ist (Toppari et al. 1995).
Die Entwicklung des männlichen Reproduktionstrakts beim Fetus ist sehr
empfindlich gegenüber der Konzentration des weiblichen Sexualhormons Östrogen
bei der Mutter.
Höher als normal liegende Östrogenspiegel können zu weitreichenden
Störungen des Reproduktionssystems bei männlichen Kindern führen. Dies ist
durch Studien bei
Frauen belegt, die während ihrer Schwangerschaft das synthetische
Östrogen DES (Diethylstilböstrol) eingenommen hatten. DES wurde lange Zeit in
großem Umfang
zur Stabilisierung der Schwangerschaft gegen Spontanabort verschrieben.
Die männlichen Kinder dieser Frauen wiesen überdurchschnittlich häufig
Kryptorchismus und Hypospadie auf sowie eine reduzierte Spermienzahl, sobald
sie erwachsen waren.
Da viele Umweltchemikalien, einschließlich der chlororganischen, sich
im Körper in der dargestellten Weise wie Östrogene verhalten, wurde die Hypothese
aufgestellt, dass diese "östrogen-irksamen" Chemikalien zum Teil für
die Zunahme der männlichen Reproduktionsstörungen in den letzten 50 Jahre
verantwortlich sind (Sharpe und Skakkebaek 1993; Toppari et al 1995).
Die schwach östrogene Wirkung vieler Chemikalien, mit denen in den
letzten 50 Jahren die Umwelt belastet worden ist -darunter auch Chlororganika-
ist bei in vitro- oder
in vivo-Versuchen nachgewiesen worden. Es handelt sich bei den
chlorhaltigen Stoffen überwiegend um Pestizide, die zwar in der Landwirtschaft
(z.T. im Ausland) ausgebracht werden, die aber auf dem Weg über Lebensmittel,
Trinkwasser, Textilien und durch atmosphärische Verfrachtung zum Verbraucher
zurückgelangen können.
Genannt werden u.a. die Substanzen Alachlor, Methoxychlor, 2,4-D,
Dicofol, Endosulfan, Lindan, die auch in Deutschland zugelassen sind, sowie die
im Inland verbotenen Stoffe Chlordecon, β-Hexachlorcyclohexan, DDT/DDE,
Toxaphen, Nitrofen, Aldrin/Dieldrin u.a.. Zu den östrogen-wirksamen
Chlororganika gehören aber auch einige PCBs und das PCP. Dabei haben in
vitro-Studien auch ergeben, dass diese östrogenähnlichen Umweltchemikalien
kumulativ wirken, d.h. sich wechselseitig in ihrer Wirkung verstärken. Dioxine
werden nicht als direkt östrogen-wirksam eingestuft, allerdings entfalten sie
enorme toxische Wirkung auf den Hormonhaushalt.
Es kommen viele Faktoren für die Zunahme männlicher
Reproduktionsstörungen infrage. Rauch- und Trinkgewohnheiten haben sich in den
letzten 60 Jahren ebenso merklich verändert wie das Sexualverhalten. Höhere
Promiskuität kann das Risiko für Geschlechtskrankheiten erhöhen, die oft zu
Infektionen des Genitaltrakts mit der Folge verminderter Spermienzahl führen.
Es gibt keinen schlüssigen Beweis, daß Rauchen die Spermienzahl bei Männern
reduziert, aber Rauchen während der Schwangerschaft kann die Keimdrüsen des
Embryos angreifen. Exzessiver, nicht aber moderater Alkoholkonsum stört die
Spermatogenese. Auch radioaktive Strahlung beeinträchtigt die Samenqualität
(Giwercman et al. 1993).
Chlororganische Umweltchemikalien mit Störpotential auf Hormonhaushalt
und Reproduktionssystem bei Labortieren, Wildtieren +/o. Menschen Pestizide
Industriechemikalien
Alachlor
Dioxin (2,3,7,8-TCDD)
Atrazin *
PCBs *
Chlordan *
Pentachlorphenol (PCP) *
2,4 Dichlorphenoxyessigsäure (2,4-D)
2,4,5-Trichlorphenoxyessigsäure (2,4,5-T *
DBCP (1,2-Dibrom-3-chlorpropan) *
DDT und Metaboliten *
Dicofol
Dieldrin *
Endosulfan
Heptachlor *
Hexachlorbenzol (HCB) *
β-Hexachlorcyclohexan *
Kepone (Chlordecon) *
Lindan
Methoxychlor
Mirex *
Nitrofen *
Toxaphen *
* nicht mehr zur Anwendung in Deutschland
zugelassen (eigene Zusammenstellung). Hauptquelle: Colborn et al. 1993.
Die genannten Faktoren können zum Anstieg von Reproduktionsschäden beim
Mann in der jüngeren Zeit beigetragen haben. Dieses Problem ist nicht nur durch
Veränderungen der Lebensweise erklärbar, zumal es weltweit auftritt. Dazu
kommt, dass es sich um eine Zunahme verschiedener Störungen des männlichen
Reproduktionssystems handelt, die vermutlich während der Entwicklung des Fetus
im Mutterleib angelegt wurden, so daß es naheliegt, nach pränatal wirkenden
Ursachen
zu suchen. Der Hauptverdacht fällt hier auf chlororganische
Umweltchemikalien, die das natürliche Hormonsystem der Mütter zu stören
vermögen.
2.1.1 Exposition vor der Geburt
Dioxine sind zwar keine östrogen-wirksamen Chemikalien, aber sie zeigen
ähnlich schädliche Wirkungen auf das sich entwickelnde männliche
Reproduktionssystem.
Versuche mit Ratten bestätigen, daß Dioxinexposition in utero die Konzentration
männlicher Sexualhormone einschließlich Testosteron verändert. Diese Hormone
sind an
der normalen Entwicklung von männlichen Reproduktionsorganen und
männlichem Sexualverhalten entscheidend beteiligt, so daß erwartet werden kann,
daß Dioxine die männliche Sexualentwicklung beeinflussen. Die Exposition
trächtiger Ratten gegenüber einer relativ niedrigen Dioxindosis (TCDD) führte
zu dauerhaften Veränderungen bei den männlichen Nachkommen: reduzierte
Spermienzahl, geringeres Hodengewicht und reduzierte sekundäre
Geschlechtsmerkmale (Peterson et. al. 1993). In einem jüngeren Versuch zeigten
sich diese Effekte schon nach einer einzigen kleinen Dioxindosis (TCDD) (64
ng/kg), die zu einem kritischen Zeitpunkt (am 15. Tag) nach der Paarung
verabreicht wurde. Kein Effekt gegenüber anderen Organen ist jemals bei einer
so niedrigen Gesamtdosis beobachtet worden. Die Studie schlußfolgert, daß das
männliche Reproduktionssystem hochgradig sensibel gegenüber perinataler (vor-
und unmittelbar nach der Geburt erfolgter) Dioxinexposition ist (Mably et. al.
1992).
Bei Inuits (Eskimos), die aufgrund ihrer Fisch- (und Robben-)ernährung
relativ hoch dioxinbelastet sind, wurden deutliche Beeinträchtigungen der
Kindesentwicklung im Mutterleib festgestellt. Neugeborene Jungen waren kleiner
als Mädchen, und diese Abweichung stand in direktem Zusammenhang mit der Höhe
der Dioxinbelastung der Mutter (vgl. Greenpeace 1994).
PCBs
In Taiwan wurden 1978/79 beim Yu-Cheng-Unfall viele Personen durch den
Konsum von PCB- und Dioxin-verseuchtem Reis vergiftet. Zur
Geschlechtsentwicklung der Kinder von Frauen, die während des Unfalls schwanger
waren, liegt nun eine Studie vor (Guo et al. 1993). Ihre Ergebnisse zeigen bei
Jungen im Alter von 11 bis 14 Jahren signifikant kürzere Penisse als bei den
Kindern aus der Kontrollgruppe. Diese Wirkung geht mit großer
Wahrscheinlichkeit auf die in utero-Exposition gegenüber PCBs
zurück, die östrogen-wirksame Substanzen sind.
2.1.2 Exposition bei erwachsenen Männern
PCBs
Wahrscheinlich gibt es verschiedene Mechanismen, durch die
chlororganische Chemikalien die Fruchbarkeit erwachsener Männer
beeinträchtigen. Tierexperimente haben gezeigt, daß Chlororganika
möglicherweise mit Sexualhormonen reagieren, die am Testosteron-Stoffwechsel
beteiligt sind (Pines et al. 1987). Andererseits können chlororganische
Verbindungen eine Steigerung der Östrogen-Aktivität oder direkte Schädigung von
Hodenzellen und Samen bewirken. Auch die Samenbeweglichkeit
kann durch Chlororganika beeinträchtigt werden. So fanden z.B. Bush et
al. (1986)
einen Zusammenhang zwischen der Samenbeweglichkeit und der
Konzentration einiger PCBs bei unfruchtbaren Männern.
DDT, HCH, Endosulfan
Verschiedene Studien zeigen, daß die berufliche Exposition gegenüber
chlororganischen Chemikalien die männliche Fruchtbarkeit beeinträchtigt. Rupa
et al. (1991) führten eine Untersuchung zur Fruchtbarkeit von 1016 männlichen
Arbeitern durch, die einer Mischung chlororganischer Pestizide auf indischen
Baumwollfeldern ausgesetzt waren. Die für die Untersuchung ausgewählten
Arbeiter waren mit Mischen und Versprühen von Pestiziden beschäftigt, und zwar
jährlich von Juli bis März für die Dauer zwischen
1 und 20 Jahren. Sie waren chlororganischen Pestiziden wie DDT,
α- und β-HCH und Endosulfan ebenso ausgesetzt wie
phosphororganischen Pestiziden.
Die Studie teilte die Arbeiter in Raucher und Nichtraucher ein. Beide
Gruppen wurden mit Kontrollgruppen aus dem gleichen sozialen Milieu verglichen,
die beruflich keinen Pestiziden ausgesetzt waren. Die statistische Analyse
zeigte gegenüber der Kontrollgruppe einen signifikante Rückgang fruchtbarer
Männer in der Gruppe, die Pestiziden ausgesetzt war. In der Nichtrauchergruppe
betrug die Zahl fruchtbarer Männer 83,7% verglichen mit 96,5% bei den
Kontrollpersonen, und in der Rauchergruppe waren es 76,7% gegenüber 92,5%.
Betrachtet man die Folgen für die Kinder derjenigen Arbeiter, die mit
Pestiziden zu tun hatten, so ergibt sich eine signifikante Zunahme weiterer
Reproduktionsstörungen wie z.B. Totgeburten, Säuglingsstod und Schädigungen der
Genitalien. Diese Effekte lassen auf Chromosomenschädigungen in den Keimzellen
schließen, in denen das Sperma produziert wird. Die Studie veranschaulicht, daß
die Exposition gegenüber derartigen Pestizidmischungen sowohl die Fruchtbarkeit
erwachsener Männer als auch die Entwicklung der Kinder von exponierten Männern
beeinträchtigen kann.
Dioxine
Aus verschiedenen Studien weiß man, daß auch die berufliche Belastung
mit Dioxinen das männliche Reproduktionssystem des Erwachsenen angreift. Eine
jüngere Studie über Chemiearbeiter, die Dioxinen ausgesetzt waren, fand
Veränderungen bei drei Sexualhormonen, u.a. einen Rückgang des
Testosteron-Spiegels. Diese Veränderungen standen signifikant in Zusammenhang
mit dem Dioxinspiegel im Blut.
Daraus wurde geschlossen, daß Dioxin die Ursache für die
Hormonspiegeländerung war (Egeland et al. 1994). Schließlich ist eine
Untersuchung über Arbeiter im Gange,
die in einem britischen Chemiebetrieb (Coalite Chemicals) über viele
Jahre hinweg Dioxinen ausgesetzt waren. Hier zeigten sich erhöhte Dioxinspiegel
(TCDD) im Blut
und signifikant niedrigere Testosteron-Werte (Howard et al. 1995, in
Vorber.).
Zu den besonders dioxinverseuchten Regionen dieser Welt gehört -neben
dem ICMESA-Fabrikgelände in Seveso, dem BASF-Gelände in Ludwigshafen oder Times
Beach
in Missouri- allesamt durch Unfälle verseucht - ein großer Teil
Südvietnams.
Über 10% des Landes wurden zwischen 1962 und 1971 im Vietnamkrieg etwa
170 kg TCDD, das als Verunreinigung in dem chlororganischen Entlaubungsmittel
Agent Orange enthalten war, versprüht. Ein Großteil der südvietnamesischen
Bevölkerung ist hier stark dioxin-exponiert worden. Erste Untersuchungen
(Phuong 1989; Phiet 1989) an Krankenhauspatienten ergaben hohe Dioxin-Depots im
Körperfett. In einzelnen Fällen wurden Krebsvorstufen (Prostata) und
Krebserkrankungen (Leber, Magen) gefunden. Diese Befunde können, da es sich
noch nicht um epidemiologische Studien handelt, - sie sind in Vorbereitung -
nicht auf die Dioxin-Belastung kausal zurückgeführt werden. Doch liegt ein
Zusammenhang nahe. Darauf verweisen auch Befunde an ehemaligen US-Soldaten, die
Agent Orange versprüht hatten. Nach dem Kriege stellte sich bei ihnen eine
Verminderung der Hodengröße heraus, die mit einem erhöhten Dioxin-Spiegel im
Blut ursächlich in Zusammenhang gebracht wurde (Wolfe et al. 1992).
2.2 Reproduktionsstörungen bei der Frau
Frauen in Industrieländern erreichen heutzutage die Pubertät (Menarche)
früher und das Klimakterium später. Sie stillen weniger oft und kürzer. Bei den
Erkrankungen ist
ein Anstieg einiger Krebsarten des Reproduktionssystems feststellbar:
Brustkrebs und Vaginal- bzw. Gebärmutterhalskrebs. Die Fälle von Endometriose
(Gebärmutterauswucherungen) nehmen zu. Gleichzeitig sinkt das Lebensalter ihres
Auftretens. Möglicherweise sind viele dieser Erscheinungen mit erhöhter
Exposition gegenüber östrogen-wirksamen Chemikalien während der
Entwicklungsphase oder im Erwachsenenstadium verbunden (Eaton et al. 1994).
Früher erhielten schwangere Frauen zur Stabilisierung ihrer
Schwangerschaft oft ein synthetisches Östrogen (Diethylstilöstrol, DES).
Erwachsene Frauen, die selbst vorgeburtlich in utero auf diese Weise dem
synthetischen Östrogen DES ausgesetzt waren, erkrankten in erhöhtem Maße an
Vaginal- und Gebärmutterhalskrebs, und sie wiesen mehr Fertilitätsprobleme auf
(Hines 1992). In einem Bericht über 20 unfruchtbare Frauen in Heidelberg wiesen
8 dieser Frauen erhöhte Blutbelastungen mit den chlororganischen
Holzschutzmitteln Lindan (> 0,1 Mikrogramm/l) +/o. Pentachlorphenol
(> 25 Mikrogramm/l) auf. Diese Belastung kann Störungen in der
Balance der Sexualhormone verursacht und zu Fertilitätsproblemen geführt haben
(Gerhard et al. 1991). Schließlich zeigte eine Studie zur chlororganischen
Belastung von Muttermilch, daß höhere Belastungswerte mit kürzeren Perioden der
Milchabsonderung verbunden waren (Hunter und Kelsey 1993).
2.2.1 Brustkrebs
Die Fälle von Brustkrebs haben in der jüngeren Zeit sowohl in
Industrie- als auch in Entwicklungsländern kontinuierlich zugenommen. Eine von
12 Frauen in Deutschland erkrankt im Laufe ihres Lebens an Brustkrebs.
Brustkrebs machte 1980 von allen festgestellten Krebserkrankungen in
entwickelten Ländern 22,9%, in Entwicklungsländern 14,2% aus (Boyle 1991). Auf
Brustkrebs gehen in den Industrieländern zwischen 3 und 5% aller Sterbefälle
zurück. In Entwicklungsländern sind es zwischen 1 und 3%.
Risikofaktoren
Als wichtige Risikofaktoren für Brustkrebs gelten die familiäre Vorbelastung
(genetische Disposition), Altersfaktoren (frühe Pubertät, späte erste
Schwangerschaft und spätes Klimakterium), die Ernährung, Alkoholkonsum,
Übergewicht und Strahlungsbelastung.
Diese Risikofaktoren erklären jedoch allenfalls 30% aller Brustkrebsfälle.
Aus Experimenten und aus Humanuntersuchungen geht hervor, daß einige dieser
Risikofaktoren mit der
Lebenszeitexposition gegenüber Sexualhormonen in Zusammenhang stehen: Je
größer die gesamte Lebenszeitexposition gegenüber Östrogen ist, desto größer
ist das Brustkrebsrisiko. Erhöhte Östrogenwerte können das Brustkrebsrisiko
also steigern. Seit bekannt ist, daß östrogen-wirksame Umweltchemikalien wie
natürliche Östrogene wirken oder ihren Metabolismus stören können, wurde die
Hypothese aufgestellt, daß solche Chemikalien auch das Brustkrebsrisiko erhöhen
können (Davis et al. 1993).
Zwei weitere Risikofaktoren sind nicht eindeutig belegt: Fettkonsum als
risikoerhöhender und Stillen als risikomindernder Faktor. Beide könnten mit der
östrogenen Wirkung von Umweltchemikalien in Verbindung stehen: Mit Fett werden
diese Chemikalien vermehrt aufgenommen, und beim Stillen entlastet sich die
Mutter von diesem potentiellen Risikofaktor (Dewailly et al. 1993).
Mechanismen der Brustkrebsentwicklung
Einige chlororganische Pestizide, z.B. DDT und Triazine wie Atrazin
können Brustkrebs bei Labortieren auslösen oder fördern (Scribner und Mottet
1981, Stevens et al. 1994;
zur Induktion und Promotion von Krebs vgl. Abschnitt 3).
Die Mechanismen, durch die solche Umweltöstrogene das Brustkrebsrisiko
erhöhen könnten, haben wir schon dargestellt: Veränderungen des
Östrogen-Stoffwechsels oder östrogen ähnliche Wirkung durch Besetzung der
Östrogen-Rezeptoren. Andererseits ist es denkbar, daß diese Chemikalien auch
völlig außerhalb des Östrogen-Stoffwechsels direkt kanzerogen wirken (über
ihren Abbau durch Cytochrom P450 Enzyme und durch Beeinflussung bestimmter
Gene) (Davis et al. 1993).
Experimentelle Befunde liegen dafür vor, daß eine Zunahme des
Östrogenspiegels die Brustzellenwucherung fördern (promovieren) kann.
Untersuchungen bei Menschen zeigen auch, daß erhöhte Exposition gegenüber
exogenen (körperfremden) Östrogenen das Brustkrebsrisiko steigern kann. Zum
Beispiel kann die Östrogen-Substitutionstherapie bei Frauen das
Brustkrebskrisiko um etwa 30% nach 15 Jahren Anwendung erhöhen (Steinburg et
al. 1991). Ähnlich hatten Frauen, die das synthetische Östrogen DES einnahmen,
ein erhöhtes Risiko, Brustkrebs zu entwickeln (Boyle 1991).
HCH, DDT, PCB
Eine Untersuchung von Mussala-Rauhama et al. (1990) fand, daß das
Brustgewebe von Brustkrebspatientinnen signifikant, d.h. um 40% höhere, Werte
von β-HCH aufwies als das Gewebe gesunder Frauen (Durchschnittswert: 0,13
gegenüber 0,08 ppb).
Neue Erkenntnisse zum chlororganisch gestörten Östrogen-Stoffwechsel
Nach jüngeren Studien kann der Östrogen-Haushalt auch durch
Umweltöstrogene angegriffen werden. Und zwar wird Östrogen im Körper offenbar
auf zwei sich wechselseitig ausschließenden Wegen abgebaut:
Auf dem Abbauweg I wird Östrogen zu 2-Hydroxy-Estron (2-OHE1)
metabolisiert, einer Verbindung, die nachweislich die Brustzellenwucherung
hemmt. Diese Verbindung kann daher vor Brustkrebs schützen. Der Abbauweg II
führt jedoch zu einer anderen Verbindung, genannt 16a-Hydroxy-Estron (16a-OHE1),
die das Brustzellenwachstum fördert (da sie sich an den Östrogenrezeptor
kovalent binden kann). 16a-OHE1 wurde in vitro bei Kulturen von Brustzellen als
gentoxisch nachgewiesen (Schädigung der DNA). Tierversuche zeigten einen
erhöhten Anteil von 16-OHE1 bei Brustkrebs (erhöhte Rate von 16a-OHE1 zu
2-OHE1). Nach Befunden ist auch beim menschlichen Brustkrebs der Spiegel von
16a-OHE1 um 50% erhöht. So ist es durchaus wahrscheinlich, daß ein Anstieg von
16a-OHE1 positiv mit erhöhtem Brustkrebsrisiko verbunden ist (Davis et al.
1993).
Eine neue Studie untersuchte in vitro die Auswirkung verschiedener
chlororganischer Verbindungen auf den Östrogen-Metabolismus bei
Brustkrebszellen (Bradlow et al. 1995, persönliche Mitteilung). Die
chlororganischen Pestizide Atrazin, Lindan, DDT, DDE, HCH, Kepone, Endosulfan I
und II sowie PCBs hatten die Rate von 16a-OHE1 gegenüber 2-OHE1 signifikant
erhöht.
Die Chemikalien erhöhten diese Rate sogar in größerem Maße als
Dimethylbenzanthrazen (DMBA), ein bekanntes Karzinogen. Die größten
Auswirkungen wurden bei o,p'-DDE, Kepone und Atrazin beobachtet. Somit ist es
möglich, daß einige Chlororganika das Brustkrebsrisko durch Angriff auf den
Östrogen-Metabolismus steigern, wobei
die Rate 16-OHE1/2-OHE1 erhöht wird.
Zwei andere Studien bezogen DDT und PCBs auf Brustkrebs (Falck et al.
1992, Wolff et al. 1993). Die Studie von Falck et al. (1992) führte
Konzentrationsmessungen verschiedener Chlororganika bei Brustgeweben von
zwanzig Frauen mit Brustkrebs durch. Die Resultate wurden mit Brustgewebe
verglichen, das von zwanzig, nach Alter und anderen relevanten Merkmalen
vergleichbaren, Frauen ohne Erkrankung stammte.
Das Brustfett der Frauen mit Krebs enthielt rund 40% mehr DDE
(Hauptabbauprodukt von DDT) und PCBs als das der Kontrollgruppe. Die Ergebnisse
waren statistisch signifikant und legen nahe, daß diese östrogen-wirksamen
Chemikalien bei der Entstehung von Brustkrebs eine Rolle spielen. Nach Ansicht
der Autoren (Falck et al. 1992)
ist jedoch nicht auszuschließen, daß die höheren
Brustgewebekonzentrationen an DDE und PCBs bei den Krebsfällen erst auf eine
Chemikalien Umverteilung in die Brust während des Krankheitsverlaufs
zurückgehen. Eine neuere Studie klärte diese Frage teilweise auf, indem sie
Blut anstatt Brustgewebe auswählte, und auf Proben aus der
Zeit kurz vor der Krebsdiagnose zurückgriff (Wolff et al. 1993). Die
Konzentration von östrogen-wirksamen Umweltchemikalien wurde im Blut von 58
Frauen gemessen,
die 6 Monate nach Beginn der Studie Brustkrebs entwickelten. Diese
wurden mit dem Blut von 171 Frauen (Kontrollgruppe) verglichen, die während der
Studiendauer nicht an Brustkrebs erkrankten. Die durchschnittlichen DDE- und
PCB-Werte bei den Brustkrebspatientinnen waren höher als in der Kontrollgruppe,
aber statistische Signifikanz
lag nur für DDE vor. Berechnungen zufolge entwickeln Frauen mit solch
erhöhtem DDE-Pegel mit vierfacher Wahrscheinlichkeit Brustkrebs.
Eine ähnliche, aber größere Studie als diejenige von Wolff et al.
(1993) wurde von Krieger et al. (1994) durchgeführt. Sie fand jedoch keine
Verbindung zwischen dem Chlororganik-Blutspiegel und Brustkrebs. Rund um die
San Francisco Bay hatten sich zwischen 1964 und 1971 Tausende von Frauen einer
mehrphasigen medizinischen Untersuchung unterzogen, bei der Blutproben genommen
und eingefroren worden waren. Der Gesundheitszustand der Frauen wurde bis Ende
1990 verfolgt.
150 Frauen aus dieser Gruppe (50 Weiße, 50 Schwarze, 50 Asiatinnen),
die nach Beginn jener Untersuchungen mehr als sechs Monate lang Brustkrebs
hatten (im Durchschnitt 14 Jahre), wurden für Kriegers Studie ausgesucht. Im
Unterschied zu vorhergehenden Studien standen dieser Studie Blutproben aus der
Zeit vor 1972 zur Verfügung, dem Verbotsjahr von DDT in den USA, als die
Bevölkerung noch höheren Konzentrationen ausgesetzt gewesen war. Außerdem
konnten Blutproben benutzt werden, die lange vor der Brustkrebsdiagnose
genommen worden waren. Das war wichtig, weil so die Gefahr ausgeschlossen
werden konnte, daß erst der Krebs die ev. erhöhten chlororganischen Blutspiegel
ausgelöst hat. Die Konzentrationen von DDE und PCB in den Blutproben der 150
Frauen mit Brustkrebs wurden mit den Werten einer entsprechend angepaßten
Kontrollgruppe von gesunden Frauen verglichen. Es wurde jedoch keine
Korrelation zwischen den DDE- oder PCB-Konzentrationen und Brustkrebsrisiko
gefunden.
Eine Nachkontrolle dieser Studie offenbarte jedoch: Werden die
ethnischen Gruppen der Frauen getrennt voneinander betrachtet, zeigt sich ein
anderes Bild (Savitz 1994).
Höhere chlororganische Konzentrationen standen mit 2- bis 3-fach
erhöhtem in der Milchwirtschaft Israels verboten, und die Anwendung von DDT
wurde stark eingeschränkt. Vor 1978 waren mindestens zehn Jahre lang HCH,
Lindan und DDE mit extrem hohen Konzentrationen in der Kuhmilch enthalten; die
durchschnittlichen Werte waren 1000, 17 und 5 mal höher als z.B. in der
Kuhmilch in den USA. Die radikale Reduktion in der Anwendung dieser
Chlororganika könnte zu einem Rückgang in der Exposition der Allgemeinbevölkerung
geführt haben. Da Chlororganika
als Krebspromotoren wirken können, ist anzunehmen, daß eine reduzierte
Exposition gegenüber diesen Chemikalien schon nach weniger als 10 Jahren einen
Rückgang der Sterblichkeitsrate verursacht hat. Obwohl diese Studie eine
Verbindung zwischen Chlororganika und Brustkrebs nahelegt, kann sie nicht als
schlüssiger Beweis dafür gelten, weil keine direkten Expositionsmessungen bei
Menschen gemacht wurden.
Fazit zum Brustkrebs
Erhöhte Östrogenspiegel bei Frauen steigern nachweislich das Risiko für
Brustkrebs, so daß die Hypothese, daß zusätzliche Belastung durch
Umwelt-Östrogene in die
gleiche Richtung wirken, sehr plausibel ist. Neue in vitro-Studien
zeigten, daß Chlororganika den Östrogen-Metabolismus in einer Weise beeinflussen
können, die das
Risiko für Brustkrebs erhöhen kann (d.i. durch Anstieg der
16-OHE1/2-OHE1-Rate - wie obendargestellt). DDE, das Hauptabbauprodukt von DDT,
hat dabei die größte Wirkung.
Dies ist besonders interessant, weil verschiedene epidemiologische
Studien sowie die Brustkrebsstudie aus Israel ebenfalls nahelegen, daß DDT eine
Rolle bei der Erhöhung des Brustkrebsrisikos spielt. Es ist auch
wahrscheinlich, daß Triazin-Pestizide und HCH mit Brustkrebs in Verbindung
stehen, was ebenfalls mit der in vitro-Studie zum Östrogen-Metabolismus
übereinstimmt.
Die Resultate aus laborexperimentellen, aus epidemiologischen und aus
tierexperimentellen Studien zusammengenommen legen also nahe, daß der Umgang
mit Chlororganika, speziell mit DDT, ein erhöhtes Bustkrebsrisiko nach sich
zieht.
Allerdings weisen die epidemiologischen Studien einige Inkonsistenzen
auf. Es ist also weitere Forschung nötig. Im Lichte der heutigen Kenntnisse und
angesichts der weltweiten Zunahme von Brustkrebs scheint es klug, wie in Israel
dem Vorsorgeprinzip zu folgen und die Anwendung krebsverdächtiger
chlororganischer Verbindungen
zu verbieten.
2.2.2 Endometriose
In den USA leiden mehr als fünf Millionen Frauen im gebärfähigen Alter
unter Endometriose (Gebärmutterauswucherung). Sie ist durch Wucherung von
Gebärmutterschleimhaut-ähnlichem Gewebe außerhalb der Gebärmutter
gekennzeichnet. Dieses Gewebe kann bis in den Unterleib, die Eierstöcke, den
Darm und zur Blase wandern. Als Folge treten oft innere Blutungen,
Unfruchtbarkeit und
andere Probleme auf. Die Ursachen sind bisher unbekannt. Endometriose
kommt nur bei Menschen und Primaten vor (Rier et al. 1993).
Dioxine
Untersuchungen an Rhesusaffen zeigten, daß die Exposition gegenüber
Dioxinen (TCDD) (Rier et al. 1993) das Endometrioserisiko erhöht. Diese
chlorhaltigen Kohlenwasserstoffe greifen bekanntlich das Immunsystem an, und es
wird vermutet, daß Immunmechanismen beim Krankheitsprozeß eine Rolle spielen.
Dazu kommt, dass Dioxine verschiedene für die Funktion der Gebärmutter wichtige
Hormon-Rezeptor-Systeme verändern können, und daß sie geeignet sind, die
Wirkung von Östrogen in den Reproduktionsorganen zu beeinflussen. Rier et al.
(1993) führten eine Langzeitstudie zu gesundheitlichen Auswirkungen von
chronischer Dioxinexposition an weiblichen Rhesusaffen durch. Vier Jahre lang
erhielt eine Gruppe von Rhesusaffen 25 pg/kg/Tag Dioxin im Futter, eine zweite
Gruppe erhielt 5 pg/kg/Tag Dioxin und einer dritten Gruppe wurde zur Kontrolle
kein Dioxin gegeben.
Zehn Jahre nach dem Ende der Dioxinbehandlung wurden die Tiere auf
Endometriose hin untersucht. Fünf von sieben Tieren (71%), die mit 25 pg/kg/Tag
Dioxin behandelt
worden waren, und 3 von 7 Tieren (43%), die 5 pg/kg/Tag Dioxin bekommen
hatten, hatten leichte bis schwere Endometriose - im Vergleich zu nur 33% der
Tiere in der Kontrollgruppe.
Diese Studie ist von besonderer Bedeutung, weil Endometriose bei sehr
niedrigen chronischen Dioxindosen beobachtet wurde. Tatsächlich war die Dosis
nur etwa 10 mal so groß wie die derzeitige mittlere Tagesaufnahme der Menschen
in den Industrieländern, die bei 2 pg/kg/Tag liegt. Das zeigt, daß ein
dioxinbedingtes Endometriose-Risiko auch für den durchschnittlich belasteten
Menschen nicht ausgeschlossen werden kann. Weitere Studien werden jetzt in den
USA durchgeführt, um die Blutspiegel von Dioxinen und PCBs bei Frauen mit der
Diagnose Endometriose zu bestimmen.
2.3. Embryonale und kindliche Entwicklungsstörungen
2.3.1 Totgeburten
Aus Tierversuchen und epidemiologischen Untersuchungen geht hervor, daß
die Exposition gegenüber verschiedenen Chlororganika unter bestimmten
Bedingungen zum Tod des Fetus und zu spontaner Fehlgeburt führen kann. Viele
dieser Beobachtungen beim Menschen stammen von Frauen, die berufsmäßig
Chemikalien in der Chemischen Reinigung, in der Pharmaindustrie und in der
Landwirtschaft ausgesetzt waren. Jüngere Daten über die Exposition von Männern
legen ebenfalls nahe, daß Spermienveränderungen durch berufliche
Lösemittelbelastung zu spontanen Fehlgeburten führen können.
Dibromchlorpropan (DBCP)
Die Exposition männlicher Arbeiter gegenüber dem Pestizid DBCP
(Dibromchlorpropan) in Israel dürfte der Grund für den Anstieg spontaner
Fehlgeburten bei ihren Frauen gewesen sein. 6,6% der Frauen, die mit Arbeitern
verheiratet waren, die nicht DBCP in dieser Region ausgesetzt waren, hatten
spontane Aborte - gegenüber 19% bei schwangeren Frauen, die mit exponierten
Arbeitern verheiratet waren (Whorton und Foliart 1983). In ähnlicher Weise kam
es in Indien zu erhöhten Fallzahlen von Fehlgeburten bei Frauen von Arbeitern,
die verschiedenen chlororganischen Pestiziden
ausgesetzt waren (Rupa et al. 1990). Vermutlich waren die spontanen
Aborte in diesen Fällen durch genetische Schädigung der Keimzellen der Männer
bedingt.
Perchlorethylen (Per) und andere leichtflüchtige chlorierte Lösemittel
Epidemiologischen Studien zufolge kann auch die Exposition gegenüber
bestimmten leichtflüchtigen Chlororganika bei Frauen zu mehr spontanen
Fehlgeburten während der ersten drei Schwangerschaftsmonate führen. In
Chemischen Textilreinigungen sind Frauen relativ hohen atmosphärischen
Konzentrationen des (leichtflüchtigen) Lösemittels Tetrachlorethen
(Perchlorethylen, Per) ausgesetzt. Eine Studie unter Arbeiterinnen dieses
Gewerbes in Finnland ergab, daß die Exposition gegenüber Permit signifikant
höherer Anzahl (3,6 fach) von spontanen Aborten während der ersten drei
Schwangerschaftsmonate verbunden war - im Vergleich zu nichtexponierten Frauen
(Kyyronen et al. 1989). Eine frühere Studie in Finnland (Hemminki et al. 1980)
ergab ebenfalls eine größere Fallzahl von spontanen Aborten (10,14%) nach
Exposition gegenüber Chemikalien für die Chemisch-Reinigung, verglichen mit der
allgemeinen Bevölkerung (5,52%).
Eine Studie zu finnischen Arbeitern in der Pharmaindustrie zwischen
1973 und 1981 brachte zutage, daß Exposition gegenüber organischen Lösemitteln,
besonders Methylenchlorid (ebenfalls ein leichtflüchtiger Chloraliphat), in
Zusammenhang mit einer Zunahme des Fehlgeburtsrisikos stand. Bei Exposition
gegenüber Methylenchlorid lag zum Beispiel ein 2,3-fach höheres
Fehlgeburtsrisiko vor. Das Risiko stieg mit der Häufigkeit der Exposition
(Taskinen et al. 1986). Methylen ist z.B. in frei verkäuflichen Abbeizmitteln
für Lacke enthalten.
Der gleiche Zusammenhang zeigte sich in einer 1989 veröffentlichten
Arbeit (Taskinen et al. 1989), bei der die Folgen der männlichen Belastung mit
verschiedenen leichtflüchtigen Lösemitteln und Lösemittelgemischen hinsichtlich
der Abortrate bei ihren Frauen (in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten)
untersucht wurden.
Bei 40-60% aller Spontanaborte in den ersten drei
Schwangerschaftsmonaten liegen chromosomale Anomalien vor. Etwa 98% aller
Embryonen mit Chromosomenschäden gehen vor der Geburt zugrunde. Daher wird vermutet,
daß die erhöhte Rate an Spontanaborten mit der Samenschädigung durch Lösemittel
in Zusammenhang steht.
Diese Studien zeigen im übrigen, daß die heute gültigen
Arbeitsschutzbestimmungen, die auf schwangere Frauen bezogen sind, für den
Schutz vor Fehlgeburten nicht ausreichen.
2.3.2 Vermindertes Geburtsgewicht
Sowohl aus Tierversuchen als auch aus epidemiologischen Untersuchungen
liegen substantielle Beweise für einen Zusammenhang zwischen pränataler
Exposition gegenüber PCBs und reduzierter Körpergröße bei der Geburt vor.
Pränatale Exposition gegenüber PCBs bewirkte bei trächtigen Ratten, Mäusen und
Rhesusaffen vermindertes Geburtsgewicht der Jungen.
PCBs, Dioxine
Verschiedene epidemiologische Studien untersuchten die Geburtsgröße in
der allgemeinen Bevölkerung rund um die Great Lakes. Diese nordamerikanischen
Seen waren mit PCBs und anderen chlororganischen Chemikalien sehr stark
belastet. Der Verzehr von PCB-kontaminiertem Fisch aus dem Michigan-See wurde
mit den PCB-Konzentrationen in Serum und Milch von Müttern in Beziehung
gebracht. Die mütterlichen Serumspiegel von PCBs reflektieren ihrerseits die
Serum-Belastung in der Nabelschnur, die eine Expositionsquelle für den Fetus
darstellt. Die meisten Studien aus der Region der Großen Seen ergaben einen
Zusammenhang zwischen Exposition der Mutter gegenüber PCBs durch Verzehr von
kontaminiertem Fisch und reduzierter Geburtsgröße bei den Neugeborenen (Swain
1991).
So studierten Fein et al. (1984) 242 Kinder, die zwischen 1980 und 1981
von Frauen geboren worden waren, die vorher eine mäßige Menge Fisch aus dem
Michigan-See gegessen hatten. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, daß Exposition
gegenüber PCBs, gemessen durch Fischkonsum und die Belastung des
Nabelschnurserums, mit geringerer Geburtsgröße und kleinerem Kopfumfang bei
neugeborenen Kindern verbunden ist. Ferner zeigte sich eine kürzere
Austragsperiode. Exponierte Säuglinge waren signifikant leichter (160 bis 190
Gramm) als die Kontrollkinder, und ihre Köpfe waren signifikant kleiner (0,6
bis 0,7 cm).
Befunde aus dem Yu-Cheng Unfall und aus den Studien zum Michigan-See
zeugen auch davon, daß Wachstumsverzögerung durch in Utero-exposition gegenüber
PCBs
über die Säuglingsperiode hinaus fortdauern kann. Eine Nachfolgestudie
an Kindern aus der Michigan-See-Studie zeigte, daß die Wachstumsverzögerung
noch im Alter
von 4 Jahren bestand (Jacobson und Jacobson 1989). Die
höchstexponierten Kinder (festgestellt anhand der Serumbelastung in der
Nabelschnur von 5 ng/ml oder mehr)
wogen im Durchschnitt 1,8 kg weniger als die am wenigsten exponierten
Kinder. Das Ergebnis war statistisch signifikant bei Mädchen, bei denen die
Gewichtsdifferenz 2,2 kg betrug. Der Gewichtsunterschied war bei Jungen ähnlich
groß (1,7 kg), aber nicht statistisch signifikant. Die Wachstumsverzögerung bei
Mädchen wurde auch in der Yu-Cheng-Studie hervorgehoben. Ihre Körpergröße war
signifikant geringer (2,8 cm) als bei der Kontrollgruppe im Alter von 11 bis 14
(Guo et al. 1993).
Bei Untersuchungen von Eskimos, die aufgrund ihrer Fischdiät relativ
hoch dioxin- und PCB-belastet sind, wurden deutliche Beeinträchtigungen der
Entwicklung von Kindern im Mutterleib festgestellt: Neugeborene männliche
Kinder waren kleiner als weibliche Kinder, wobei die Körpergröße um so kleiner
ausfiel, je höher die Dioxinbelastung der Mutter war (Greenpeace 1994).
Aus Tierversuchen und epidemiologischen Studien ist offenkundig, daß
die in Utero-exposition gegenüber PCBs in Verbindung mit reduzierter
Geburtsgröße bei Säuglingen steht, und daß diese Wachstumsverzögerung bei
Kindern fortdauern kann.
2.3.3 Kindliches Nervensystem, Verhalten und Intelligenz
Einige epidemiologische Studien zu Kindern, die in utero einer
Belastung durch chlororganische Chemikalien ausgesetzt waren, zeigen, daß ihr
Verhalten einschließlich einiger intellektueller Funktionen beeinträchtigt
worden ist. Die Mechanismen, die Entwicklungsstörungen des Nervensystems und
des Gehirns bewirken, sind nicht ganz aufgeklärt, aber sie unterliegen
vermutlich teilweise der Kontrolle durch Sexual- und Schilddrüsenhormone.
Das für die normale Entwicklung des Kindes charakteristische
Gleichgewicht dieser Hormone kann durch einige chlororganische Chemikalien
gestört werden. Solche Störungen können partiell für die Verhaltensänderungen
verantwortlich sein, wie sie bei Kindern beobachtet wurden, die pränatal
gegenüber Chlororganika exponiert waren.
Dioxin erhöht Schilddrüsenhormonspiegel
Eine Studie untersuchte die Konzentrationen von Schilddrüsenhormonen
bei 38 gesund geborenen Säuglingen in den Niederlanden, weil dort (wie auch in
Belgien und Großbritannien) sehr hohe Dioxinwerte in der Muttermilch gemeldet
wurden (Pluim et al. 1993). Die Säuglinge wurden in hoch und niedrig exponierte
Gruppen eingeteilt, basierend auf den in der jeweiligen Muttermilch gemessenen
Dioxinkonzentrationen.
Die Schilddrüsenhormon-Spiegel wurden bei Geburt sowie nach einer und
elf Wochen Stillzeit gemessen. Ein Vergleich der beiden Gruppen erbrachte, daß
die Spiegel von zwei Hormonen (T4 und TSH) in der hochexponierten Gruppe signifikant
höher waren als in der niedrig exponierten Gruppe. Es wurde der Schluß gezogen,
daß die Unterschiede in den Konzentrationen von Schilddrüsenhormonen in den
zwei Gruppen mit großer Wahrscheinlichkeit von der gestiegenen Exposition
gegenüber Dioxinen
im Mutterleib und von der Frauenmilch herrührten (Pluim et al. 1992 und
1993).
PCB’s
Starke Beweiskraft für chlororganisch ausgelöste Verhaltenseffekte beim
Menschen kommt von Studien über Kinder von Frauen, die gegenüber PCB’s und Dioxinen
beim Yu-Cheng-Unfall in Taiwan 1978/79 exponiert waren (Chen et al. 1992, Lai
et al. 1994, Guo et al. 1994). Diese Studien verfolgten bis zu zwölf Jahren
nach dem Unfall die Entwicklung der Kinder von Frauen, die während des
Giftunfalls schwanger waren, und auch jener Kinder von Frauen, die exponiert
gewesen waren, bevor sie schwanger wurden. Die kognitive Entwicklung der Kinder
wurde mit Hilfe jährlich wiederholter Intelligenztests geprüft. Im Lebensalter
von 18 Monaten bis zu 7 Jahren war die Punktezahl bei diesen Tests für die
Yu-Cheng-Kinder jedesmal signifikant niedriger, verglichen mit einer
Kontrollgruppe von Kindern nichtexponierten Frauen. Das ist umso gravierender,
als sich die Intelligenzschwäche dieser Kinder auch mit der Zeit offenbar nicht
legte. Das bedeutet, daß der Schaden permanent sein könnte. Dazu kommt, dass
Kinder, die bis zu 12 Jahren nach dem Unfall geboren wurden, genauso nachteilig
beeinflußt waren wie jene, die nur ein Jahr nach dem Unfall zur Welt gekommen
waren, obwohl die Giftbelastung der Frauen zurückgegangen war (Chen et al.
1992, Guo et al. 1994).
Untersuchungen bei den Yu-Cheng-Kindern bis zum Alter von 12 Jahren
fanden auch heraus, daß sie unter leicht gestörtem Verhalten litten und
Hyperaktivität an den Tag legten. Wie bei der intellektuellen (kognitiven)
Entwicklung dauerten auch die Verhaltensprobleme an, als die Kinder älter
wurden (Yu et al. 1994).
Die Auswirkungen auf das Verhalten nach pränataler Exposition gegenüber
PCBs durch Fischkonsum sind ebenfalls studiert worden. Studien über Kinder der
schon erwähnten Frauen, die kontaminierten Fisch vom Michigan-See aßen, legen
nahe, dass PCBs im Fisch im Zusammenhang mit Verhaltensproblemen bei den
Kindern stehen. In Verhaltenstests im Alter von 3 Tagen, 7 Monaten und 4 Jahren hatten die Kinder
signifikant niedrigere Punktezahlen, verglichen mit den Kindern, deren Mütter
keinen kontaminierten Fisch gegessen hatten (Jacobson et al. 1985, Jacobson und
Jacobson 1993). Tests im vierten Lebensjahr zeigten, daß die pränatale
Exposition gegenüber PCBs offenbar auch in Zusammenhang mit kleinen, aber
signifikanten Defiziten im Kurzzeit-Gedächtnis und beim Tempo der
Informationsverarbeitung (Denken) stand.
Fazit: Es ist offenkundig, daß die in utero-Exposition gegenüber PCBs
und Dioxinen nachteilige Effekte auf das Verhalten verursacht. Studien zu den
Yu-Cheng-Kindern offenbarten, daß sie signifikant weniger Punkte bei
Intelligenztests erzielten und daß sie leichte Verhaltensstörungen hatten, die
bis ins fortgeschrittene Kindesalter andauerten. Studien zu Frauen, die Fisch
aus dem Michigan-See verzehrt hatten, legen nahe, dass nicht nur bei beruflich
Exponierten, sondern auch in der Allgemeinbevölkerung unter bestimmten
Bedingungen schon Expositionen gegenüber genügend großen Mengen von
Kontaminanten vorliegen können, um nachteilige Wirkungen bei den Kindern zu
verursachen. Es ist möglich, daß Auswirkungen dieser Chemikalien auf
Schilddrüsenhormone während der kindlichen Entwicklung Effekte im
Nervensystem hervorriefen, die Verhaltensbeeinträchtigungen nach sich ziehen.
3. Krebs durch organische Chlorverbindungen
Heute stellen Krebserkrankungen in den westlichen Industrienationen
nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen die zweithäufigste Totesursache dar. Jeder
vierte Mensch erkrankt
an Krebs, jeder fünfte stirbt daran. Eine rein genetische Ursache haben
nur wenige Tumore. (Eisenbrand 1994, 100ff). Nach Expertenmeinungen sind
deutlich über die Hälfte aller Krebserkrankungen durch Umwelteinflüsse im
weiteren Sinne verursacht. Diese umfassen Chemikalien, Strahlung und Viren,
aber auch Aspekte der Lebensweise wie Ernährung, Arbeitsplatz, Rauchen, Alkohol
(Moller 1992, Silberhorn et al. 1990). Chemikalien, die zu Krebs führen können,
heißen chemische Kanzerogene.
Über 2000 Chemikalien haben sich im Tierversuch als krebserregend
erwiesen (Eisenbrand 1994, 102). Zu ihnen gehören auch zahlreiche
chlororganische Verbindungen.
Für die Einstufung von Chemikalien als kanzerogen ist in Deutschland
die Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe bei der
Deutschen Forschungsgemeinschaft zuständig, die jährliche eine MAK- und
BAT-Werte-Liste veröffentlicht (MAK-Werte-Kommission). In der von dieser
Kommission veröffentlichten Liste gefährlicher Arbeitsstoffe (MAK-Liste), sind
ca. 50, d.h., ein Drittel der als krebserzeugend oder krebsverdächtig
eingestuften Stoffe chlorhaltige Verbindungen.
Auf internationaler Ebene gilt als entscheidene Autorität die
International Agency for Research on Cancer (IARC) in Lyon, die periodisch die
internationale Forschung
über humankanzerogene Risiken von Chemikalien aus- und bewertet. Die
IARC nennt weitere 13 krebserzeugene Chlororganika.
Vorbemerkung: Chlororganische Umweltchemikalien und Krebsentwicklung
Die meisten chemischen Kanzerogene erzeugen nicht direkt Krebs im
Körper, sondern wirken über ihre Abbauprodukte. Der Abbau erfolgt durch Enzyme
(z.B. Cytochrom P450). Dabei entstehen Metaboliten, die meist
reaktionsfreudiger als die ursprünglichen Chemikalien und damit auch giftiger
sind (sog. metabolische Aktivierung).
Dies hängt u.a. mit der "elektronenanziehenden" Wirkung des
Chlors zusammen. Auf die synthetischen Chlororganika ist das körpereigene
Entgiftungssystem nicht richtig eingestellt. Diese toxischen Abbauprodukte
können mit der DNA reagieren und in der DNA Mutationen erzeugen oder bestimmte
Gene (genannt Onkogene) aktivieren,
die mit der Bildung von Krebs in Zusammenhang stehen.
Solche genetischen Veränderungen gelten im Prozeß der Krebsentwicklung
als kritisch.
Die Krebsentstehung ist sehr komplex. Aber die ersten Stufen lassen
sich vereinfacht in zwei Phasen einteilen: Initiation und Promotion.
Krebs-Initiation erfolgt durch ein auslösendes Agens (z.B. eine Chemikalie),
das Schaden an der DNA verursacht, so daß eine Mutation entsteht. Zwar gibt es
Reparaturmechanismen der DNA, aber sie
greifen nicht immer. Die zweite Stufe, Krebs-Promotion, umfaßt
wiederholte Exposition gegenüber einem Promotor (meist eine andere Chemikalie),
der zu selektivem Wachstum der durch die Krebs-Initiation genetisch
vorgeschädigten Zellen führt. Im ersten Schritt wird die Zelle genetisch
geschädigt, im zweiten zur Wucherung angeregt.
Die Entwicklung von Krebs in dieser Art wird als mehrstufiger Prozeß
erklärt, der mehrere Mutationen und viele verschiedene Promotionsmechanismen
umfaßt, die das Wachstum der genetisch veränderten Zellen bestimmen. Eine
Initiation kann schon nach durch eine einzige minimale Dosis einer karzinogenen
Chemikalie hervorgerufen werden, während man bei Promotoren annimmt, daß eine wiederholte
Exposition für die Promotionsphase erforderlich ist.
Chemikalien, die als Initiatoren agieren und direkt die DNA schädigen,
sind gentoxisch.
Diejenigen Chemikalien, die Promotoren sind, sind meistens nicht
gentoxisch und können gewöhnlich nicht von sich aus Krebs erzeugen, aber das
Krebsrisiko erhöhen –
z.B. durch Wachstumssteigerung mutierter Zellen. Weder für gentoxische
noch für tumorpromovierende Substanzen lassen sich nach der hier vertretenen
Auffassung unschädliche Expositionsmengen bestimmen, also auch keine
Grenzwerte. Allerdings sind manche Wissenschaftler der Auffassung, daß sich für
lediglich Tumor promovierende Stoffe gesundheitlich unbedenkliche Grenzwerte
formulieren lassen (z.B. Henschler 1994, S. 54).
Unter den chlororganischen Verbindungen sind einige gentoxisch
(insbesondere aliphatische Chlorkohlenwasserstoffe, die leicht Chlor
abspalten), während andere als
Krebs- bzw. Tumorpromotoren agieren (insbesondere die hochstabilen
polychlorierten zyklischen Verbindungen). Es gibt auch Chlororganika, die
sowohl gentoxisch als
auch tumor-promovierend sind. Schon minimale Spurenkonzentrationen
karzinogener chlororganischer Verbindungen können somit zu Krebs führen.
Indessen nimmt das Risiko mit der Dauer der Exposition und der Höhe der Dosis
zu. Zu beachten ist, daß sich manche in Kleinstmengen aufgenommenen
Chlororganika aufgrund ihrer Fettlöslichkeit und Langlebigkeit im menschlichen
Fettgewebe zu hohen Konzentrationen anreichern und remobilisiert werden können.
Durch diverse in vitro-Tests läßt sich aufdecken, ob Chemikalien
genetische Schäden verursachen. Auch Tierversuche liefern bedeutsame
Informationen über die Rolle
von Chemikalien bei der Entstehung bestimmter Krebstypen. So sind
nahezu 100% aller menschlichen Kanzerogene auch im Tierversuch krebserregend
(Henschler 1979). Beide Arten von Experimenten sollen verstehen helfen, wie
Umweltchemikalien beim Menschen Krebs erregen können. Befunde aus
epidemiologischen Studien an Menschen sind jedoch wesentlich, wenn ein
Zusammenhang zwischen Umweltchemikalien und Krebs belegt werden soll. Solche
Befunde sich jedoch verständlicherweise viel schwerer beizubringen.
3.1 Leber- und Darmkrebs
Vinylchlorid
Von der krebserzeugenden Wirkung von Vinylchlorid (VC), des Monomers
für das chlorchemische Hauptprodukt PVC, wurde die internationale
Arbeitsmedizin offenbar selbst überrascht: 1974 wurden in den USA und in
Deutschland in kurzer Folge eine Reihe tödlich verlaufender seltener
Leberkrebserkrankungen (Hämangiosarkome) diagnostiziert und publiziert. Dreißig
Jahre lang hatte in der chemischen Industrie ein sorgloser Umgang mit dem
gasförmigen Baustein des PVC-Kunststoffes geherrscht,
was von Industrieseite im Nachhinein selber als "Gepansche"
(Fleig/Thiess 1974) bezeichnet wurde.
Allein in Deutschland kam es nach der für chemisch verursachte
Krebserkrankungen bestehenden 20- bis 30-jährigen Latenzzeit in den siebziger
Jahren zu über zwanzig VC-bedingten
Erkrankungsfällen (Konietzko 1992). Gegen den Widerstand aus der
chemischen Industrie, bei dem sich das am stärksten von Krebsfällen betroffene
damalige Unternehmen Dynamit-Nobel besonders hartnäckig verhielt, mußten große
anlagen-, sicherheits- und meßtechnische Umrüstungen vorgenommen werden. VC
wurde 1974 von der IARC als "eindeutig krebserzeugender Stoff"
eingestuft, und eine Technische Richtkonzentration (TRK) schrieb die Einhaltung
von 5 ppm in der Arbeitsplatzluft (2 ppm für Neuanlagen) vor. Das senkte in der
Folge das Gesundheitsrisiko der Arbeiter entscheidend. Zugleich konnte der
Restmonomergehalt im fertigen PVC bis auf 1 ppm gesenkt werden. Zum Vergleich:
PVC-Schallplatten wiesen bis 1975 noch bis zu 0,3% Rest-Vinylchlorid auf (Koch
1984, S. 170). Ein vollständiger Anwohner- und Verbraucherschutz vor VC-Monomeren
ist allerdings auch heute noch nicht gegeben. Aus den deutschen
PVC-Produktionsanlagen entweichen jährlich noch 300 Tonnen Vinylchlorid (BLAU
1992). In importierten PVC-Produkten wie Puppen und anderem Spielzeug aus
Fernost wurden VC-Restgehalte von über 1000 ppm (0,1%) gemessen. Dies ist umso
bedenklicher, als wegen der gentoxischen Eigenschaft von VC jede noch so
kleinste Dosis -statistisch gesehen- Krebs initiieren kann.
Greenpeace-Untersuchungen von "Barbie"-Puppen ergaben VC-Gehalte von
0,44 bis 0,62 mg/kg (Greenpeace 1994b).
PCB’s
Aus Tierversuchen liegen eindeutige Beweise dafür vor, daß
Langzeitexposition gegenüber PCB-Mischungen zu Leberkrebs (hepatozelluläres
Karzinom) führt.
Auch Magenkrebs kann die Folge von PCB-Exposition sein. Die meisten
Tier- und in vitro-Studien zeigen, daß PCBs als Tumorpromotoren wirken. Einige
Studien legen
aber auch eine Gentoxizität von PCBs nahe (Überblick bei Silberhorn et
al. 1990).
In der Literatur gibt es nur wenige Studien zur Mortalität von Menschen,
die entweder unfallbedingt oder berufsmäßig PCBs ausgesetzt waren. Die
Todesfälle von PCB- und Dioxin-Exponierten beim japanischen Yusho-Unfall zeigen
aber, daß die Krebsmortalität im allgemeinen (33 beobachtete gegenüber 15,51
erwarteten Fälle) und die Mortalität durch Leberkrebs im besonderen (9
beobachtete gegenüber 1,61 erwarteten Fällen) bei Männern signifikant höher als
erwartet lag. Diese Resultate stimmten mit Tierversuchen überein, so daß dieser
von Silberhorn referierten Studie zufolge die Vergiftung Ursache der
Leberkrebsfälle war.
Eine Studie zu PCB-exponierten Arbeitern einer Kondensatorenfabrik in
den USA fand eine signifikante Überhäufung (mehr Fälle als statistisch zu
erwarten) von Todesfällen durch Krebs. Durch Leberkrebs, Gallenblasenkrebs und
Krebs des Gallentrakts starben 5 Personen (1,9 erwartete) (Brown 1987). Eine
ähnliche Studie in einer italienischen Kondensatorenfabrik berichtet von einer
Überhäufung aller zusammengefassten Krebsformen und von einem statistisch
signifikanten Anstieg bei Krebsfälle des Verdauungstrakts (2 Magenkrebse, 2
Bauspeicheldrüsenkrebse, 1 Leberkrebs und 1 Krebs des Gallentrakts gg. 2,2
erwartete Fälle) (Bertazzi et al. 1987). Andererseits fand eine andere Studie
in einer Kondensatorenfabrik in Schweden keine Überhäufung von Krebs oder von
Leberkrebs. Die Untersuchungsgruppe dieser Studie war jedoch relativ klein
(Gustavsson et al. 1986).
Tabelle 5: Chlororganische Verbindungen und Krebs Humankanzerogene (A
1) und im Tierversuch eindeutig kanzerogene chlororganische Verbindungen (A 2)
Humankanzerogene
(A 1) und im Tierversuch eindeutig kanzerogene chlororganische Verbindungen (A
2)
A 1
A 2
Bis(chlormethyl)ether (Dichlordimethylether)
4-Chloranilin
4-Chlor-o-toluidin
4-Chlorbenzotrichlorid α-Chlortoluole
1-Chlor-2,3-epoxypropan (Epichlorhydrin)
Dichlordiethylsulfid
Chlorfluormethan (R 31)
N-methyl-bis(2-chlorethyl)amin
N-Chlorformyl-morpholin
Monochlordimethyleher α-Chlortoluole (Mono-, Di-, Tri-) Vinylchlorid
1,2-Dibrom-3-chlorpropan (DBCP)
Dichloracetylen
3,3 ́-Dichlorbenzidin
1,4-Dichlor-2-buten
1,2-Dichlorethan (Ethylendichlorid)
1,3-Dichlor-2-propanol
1,3-Dichlorpropene (cis- und trans-)
Dimethylcarbamidsäurechlorid
4,4 ́-Methylen-bis(2-chloranilin)
Pentachlorphenol (PCP)
2,3,7,8-Tetrachlordibenzo-p-dioxin (TCDD)
2,3,4-Trichlor-1-buten
1,2,3-Trichlorpropan
Begründet
krebsverdächtige organische Chlorverbindungen (B-Verbindungen)
2-Chloracrylnitril
1,2-Dichlormethoxyethan
Chlordan
1,2-Dichlorpropan
Chlordecon
2,2-Dichlor-1,1,1-trifluorethan
(R 123)
Chlorethan
Diethylcarbamidsäurechlorid
Chlorierte
Biphenyle (PCBs)
Heptachlor
Chlormethan (Methylchlorid)
Hexachlorbutadien
3-Chlor-2-methylpropen
N-Methylolchloracetamid
1-Chlor-2-nitrobenzol
1,1,2,2-Tetrachlorethan
1-Chlor-4-nitrobenzol
Tetrachlorethen (PER)
Chlorparaffine
Tetrachlormethan (Tetra)
3-Chlorpropen
1,1,2-Trichlorethan
Chlorthalonil
Trichlorethen (TRI)
5-Chlor-o-toluidin
Trichlormethan (Choroform)
1,1-Dichlorethen (Vinylidenchlorid) α, α, α-Trichlortoluol
Dichlormethan
(Methylenchlorid)
Von
der IARC in Lyon außerdem als kanzerogen aufgeführte Chlorverbindungen
Bis(chlorethyl)nitrosoharnstoff
1-(2-Chlorethyl)-3-cyclohexylnitrosoharnstoff
Chlorphenole
Chlorphenoxyessigsäurederivate
4-Chlor-o-phenylendiamin
3,3
́-Dichlor-4,4 ́-diaminodiphenylether
Dichlorvos
Hexachlorbenzol
(HCB)
Hexachlorcyclohexane
(HCH)
Melphalan
Metronidazol
Mirex
Trinkwasserchlorierungsprodukte
Quellen: DFG:
MAK- und BAT-Werte-Liste 1994, S. 92-97 und Henschler 1994, S. 49/50.
Fazit: Im großen und ganzen sind die wenigen epidemiologischen Studien
zu PCBs nicht überzeugend genug. Allerdings legen sie einen Zusammenhang
zwischen Exposition gegenüber PCBs und Krebsentwicklung nahe, speziell von
Leberkrebs und Krebsen des Verdauungstrakts. Auch passen die epidemiologischen
Studien mit Ergebnissen von Tierversuchen zusammen. So hat die US-EPA die PCBs
als "beim Menschen wahrscheinlich krebserzeugend" klassifiziert und
für das Trinkwasser eine Konzentration von Null empfohlen. Weil das noch nicht
erreichbar ist, schlug die EPA 1989 einen Grenzwert im Wasser von 0,0005 mg/l
vor und berechnete daraus ein lebenszeitlich zusätzliches Krebsrisiko von etwas
weniger als 1 zu 10 000 (Überblick bei Silberhorn et al. 1990).
Dioxin
Beim Seveso-Unfall von 1976 wurde die lokale Bevölkerung einer hohen
Dioxin-Dosis (TCDD) ausgesetzt. Eine epidemiologische Studie an der
Wohnbevölkerung des betroffenen Gebietes fand eine doppelte Überhäufung bei
Leberkrebs (4 Fälle) und Krebsen der Gallenblase und der Gallenwege (5 Fälle)
sowie einen 1,8-fachen Anstieg bei Leber- und Nierenkrebs (10 Fälle). Diese
Studie legt eine Verbindung zwischen Exposition gegenüber Dioxin und diesen
Krebsen nahe. Da die betrachtete Latenzperiode erst 10 Jahren betrug -ein nicht
ausreichender Zeitraum, um die wirkliche Anzahl der Krebsfälle infolge jenes
Unfalls zu ermitteln- muß für eine Bewertung des endgültigen Schadensausmaßes
das event. Auftreten weiterer Krebsfälle beobachtet werden. (Bertazzi et al.
1993).
3.2 Krebs der Bauchspeicheldrüse
In Tier-Studien wurde festgestellt, daß die Exposition gegenüber DDT
das Risiko für Krebs der Bauchspeicheldrüse erhöht. Eine jüngere, gut angelegte
epidemiologische Studie ergab eine strenge Assoziation zwischen Exposition
gegenüber DDT und dieser Krankheit (Garabrant et al. 1992). Ein
Chemieunternehmen in den USA legte ab 1971 ein Sterblichkeitsregister seiner
Fabrik-Beschäftigten an. 1987 wurde daraus eine erhöhte Sterblichkeit durch
Bauchspeicheldrüsenkrebs offenkundig. Daraufhin sollte eine Untersuchung
herausfinden, ob bestimmte Chemikalien in der Fabrik mit diesen Todesfällen
zusammen hingen. Die Verstorbenen wurden mit Kontrollpersonen verglichen,
das Rauchen als Risikofaktor für Bauchspeicheldrüsenkrebs wurde
berücksichtigt.
Die Ergebnisse zeigten einen engen Zusammenhang zwischen DDT-Exposition
und Bauchspeicheldrüsenkrebs, der weder durch die Lebensweise noch durch andere
Fabrikchemikalien zu erklären war. Das Risiko wuchs mit der Expositionsdauer
und der Zeitdauer seit der ersten Exposition. Verglichen mit nichtexponierten
Arbeitern war das Risiko für Bauchspeicheldrüsenkrebs bei DDT-
exponierten Arbeitern insgesamt 4,8 mal höher. Bei Arbeitern mit einer
durchschnittlichen DDT-Exposition von 47 Monaten war das Risiko 7,4 mal so groß
wie bei Arbeitern ohne Exposition.
Die untersuchenden Wissenschaftler folgerten, daß eine verlängerte
Exposition gegenüber DDT zu Bauchspeicheldrüsenkrebs führen kann.
3.3 Lungenkrebs
Vinylchlorid: Von der Leber zur Lunge
Als nicht mehr zu bestreiten war, daß die bis Anfang der siebziger
Jahre eingetretenen (bzw. durch wissenschaftliche Untersuchungen
bekanntgewordenen) rund 20 Leberkrebsfälle
(Hämangiosarkome) in der deutschen PVC-Produktion eindeutig auf den fahrlässigen
Umgang mit dem Vinylchlorid-Monomer zurückgingen, wurden die Produktionsanlagen
durchgreifend umgebaut. Allerdings ist das Krebsrisiko durch VC nicht aus der
Welt. In diesem Zusammenhang ist eine schwedische Studie (Hagmar et al. 1990)
bedeutsam. Ihr zufolge beinhaltet eine niedrige Exposition gegenüber VC
unterhalb des hierzulande geltenden TRK-Wertes von 2 ppm ein signifikantes
Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken. Die Rate aus beobachteten gegenüber
erwarteten Fällen
betrug 2,13. Die Kohorte bestand aus 2 031 PVC-Arbeitern.
Chlormethylether
Chlormethylether sind chlororganische Chemikalien, die in der
chemischen Industrie angewandt werden. Diese Chemikalien enthalten als
Verunreinigung Dichlormethylether, der bei Tieren Atemwegskrebs verursacht.
Epidemiologische Studien zeigten, daß Arbeiter mit Exposition gegenüber
Chlormethylether ein erhöhtes Risiko für Atemwegskrebs aufweisen, das
vermutlich in großem Maße auf Dichlormethylether zurückgeht (Gowers et al.
1993). Sowohl von der IARC als auch von der deutschen MAK-Werte-Kommission ist
Dichlordimethylether als "beim Menschen
erfahrungsgemäß krebserzeugend" eingestuft (vgl. Tabelle 5).
Als allgemeines Ergebnis zeigen die epidemiologischen Studien, daß die
Exposition gegenüber Chlormethylether erhöhte Raten von Atemwegskrebs bei Arbeitern
bewirkt, aber kein erhöhtes Risiko für andere Krebse (s. z.B. DeFonso und
Kelton 1976, Pasternack et al. 1977, McCallum et al. 1982, Maher und DeFonso
1987 und Gowers et
Die Studien von Maher und DeFonso 1987, DeFonso und Kelton 1976 bzw.
Gowers et al. 1993 ergaben eine Risikosteigerung für Atemwegskrebse bei
entsprechend exponierten Arbeitern gegenüber nichtexponierten Arbeitern mit dem
Faktor 2,79 bzw. 3,8 und 5. Die Ergebnisse zeigen auch klar, daß das Risiko für
Atemwegskrebs mit zunehmender Intensität und Dauer der Exposition wächst. Bei
hochexponierten Arbeitern lag es zehnmal so hoch wie erwartet (z.B. Pasternack
et al. 1977, Maher und DeFonso 1987).
Chlorgasanwendung, Hexachlorbenzol und Dioxine als Verunreingungen
Nachgewiesen ist auch ein Zusammenhang zwischen der Exposition
gegenüber elementarem Chlor und Lungenkrebs. So betrug bei einer norwegischen
Kohorte von Arbeitern in der Magnesiumproduktion mit potentieller Exposition
gegenüber Chlorgas und anderen chlorierten Nebenprodukten wie Hexachlorbenzol
das relative Risiko (RR) für Lungenkrebs 1,8. Die Überhäufung war besonders
offenkundig bei jenen, die seit zehn oder mehr Jahren beschäftigt waren und
deren Erstexposition mindestens 20 Jahre zurücklag (Heldaas 1989). Eine
schwedische Studie bei Chlor
alkali-Arbeitern, die Chlorgas ausgesetzt waren, berichtet von einem
zweifachen Risiko für Lungenkrebs (Barregard 1990). Diese Studien legen eine
Verbindung zwischen Chlorexposition und Lungenkrebs nahe, auch wenn sie nicht
angemessen die Risikofaktoren Rauchen und berufliche Expositionen wie Asbest
ausgeschlossen hatten.
Arbeiter in Zellstoff- und Papierfabriken, die -wie häufig in
Skandinavien- noch die Chlorbleiche einsetzen, werden ebenfalls mit Chlor und
einer großen Zahl von chlorierten organischen Verbindungen einschließlich
Dioxinen (PCDDs und PCDFs) belastet, die sich beim Bleichprozeß bilden. Einige
Studien offenbarten einen Überschuß von Lungenkrebs bei Zellstoff- und Papier
arbeitern (Jappinen et al. 1987, Jappinen und Pukkala 1991). Die erste
dieser finnischen Studien ergab eine Überhäufung von Lungenkrebs bei männlichen
Arbeitern, speziell bei Pappefabrikarbeitern. Die Fallzahl von Lungenkrebs war
hier doppelt so groß wie erwartet (40 beobachtete, 18,1 erwartete Fälle). Das
Risiko wurde stärker nach einer Latenzzeit von 20 Jahren (25 beobachtete, 7,8
erwartete Fälle) (Jappinen et al 1987). Die andere der beiden finnischen
Studien fand bei 152 Arbeitern Lungenkrebs 6 mal häufiger als erwartet (6
beobachtete Fälle, 1 erwartet). In beiden
Untersuchungen akute Lungenschäden durch Chlororganika
Verschiedene Chlororganika können die Lunge akut schädigen. Die
wichtigste Rolle spielt dabei das toxische Lungenödem:
Wenn chemisch reaktive Gase mit geringer Wasserlöslichkeit in die
Lungenbläschen gelangen, können sie wegen ihrer Fettfreundlichkeit die Wände
der Lungenbläschen durchdringen und durch reaktive Prozesse schwer schädigen.
Durch die geschädigten Wände kann Blutplasma in die Lungenbläschen austreten,
wodurch es zur Durchtränkung der Lunge mit Flüssigkeit, dem Lungen
ödem, kommt. Dabei kann der Austausch von Kohlendioxid und Sauerstoff
so stark beeinträchtigt werden, daß es zur Erstickung kommt. Besonders tückisch
ist, daß zwischen der Substanzen
wirkung und dem ausgebildeten Lungenödem eine beschwerde freie Zeit von
1-2 Tagen liegen kann.
Chlor und Phosgen können nach dem geschilderten Mechanismus ein
Lungenödem auslösen und stellen daher vor allem bei Chemieunfällen eine große
Gefahr dar. Beide Gase wurden auch als
Kampfgase eingesetzt.
Tetrachlorethylen (Per) kann, obwohl es nicht hochreaktiv ist, durch
Einlagerung in die Wandung der Lungenbläschen ein Lungenödem auslösen.
(Eisenbrand 1994, 68)
Identität der bei Ratten im Test erzeugten Tumoren sowie durch die auf
molekularer Ebene schlüssige Beweisführung des kanzerogenen Wirkungsmechanismus
(enzymatische Reduktion) unterstützt (s. Henschler 1994, S. 23-28).
Diese Studie teilt nicht die Mängel der vorausgehenden Untersuchungen.
Sie kommen meist deshalb zu keiner signifikant positiven Assoziation zwischen
TRI und Nierenkrebs, weil sie kaum Personen untersuchten, die über längere
Zeiträume gegenüber TRI als Reinstoff exponiert waren. Außerdem erfaßten sie
Krebstodesfälle, nicht aber Krebserkrankungen. Letzteres ist aufgrund der
Heilbarkeit von Nierenkrebs wichtig.
Diese Nierenkrebsstudie ist in der deutschen Toxikologie wohl die
überzeugendste, die in den letzten Jahren zu chlororganischen Krebsrisiken
unternommen wurde. Sie muß endlich Anlaß sein,
TRI als humankanzerogene Verbindung einzustufen und die Anwendung von
TRI in der Metallentfettung und als Lösemittel in Gummiklebstoffen zu
verbieten.
3.5 Weichteilsarkom (Soft Tissue Sarkom)
Weichteilsarkom (STS) ist eine seltene Krebsform, die z.B. in England
und Wales nur 4 von 100 000 Menschen betrifft (Brahams 1992). STS ist ein
allgemeiner Begriff für Tumoren, die sich in verschiedenen Typen von
Bindegewebe wie Fett, Muskeln, peripheren Nerven, Blut und Lymphgewebe
entwickeln. Einige epidemiologische Studien legen einen Zusammenhang zwischen
gestiegener STS-Inzidenz und beruflicher Exposition gegenüber Chlorphenolen und
Phenoxyessigsäuren nahe, obwohl andere Studien keinen Zusammenhang fanden.
Chlorpenole umfassen u.a. die
Chemikalien Trichlorphenol, Tetrachlorphenol und Pentachlorphenol, ebenso
Phenoxyessigsäuren wie 2,4,5-Trichloressigsäure (2,4,5-T) und
2,4-Dichloressigsäure (2,4-D). Diese Chemikalien führen wie gewiesen bei
Labortieren zu Krebs und sind durch die IARC als "beim Menschen
wahrscheinlich krebserzeugend" eingestuft.
Naheliegend ist auch die Möglichkeit, daß im Falle von Chlorphenolen
und Phenoxyessigsäuren Dioxine als Verunreinigungen für die Zuwachsraten von
STS mitverantwortlich sind.
Chlorphenole und Chlorphenoxyessigsäuren mit Dioxin-Verunreinigungen
Einige epidemiologische Studien zur Häufigkeit des Weichteilsarkoms
nach Exposition gegenüber Chlorphenolen und Phenoxyessigsäuren wurden an
Arbeitern aus verschiedenen Berufszweigen in Schweden durchgeführt (z.B.
Forstwirtschaft, Landwirtschaft, Malergewerbe, Zimmerleute, Sägewerke) (z.B.
Hardell und Sandstrom 1979, Eriksson et al. 1981, Hardell und Eriksson 1988,
Eriksson et al. 1990). Diese Studien haben die berufliche Exposition gegenüber
Chlorphenolen und Phenoxyessigsäuren anhand von Befragungen der betroffenen
Personen gemessen.
Sämtliche Studien fanden eine Verbindung zwischen Exposition gegenüber
Phenoxyessigsäuren und STS. In drei Studien fand sich auch ein Zusammenhang mit
der Exposition gegenüber Chlorphenolen. In den ersten Studien wurde ein annähernd
dreifach höheres STS-Risiko durch Exposition gegenüber diesen Chemikalien
konstatiert.
Eriksson et al. (1990) berichten von einem 1,8 fachen Risikoanstieg für
STS bei Exposition gegenüber Chlorphenolen oder Phenoxyessigsäuren. Bei
separater Betrachtung der Expositionsrisiken für beide Chemikalien stellte sich
heraus, daß für die erhöhte STS-Häufigkeit Dioxine als Verunreinigungen
mitverantwortlich gewesen sein könnten. Sämtliche Chlorphenole sind
herstellungsbedingt mit Dioxinen verunreinigt. Dieser Dioxingehalt könnte
bewirkt haben, daß das Risiko bei hoher Exposition gegenüber Chlorphenolen in
dieser Studie fünfmal so hoch war (RR = 5,25) wie im Normalfall. Nicht alle
Phenoxyessigsäuren sind jedoch mit Dioxinen verschmutzt. Das Expositionsrisiko bei
nicht verunreinigten Verbindungen war niedriger als für Chlorphenole und nicht
signifikant. Dazu kommt, daß die Phenoxyessigsäure 2,4,5-T mit den giftigsten
Dioxin-Kongeneren (TCDD) verunreinigt ist (z.B. bei "Agent Orange",
s.u.). Wurde die Exposition gegenüber 2,4,5-T in die Berechnung nicht
einbezogen, war das Krebsrisiko entsprechend geringer.
Eine kürzlich veröffentlichte Studie auf der Basis einer Kohorte aus
18919 Produktionsarbeitern und Arbeitern, die als "Sprayers"
Chlor-Phenoxy-Herbizide (hauptsächlich 2,4-D, aber auch 2,4-DB, 2,4 DCP, 2,4
DP, 2,4,5-T, MCPA, MCPB und MCPP) versprüht hatten, erbrachte ein neunfaches
Weichteilkrebs-Risiko für die Untergruppe der Sprayer, deren Exposition
zwischen 10 und 19 Jahren zurücklag. (Saracchi et al. 1991)
Studien zur Dioxin-Exposition legen einen Zusammenhang mit einem
erhöhten Risiko für STS nahe. So ergibt die Studie von Fingerhut et al (1991)
einen signifikanten 9-fachen Mortalitätsanstieg durch STS in jener Gruppe von
Arbeitern, die gegenüber Dioxinen mindestens 1 Jahr exponiert waren. Die
Latenzeit lag bei 20 Jahren. Die Fallzahl war allerdings klein (3 Todesfälle
bei 922 Personen). Eine Studie zur Krebsinzidenz im Anschluß an den
Seveso-Unfall fand einen 2,3 fachen Anstieg der STS-Fälle nach einer Latenzeit
von 10 Jahren (Bertazzi et al. 1993).
Vor allem die Ergebnisse schwedischer Studien legen nahe, daß bei
Belastung durch Chorphenole und Phenoxyessigsäure mit erhöhter STS-Inzidenz zu
rechnen ist.
Befunde zur Dioxinexposition und die jüngste schwedische Studie
(Eriksson et al. 1990) lassen vermuten, daß dies teilweise an
Dioxinverunreinigungen der Chemikalien liegt.
Die Autoren führen die Unstimmigkeiten mit anderen Studien jedenfalls
auf die unterschiedlich starken Verunreinigungen dieser Chemikalien mit
Dioxinen zurück.
Als Konsequenz aus dem wachsenden Beweismaterial für eine Verbindung
zwischen diesen Chemikalien und STS und möglicherweise Non-Hodgkin-Lymphom
(s.u.) wurde Pentachlorphenol in Schweden, der Schweiz, Deutschland und
Dänemark verboten (Reigner et al. 1993). In Deutschland waren für das 1989
erfolgte Verbot der Chemikalie allerdings nicht das Berufskrebsrisiko, sondern
Gesundheitsschäden der Allgemeinbevölkerung durch PCP in Holzschutzmitteln
ausschlaggebend (Interessengemeinschaft der Holzschutzmittel geschädigten
1994). Außerdem hatte man
PCP als eine der Hauptquellen des Dioxineintrags aus der
Chemikalienproduktion identifiziert (Umweltbundesamt 1992a, S. 460).
Die Ergebnisse aus den Studien zu dioxinverunreinigtem 2,4,5-T sind
auch deswegen beunruhigend, weil Pilotstudien in Vietnam bereits eine hohe
Belastung von Einzelpersonen mit 2,3,7,8-TCDD (Dioxin) ergeben haben, das in
dem Agent-Orange-Herbizid (2,4,5-T) enthalten war. Epidemiologische Studien zum
damit verbundenen Krebsrisiko als Langzeitfolge des US-Krieges in Vietnam
befinden sich in Vorbereitung (Phuong et al. 1989; Phiet et al. 1989).
3.6 Lymphknotenkrebs (Non Hodgkin Lymphom)
Non Hodgkin Lymphom (NHL) ist ein Krebs des lymphatischen Systems.
Epidemiologische Studien bei Bauern und landwirtschaftlichen Arbeitern
legen einen engen Zusammenhang zwischen Exposition gegenüber
Phenoxyessigsäure-Herbiziden und NHL nahe. Der Zusammenhang besteht nicht nur
mit 2,4,5-T, die in Deutschland zusammen mit Trichlorphenol bei Boehringer-Ingelheim
in Hamburg bis 1983 produziert wurde, sondern auch und insbesondere für 2,4-D.
2,4-D (2,4-Dichlorphenoxyessigsäure)
Obwohl bei 2,4-D nicht die extrem hohe Dioxinbelastung durch die
Herstellung (Abfälle) und durch Verunreinigungen des fertigen Produkts wie bei
2,4,5-T besteht, birgt die Dichlorphenoxyessigsäure große Gesundheitsgefahren
in sich. Aus importiertem 2,4-Dichlorphenol werden hierzulande die Herbizide
2,4-D (BASF) und seine Verwandten Dichlorprop (BASF) und Diclofop-methyl
(Hoechst) in großem Umfang produziert, angewendet und exportiert. Dazu kommen
große Mengen von chemisch ähnlichen Pestiziden wie MCPA (Bayer, BASF), MCPP
(Bayer, BASF), Omethoat (Bayer) sowie Metazachlor (BASF). (Umweltbundesamt
1992b, S. 165-192).
Die NHL-Studien fanden das erhöhte Erkrankungsrisiko folglich nicht
zufällig in der Landwirtschaft oder in stark pestizidbelasteten Agrargebieten
(z.B. Cantor 1982, Burmeister et al. 1983, Buesching und Wollstadt 1984).
Cantor (1982) führt die erhöhte Rate an Non-Hodgkin-Lymphomen in Wisconsin
hauptsächlich auf 2,4-D zurück.
In Fall-Kontroll-Studien konnte eine Arbeitsgruppe (Cantor et al. 1985)
anhand der Daten von 1822 verstorbenen Bauern aus Iowa und Minnesota eine
signifikante Häufung an kleinzelligen Non-Hodkin-Lymphomen nachweisen, wenn
eine Exposition gegenüber Lindan (OR 1,9), 2,4-5-T (OR 1,9), Atrazin (OR 1,6)
vorlag. Ebenso konnte sie den Zusammenhang zwischen allen Typen des
Non-Hodgkin-Lymphoms und diversen Pestiziden wie Chloramben (OR 2,2), PCP (OR
1,6) oder DDT (OR 1,5) sichern.
Cantor et al. (1992) haben eine weitere Fall-Kontroll-Studie zum
Vorkommen von 622 Non-Hodgkin-Lymphomen in Iowa und Minnesota vorgelegt. Deren
Resultat war ein auf das 1,5-fache und mehr erhöhtes Risiko beim persönlichen
Umgang, Mischen und Anwenden von chlororganischen Pestiziden. Bei den Stoffen
fanden sich Chlordan, DDT, Toxaphen (in Deutschland verboten) sowie Dichlorvos
und Lindan (in Deutschland zugelassen).
Auf der Basis von 442 Fällen von NHL bei landwirtschaftlichen Arbeitern
in Kansas konnten Hoar et al. (1986) das Herbizid 2,4-D als verursachenden
Stoff mit großer Wahrscheinlichkeit nachweisen. Die Abhängigkeit des Risikos
von Grad und Dauer der Herbizid-Exposition war signifikant. Mit STS bestand
hier keine Verbindung. Aber Männer, die den Herbiziden mehr als 20 Tage im Jahr
ausgesetzt waren, wiesen einen 6-fachen Anstieg des NHL-Risikos auf (OR = 6,0).
Dieses Ergebnis wurde in einer Folgestudie in Ost-Nebraska erhärtet (Hoar-Zahm
et al. 1990). Unter den Männern, die 2,4-D mischten und anwandten, war die Rate
an Non-Hodgkin-Lymphomen um 50% erhöht, und sie stieg auf das Dreifache bei
solchen Personen, die mehr als 20 Tage pro Jahr gegenüber 2,4-D exponiert
waren. Dieses Phenoxyessigsäure-Herbizid (2,4-D) enthielt keine nachweisbaren
Mengen der eindeutig hochkarzinogenen Dioxin-Kongenere TCDD. Allerdings konnte
es mit anderen, weniger stark toxischen Dioxin-Kongeneren kontaminiert sein.
In einer neueren Studie konnte die italienische Arbeitsgrupppe um Paolo
Vineis (1991) ihren Verdacht bestätigen, daß in Arealen mit hoher Belastung
durch Phenoxy-Herbizide das Risiko für Lymphknotenkrebs des Non-Hodgkin-Typs
erheblich erhöht ist. Sie fanden eine eindeutige Dosis-Wirkung-Beziehung. Auch
Wigle et al. (1990) haben in einer Studie an 70 000 kanadischen Farmern in
Saskatchewan einen 2,2-fachen Zuwachs der NHL-Mortalität bei Personen
festgestellt, die 2,4-D ausgesetzt waren. Allerdings sind für die
NHL-Erkrankungen auch andere chlororganische Pestizide mitverantwortlich.
Fazit: Die hohe Evidenz für die kanzerogene Eigenschaft des 2,4-D macht
seine toxikologische Fehlklassifikation durch die deutsche
MAK-Werte-Kommission, die den Stoff nicht einmal als "mit begründetem
Verdacht auf krebserzeugendes Potential" einstuft, immer deutlicher (DFG
1994a, S. 41). Als Folge der neuen Erkenntnisse über 2,4-D wird in Schweden
seit 1991 die Anwendung dieses Herbizids nicht mehr gestattet.
3.7 Aplastische Anämie
Aplastische Anämie wird als Vorstadium von Krebs betrachtet, das
bestimmte weiße Blutzellen und folglich die Funktion des Immunsystems angreift.
Der Zusammenhang zwischen aplastischer Anämie und vorausgehender Exposition
gegenüber industriellen Chemikalien ist seit langem bekannt, wobei in den
meisten Fällen keine Einzel-Chemikalien als Ursache vermutet wurden.
Eine Zusammenschau der bis 1993 verfügbaren Literatur zeigte, daß 280
berichtete Fälle von aplastischer Anämie in Verbindung mit Pestizid-Exposition
gebracht wurden (Fleming und Timmeny 1993).
Bezüglich der Exposition gegenüber spezifisch chlororganischen
Chemikalien wurde jüngst in einigen Fallstudien bemerkt, daß aplastische Anämie
in Verbindung mit Exposition gegenüber Lindan
(γ-Hexachlorcyclohexan/ -HCH) oder Pentachlorphenol nach Anwendung
von Holzschutzmitteln in der Wohnung und nach beruflicher Exposition steht
(z.B. Rugman und Cosstick 1990; Brahams 1992; Brahams 1994).
Lindan und PCP
Lindan, das im Unterschied zu PCP in Deutschland noch erlaubt ist,
führt bei Tieren zu Krebs. Der WHO-Report läßt die Bewertung einer solchen
Chemikalie auch als für den Menschen "krebsverdächtig" zu (Rugman und
Cosstick 1990). Obwohl es keine epidemiologischen Studien zur Exposition
gegenüber Chlororganika und aplastischer Anämie gibt, legen individuelle Fallstudien
nahe, daß aplastische Anämie durch Lindan-Exposition verursacht werden kann.
3.8 Blasen- und Mastdarmkrebs
Blasenkrebs ist überdurchschnittlich stark unter Chemiearbeitern
verbreitet, die mit Farbstoffvorprodukten aus aromatischen Aminen zu tun hatten
und über das Gefährdungspotential nicht ausreichend informiert worden waren.
4-Chlor-ortho-Toluidin
So erkrankten von 1967 bis 1985 in einer kleinen Produktionsabteilung
des Stammwerks der Hoechst AG, wo das chlorhaltige Amin
"4-Chlor-ortho-Toluidin" hergestellt wurde, acht Personen an
Harnblasenkrebs (Stasik 1988). Die Exposition gegenüber diesem Stoff erhöhte
das Risiko, an Blasenkrebs zu erkranken, um das 73-fache, verglichen mit der
auf der Basis der Allgemeinbevölkerung zu erwartenden Erkrankungsrate. 1992 war
die Zahl der Blasenkrebsfälle aus dieser mittlerweile eingestellten Produktion
auf zwölf angestiegen (Hien 1994, 244-252; Arbeit&Ökologie-Briefe 6/1993).
Trinkwasserchlorungsprodukte & Badewasserchlorungsprodukte Einigen
neueren Studien zufolge sind jedoch nicht nur Chemiearbeiter von
Blasenkrebsrisiken betroffen. Auch die Allgemeinbevölkerung unterliegt einem
-wenn auch vergleichsweise geringfügigeren- Risiko für Blasen- und
Mastdarmkrebs durch Chlororganika.
Chlor und das chlorabspaltende Hypochlorit wird z.T. dem Trinkwasser
und Badewasser in Badeanstalten als Desinfektionsmittel zugesetzt, um
Infektionskrankheiten vorzubeugen. Diese Gesundheitsschutzmaßnahme hat sich
gegenüber weitverbreiteten Erkrankungen zweifellos als sehr erfolgreich
erwiesen. 1974 wurde jedoch entdeckt, daß die Chlorung von Wasser zur Bildung
vieler flüchtiger chlororganischer Verbindungen führt, die durch Reaktion von
Chlor mit organischem Material im Wasser entstehen. Die meisten der bekannten
Nebenprodukte sind sogenannte Trihalomethane (THM) einschließlich Chloroform,
das bei Tieren eindeutig Krebs verursacht sowie die allergenen Chloramine
(Eisenbrand 1994, 95). Chemische Analysen gechlorter Wasserproben haben seitdem
Hunderte weiterer nichtflüchtiger chlorierter Substanzen aufgespürt, die nur in
Spurenkonzentrationen (< 1 ppb) weit unterhalb des THM-Pegels vorkommen,
aber ebenfalls toxisch sind.
Extrakte chlorierter Nebenprodukte aus dem Trinkwasser zeigten sich in
einer Vielzahl von in vitro-Tests mit Bakterien-, Nagetier- und Humanzellen als
gentoxisch (Wilcox und Williamson 1986).
In den vergangenen 20 Jahren seit der Entdeckung der THMs im
Trinkwasser wurden viele epidemiologische Studien mit dem Untersuchungsziel
durchgeführt, ob beim Menschen ein erhöhtes Krebsrisiko durch Nebenprodukte der
Trinkwasserchlorung besteht (Zieler et al. 1988, Cantor 1994).
Positive Befunde aus solchen Studien legen einen Zusammenhang zwischen
Trinkwasserchlorung und erhöhtem Risiko für Krebs der Blase, des Dickdarms und
des Mastdarms nahe (Cantor 1994). Die Studien nehmen Vergleiche vor zwischen
Krebsmorbiditäts- und Krebsmortalitätsraten in Gebieten vor in denen einerseits
gechlortes Oberflächenwasser und andererseits ungechlortes Grundwasser für die
Trinkwasserversorgung benutzt wurde. Diese und andere Studien stimmten in der
Aufdeckung eines, wenn auch nur geringfügig erhöhten Risikos für Blasen-,
Dickdarm-
und Mastdarmkrebs überein.
Neue Fall-Kontroll-Studien legen stärker belastbare Daten zugrunde
(Interviews statt Totenschein-Auswertung). Damit konnte die
Lebenszeitexposition der Betroffenen gegenüber gechlortem Wasser präziser
festgestellt werden (z.B. Cantor et al. 1987, McGeehin et al. 1993). Diese
Studien fanden ebenfalls ein erhöhtes Blasenkrebsrisiko bei Langzeitexposition
gegenüber gechlortem Trinkwasser. Nach Cantor (1994) legen die toxikologischen
und epidemiologischen Daten ein relatives Risiko von 1,5 bis 2 für Blasen- und
Mastdarmkrebs nahe.
Welche chlorierten Nebenprodukte im Wasser für das erhöhte Krebsrisiko
verantwortlich sind, ist noch nicht geklärt. Die IARC führt in ihrer
Zusammenstellung krebserzeugender Stoffe allgemein
"Trinkwasserchlorierungsprodukte" auf (vgl. Tabelle 5). Neue
Tier-Studien legen nahe, daß die organischen Nebenprodukte der Wasserchlorung,
die THMs, von größter Bedeutung sind (Dunnick und Melnick 1993).
Allerdings wächst auch die Evidenz, daß nichtflüchtige chlorierte
Nebenprodukte kanzerogen und für den Hauptteil der Toxizität verantwortlich
sind (Cantor 1994). Die Europäische Gemeinschaft hat schon 1980 eine
Trinkwasser-Richtlinie verabschiedet, die einen Höchstwert für die
leichtflüchtigen Organohalogene von 1 Mikrogramm pro Liter vorsieht. Damals
betrug der Durchschnittswert für 50 deutsche Städte noch 12 Mikrogamm pro Liter
(Koch 1984, S. 261). Erst 1989 wurde in Deutschland, wo die Hälfte des
Trinkwasser gechlort wird, die EG-Richtlinie umgesetzt. Allerdings wurde der
Höchstwert für organische Chlorverbindungen durch die Trinkwasserverordnung
nicht auf 1, sondern auf 3 Mikrogramm pro Liter festgelegt. Mögliche
Alternativen zur Trinkwasserchlorung wie Ozon- oder UV-Behandlung wurden u.a.
in Deutschland erfolgreich geprüft. Einige Städte in den USA und in Europa
setzen diese Alternativverfahren schon ein.
In gechlortem Badewasser entstehen bedenkliche Trihalomethane wie
Chloroform. Im Blut von Vielschwimmern wurde Chloroform in stark erhöhter
Konzentration nachgewiesen. Die Trihalomethane stellen demnach zumindest für
Vielschwimmer, Bademeister u.a. Personen mit erhöhter Exposition ein erhöhtes
Gesundheitsrisiko dar.
Auch für die Chlorung des Badewassers stehen Alternativverfahren bzw.
Methoden zur Reduktion des Chlorbedarfs wie Ozonbehandlung und
Aktivkohlefilterung zur Verfügung. Eine als Entwurf existierende
"Verordnung über Schwimm- und Badebeckenwasser", die Richtwerte für
die Chlorungsnebenprodukte vorschreiben soll, wartet seit Jahren auf ihre
Verabschiedung durch die Bundesregierung.
3.9 Allgemeine Krebsmorbidität
Dioxine
Daß Dioxine (TCDD) bei Tieren Krebs verursachen, gilt als bewiesen.
Neue epidemiologische Studien haben auch gezeigt, daß Dioxinexposition in
eindeutigem Zusammenhang mit erhöhter Mortalität durch sämtliche Krebsformen
steht (Zober et al. 1990, Manz et al. 1991, Fingerhut et al. 1991). Diese
Studien untersuchten die Krebsmortalität von Arbeitern, die beruflich Dioxinen
ausgesetzt waren. Manz et al. (1991) studierten eine Gruppe von 1583 Arbeitern,
die durch ihre Beschäftigung in einer deutschen Herbizid-Fabrik
(2,4,5-Trichlorphenol-Produktion bei Boehringer-Ingelheim, Werk Hamburg) Dioxin
ausgesetzt waren. Die Krebssterblichkeit war bei Männern mit 20 oder mehr
Beschäftigungsjahren in der Fabrik 1,8 Mal größer als bei nichtexponierten
Arbeitern (Standardisierte Mortalitäts-Rate SMR = 1,82). Arbeiter, die schon
vor 1955 beschäftigt und sehr hohen Dioxinkonzentrationen ausgesetzt waren,
wiesen, wenn sie ebenfalls mindestens 20 Jahre im Betrieb waren, ein noch
größeres Krebsmortalitätsrisiko auf (SMR = 2,24).
Die Studie von Zober et al. (1990) untersuchte die Krebsmortalität bei
247 Arbeitern, die nach einem 1954 erfolgten Unfall bei der BASF in
Ludwigshafen (2,4,5-Trichlorphenol-Produktion) mit sehr großen Dioxinmengen
belastet worden waren. Bei aller Kritikwürdigkeit dieser im Auftrag der BASF
durchgeführten Studie (vgl. Hien 1994, 398-409) mußte auch sie bei hochgradig
Dioxin-exponierten Arbeitern einen signifikanten Zuwachs der
Krebs-Gesamtsterblichkeit 20 oder mehr Jahre nach der Exposition zugeben (SMR =
2,01).
Fingerhuts schon mehrfach zitierte Untersuchung von 5 172 Arbeitern in
den USA, die Dioxin-kontaminierte Chemikalien produzierten, stellte unter
Berücksichtigung einer Mindestlatenzzeit von
20 Jahren eine signifikant erhöhte Sterblichkeit an malignen
Erkrankungen (SMR = 1,46) fest (Fingerhut et al. 1991).
Trotz dieser epidemiologischen Beweise und des 1994 von der US-EPA
überzeugend dargelegten "Dioxin-Reassessments" haben weder die IARC
noch die deutsche MAK-Werte-Kommission Dioxine (TCDD) bisher als
humankanzerogen, sondern nur "im Tierversuch ... eindeutig als
krebserzeugend erwiesen" eingestuft (DFG 1994a, S. 95).
Feuerwehrleuten, die bei Löscharbeiten in einem Kraftwerk diesen
Chemikalien ausgesetzt gewesen waren, zeigte Gedächtnischwäche und niedrigere
Punktwerte bei kognitiven (Intelligenz-)Tests.
Bei den Unfällen in Yusho und Yu-Cheng, wo PCB- und dioxinverseuchter
Reis verzehrt wurde, fanden sich Anzeichen von Nervenschäden bei einigen
exponierten Erwachsenen. Die Nervenschäden waren durch Verlangsamung der
Übertragung von Nervensignalen in das periphere Nervensystem gekennzeichnet
(Seegal und Shain 1992).
Nicht immer werden schwerflüchtige chlororganische Verbindungen, die
wegen ihres niedrigen Dampfdrucks gewöhnlich nicht zu hohen Luftkonzentrationen
führen, auf dem Nahrungsweg aufgenommen. Besonders in Innenräumen können sich
auch schwerflüchtige Verbindungen in der Atemluft so stark aufkonzentrieren,
dass neurotoxische Effekte möglich sind, insbesonder dann, wenn Personen
gegenüber solchen Stoffen langzeitexponiert sind. Das ist häufig in Wohnräumen
oder Büros der Fall (Sick building syndrom etc.).
Hexachlorcyclohexan (HCH)
Belastende Luftkonzentrationen durch schwerflüchtige Verbindungen sind
mitunter auch an industriellen Arbeitsplätzen anzutreffen. Während frühere
Studien bei chronischer Niedrigdosis-Exposition keine Auswirkungen auf das
Nervensystem gefunden hatten (Baumann et al. 1981), stieß eine neuere Studie zu
356 Arbeitern, die in einer indischen Fabrik HCH verarbeiteten, auf
neurologische Symptome (Nigam et al. 1993). Die Belastung wurde durch
Blutproben von HCH (α-HCH und β-HCH) bestimmt. Unter den Arbeitern
wurden verschiedene Symptome gefunden, vor allem erhöhte Fälle von
Kopfschmerzen, Schwindel und Übelkeit. Auch fanden sich bei einigen Arbeitern
EEG-Abnormalitäten, die Störungen in den Gehirnfunktionen anzeigen. Diese
neurologischen Symptome wurden mit der Intensität der HCH-Exposition der
Arbeiter in Beziehung gesetzt und die HCH-Exposition als offenkundige Ursache
erkannt.
PCP und Lindan in Holzschutzmitteln
Jene Symptome, nämlich eine Anhäufung relativ unspezifischer
subjektiver Befindlichkeitsstörungen, wurden auch beim deutschen
Holzschutzmittel-Skandal als Hauptwirkung von Langzeitexposition im
Niedrigdosisbereich durch PCP und Lindan diagnostiziert. Sie wurden auch als
"Holzschutzmittelsyndrom" bezeichnet. Nach einer
Schadensdokumentation der "Interessengemeinschaft
Holzschutzmittel-Geschädigter" haben sich mindestens 10 000 Personen in
ihren Wohnungen durch das Einatmen langsam ausgasender Holzschutzmittel, die
sie zum Teil selber in den siebziger und achtziger Jahren verstrichen hatten,
in dieser Art vergiftet. Von betroffenen Patienten wurden in einer Stichprobe
(Jüdt-Duve/Duve 1993, S. 85 ff.) am häufigsten
Konzentration-/Schlaf-/Merkfähigkeitsstörungen, depressive Stimmungslage,
Schwitzen und Ermüdbarkeit genannt.
Diese Befunde decken sich mit einer Fall-Kontrollstudie an der
Universitäts-Frauenklinik Heidelberg, bei der 15 Holzschutzmittel-Exponierte
mit einem Mittelwert von 48,3 Mikrogramm PCP im Liter Blutserum und einer mittleren
Expositionsdauer von 11 Jahren einer gleichgroßen Kontrollgruppe ohne Belastung
gegenübergestellt wurden (Ertl o.J., S. 30). Es wurden folgende Vergleichswerte
zwischen beiden Gruppen festgestellt: Erschöpfung (87% gegenüber 15%),
Müdigkeit (87% gegenüber 33%), Schlafstörungen (80% gegenüber 15%),
Energielosigkeit (67% gegenüber 25%), Libidostörungen (66% zu 0%), Reizbarkeit
(60% zu 31%), Antriebslosigkeit (13% zu 0%).
Der Hamburger Mediziner Fabig (1992) dignostizierte bei
Holzschutzmittel-Geschädigten mithilfe eines radiologischen
Untersuchungsverfahrens eine Veringerung des "regionalen cerebralen
Blutflusses", die er mit der Belastung durch PCP, Lindan, Dioxinen und
organischen Lösemitteln in Verbindung brachte. Veränderte regionale Hirnstromaktivität
stellte der Schleswiger Neurologe Lohmann (1989) mithilfe einer
EEG-Weiterentwicklung (brain mapping) fest.
Außer Befindlichkeitsstörungen (Leistungsminderung,
Konzentrationsschwäche usw.) diagnostizierten Huber et al. (1990) auch
Immunstörungen bei pathologisch belasteten Probanden (PCP-Wert
im Blut über 20 Mikrogramm/Liter). Dies liegt aufgrund der
Wechselwirkungen zwischen Nervensystem und Immunsystem nahe (Reichert 1990,
S.260).
Perchlorethylen
Neben etwa 5 000 Tonnen für Chemische Reinigungen geht heute die
Hauptmasse der inländischen Anwendung von Perchlorethylen (Per) in die
Metallindustrie zur Metallentfettung. Ca. 20 000 Tonnen Per werden jährlich als
Ersatz für verflüchtigtes Lösemittel eingesetzt bzw. emittiert. Nachdem ein
teilweiser Umstellungsprozeß auf wäßrige Verfahren mittlerweile weitgehend
abgeschlossen ist, dürfte sich der Jahresbedarf auf diesem Niveau einpendeln,
wobei die verbleibende Anwendung (Feinstreinigung) tendenziell nur noch in
emissionsarmen Anlagen geschieht
(Leisewitz/Schwarz 1994).
Weder solche modernen Anlagen noch die Einhaltung der zulässigen MAK-
und BAT-Werte bieten jedoch für die Arbeitsplätze in der näheren betrieblichen
Umgebung absolute Sicherheit vor PER-bedingten Beschwerden, wie ein Fallbericht
aus einer süddeutschen Fabrik für elektronische Schaltungen zeigt (Seeger
1991). Trotz Unterschreitung des MAK-Wertes von 50 ppm (=345 mg/m3) durch
Meßwerte zwischen,je nach Abstand von der Waschanlage, 5 und 15 ppm klagten die
Arbeiter in der Stanzerei immer wieder über Kopfschmerzen, Rötung der Augen und
der Haut, Probleme mit den Atemwegen, vereinzelt Nasenbluten, Magen beschwerden
und Müdigkeit. Auch der BAT-Wert, der bei 1000 Mikrogramm pro Liter Blut lag,
wurde nicht überschritten: Während die Referenzbelastung der Gesamtbevölkerung
unter 1 Mikrogramm im Liter Blut betrug, die bei Beschäftigen in anderen
Produktionsräumen des gleichen Betriebs (0,5 Mikrogramm/l) auch gemessen wurde,
fanden sich bei den über neurologische Symptome klagenden Arbeitern im Umfeld
von 15 Metern Entfernung von der neuen PER-Reinigungsanlage Konzentrationswerte
zwischen 400 und 720 Mikrogramm/Liter. Daß es sich bei den in
Metallbetrieben mit PER-Reinigungsanlagen auftretenden subjektiven
Befindlichkeitsstörungen um typische neurotoxische Effekte des Lösemittels
Perchlorethylen handelt, belegte eine Untersuchung von Böttger (1989) an 45
Chemisch-Reinigern. Die Studie entstand im Zusammenhang mit der seit 1987 in
der Öffentlichkeit geführten Diskussion um Wohnraumbelastungen in der
Nachbarschaft Chemischer Reinigungen. (Bis 1990 waren bei über 2000 Messungen
in verschiedenen deutschen Großstädten in Abhängigkeit von der Entfernung zum
Reinigungsraum Blutwerte bei der Wohnbevölkerung bis zu 100 Mikrogramm PER pro
Liter und PER-Konzentrationen in fetthaltigen Lebensmitteln bis zu 100
Milligramm
pro Kilogramm - u.a. in Butter und Speiseeis - gemessen worden).
Die von Böttger zusammengestellte Gruppe von 45 Chemisch-Reinigern aus
Düsseldorf klagte signifikant häufiger über gesundheitliche Beschwerden als
eine durch PER nicht belastete
Referenzgruppe von 106 Personen. Das galt u.a. für abnorme Müdigkeit,
Gedächtnisstörungen, Konzentrationsschwäche, Nervosität, Sprachstörungen,
Schweißausbrüche, Völlegefühl.
Zugleich wurden innerhalb der Reinigergruppe auf der Basis regelmäßiger
Blutmessungen signifikante Unterschiede in der Klagehäufigkeit von Reinigern
mit höheren PER-Blutwerten
gegenüber geringer blutbelasteten Reinigern deutlich. Die Blutkonzentrationen
der 45 Reiniger stieg übrigens von montags bis freitags kontinuierlich an (von
ca. 150 Mikrogramm/l auf 415
Mikrogramm/l). Die immer noch hohen Eingangsblutwerte am folgenden
Montag zeigten, dass ein expositionsfreies Wochenende nicht ausreicht, um das
aufgenommene PER in ausreichendem Maß aus dem Körper wieder zu entfernen. Der
Vorsorgerichtwert pro Kubikmeter Innenraumluft ist 1990 für Wohnungen auf 0,1
Milligramm pro Kubikmeter gesenkt worden (der MAK-Wert blieb bei 345 Milligramm
pro Kubikmeter!), und für Lebensmittel wurde ein PER-Höchstgehalt von 0,1
Milligramm pro Kilogramm festgelegt (Kommunale Briefe für Ökologie 22/1990).
Die Immissionsschutzauflagen für
Chemisch-Reinigungen wurden inzwischen zwar drastisch verschärft. Dennoch
zeigten sich die Gesundheitsexperten der Stadt Frankfurt am Main nach einer
Kontroll-
untersuchung 1992 skeptisch, ob durch verbesserte Reinigungstechnik die
PER-Belastung der Anwohner ausreichend gesenkt werden könne, weil auch die
Neuanlagen zu 81% die zulässigen Immissionswerte überschritten (Stadt Frankfurt
1992).
Trichlorethylen
Die Toxizität von TRI, das heute in der Metallentfettung und in
Gummiklebstoffen (Schwarz/Leisewitz 1994) im Umfang von etwa 10 000 Tonnen jährlich
eingesetzt wird, beruht auf den physiologischen Wirkungen auf das
Zentralnervensystem, hauptsächlich in der Depression der Funktionen des ZNS
nach akuten toxischen Einwirkungen. Wie 1,1,1-Trichlorethan wird es von
Schnüfflern gern eingeatmet, weil es einen euphorischen Zustand, der zur Sucht
führen kann, erzeugt.
Barett et al. (1984) fanden einschlägige Symptome wie Benommenheit,
Kopfschmerz und Müdigkeit bei einer Untersuchung von 188 Arbeitern mit
TRI-Exposition (Durchschnittsalter 41 Jahre, durchschnittliche Expositionsdauer
7 Jahre). Die Befunde waren sämtlich statistisch signifikant. Eine
epidemiologische Studie von Bowler et al. (1991) konstatierte bei 180
ehemaligen Arbeiterinnen der Mikroelektronikindustrie gegenüber einer
Vergleichsgruppe signifikant geringere Leistungen bei Aufmerksamkeit,
Konzentration, kognitiver Flexibilität, Gedächtnisfunktion und visuomotorischer
Beweglichkeit.
Trichlorethylen schädigt das Axon (die Verbindungsleitung) der
Nervenzellen, im Sinne eines "chemischen Abschneidens" der Verbindung
(Eisenbrand 1994, 85).
1.1.1-Trichlorethan
Das ozonschichtschädigende, aber angeblich humantoxisch harmlose
Lösemittel (z.B. in Tipp-ex-Verdünner) war vor seinem Verbot (1990) als
leichtes Rauschmittel beliebt, weil es in höheren Dosen narkotische und
Rausch-Wirkung entfaltet. Drei Todesfälle innerhalb 6 Monaten in Schottland
(Mac Dougall et al. 1987) haben zu vermehrter Vorsicht gegenüber diesem
Lösemittel geführt (Frentzel-Beyme/Domizlaff, S. 155).
Methylenchlorid (Dichlormethan)
Das unter Krebsverdacht stehende Methylenchlorid wurde Anfang der 90er
Jahre im Umfang von weit über 10 000 Tonnen in offenen Anlagen und
Anwendungsformen eingesetzt: bei der professionellen Metall- und
Holzentlackung, als Abbeizmittel für Lacke im Heimwerkerbereich, als Löse- und
Treibmittel in Insektensprays oder Sprays für Kfz-Werkstätten und (mit 700
Tonnen) bei der Folienbeschichtung von PVC-Fenstern (Schwarz/Leisewitz 1994).
Zentralnervöse Depression (Benommenheit, Müdigkeit, Augenirritation,
Reizhusten) traten bei einem Schreiner auf, der 2 1/2 Jahre lang
Methylenchlorid zum Abbeizen von Möbeln verwendet hatte (Shusterman et al
1990). Arbeitsplatzmessungen ergaben eine Konzentration von 350 ppm, der
Schreiner trug allerdings Schutzbrille und Atemgerät. Die Symptome ließen
jeweils an Wochenenden und im Urlaub nach. Nach Verbesserung der Atemschutz
einrichtung (häufigeres Wechseln der Gaspatronen) fielen die Symptome weg.
Bedeutsam sind die Befunde einer Kopplung von Kohlenmonoxid aus dem oxidativen
Abbau von Methylen chlorid an Hämoglobin (Frentzel-Beyme/Domizlaff, S. 35).
Letzteres stimmt mit früheren in-vitro-Studien (Ahmed et al. 1977) überein,
denen zufolge die Bioatransformation des Methylenchlorids zu Kohlenmonoxid den
Sauerstofftransport des Blutes behindert und somit eine akut-toxische Wirkung
hervorruft. Daher ist für
Methylenchlorid ein BAT-Wert von 5% Carboxyhämoglobin im Blut festgelegt
(DFG 1994a, S. 143).
4.2 Immuntoxizität
Das Immunsystem besteht aus einem Netzwerk spezialisierter Zellen, die
im Körper auf Fremdsubstanzen reagieren, um Infektionen und Erkrankungen zu
verhüten. Einige chlororganische Chemikalien sind gegenüber diesem Abwehrsystem
toxisch. Die wichtigsten toxischen Effekten sind:
- Rückgang bestimmter Zellen des Immunsystems, so daß die Resistenz
gegenüber Infekten und Tumoren nachläßt
- Auslösung einer Immunantwort, z.B. durch Zunahme von Zellen des
Immunsystems und in Folge Autoimmun-Erkrankungen und Allergien.
Charakteristisch für Immunreaktionen ist das praktische Fehlen einer
Dosis-Wirkungsbeziehung, da bei einer erfolgten Sensibilisierung schon kleinste
Mengen des Allergens zu einer vollen Immunantwort führen können.
- Unterdrückung der Immunreaktion (Immunsuppression).
In Tierversuchen erwiesen sich viele chlororganische Verbindungen als
immuntoxisch (vgl. Tabelle 6). Auch in epidemiologischen Studien wurde ein
Zusammenhang zwischen einigen dieser Chemikalien und der Immuntoxizität bei
Erwachsenen gefunden. Der Mensch in seiner frühen Entwicklungsphase scheint
gegenüber den immuntoxischen Effekten durch chlororganische Exposition
besonders empfindlich sein.
Tabelle 6: Im Tierversuch als immuntoxisch erwiesene chlororganische
Verbindungen
PCBs
DDT
Dieldrin
Dioxine
Hexachlorcyclohexane
Hexachlorbenzol
Chlordan
Pentachlorphenol
Quellen: Safe 1994, Thomas 1990, McConnachie et al. 1991 und 1992.
Chlordan und Pentachlorphenol
Chlordan ist wie andere chlororganische Chemikalien lipophil und wird
daher im Körperfett gespeichert. Es kann aber auch in das Knochenmark eindringen.
Viele Zellen des Immunsystems entstehen im Knochenmark und sind folglich
gegenüber eventuell vorhandenem Chlordan exponiert, bevor sie reif sind und ins
Blut und das lymphatische System übergehen (McConnachie et al. 1992). Das kann
die Zellen des Immunsystems schädigen.
Fallberichten zufolge sind bei Personen nach häuslicher Anwendung von
PCP-haltigen Holzschutzmitteln und dem Einsatz von Chlordan gegen Termiten bei
verschiedenen Zellen des Immunsystems Konzentrationsveränderungen aufgetreten.
Eine Studie zu den Auswirkungen auf das Immunsystem führte Chlordan bei 23
Personen an, die in ihren Wohnungen, und 4 Personen, die am Arbeitsplatz
exponiert waren (McConnachie et al. 1992). Die Expositionsdauer reichte von
drei Tagen bis zu 15 Monaten. Es wurden statistisch signifikante Veränderungen
des Immunsystems bei Personen angetroffen, die gegenüber Chlordan 2 bis 10
Jahre vorher exponiert gewesen waren. Das ist erklärlich, weil Chlordan, wie
andere Chlororganika auch, in den Fettdepots des Körpers
(einschließlich dem Knochenmark) über sehr lange Zeiträume persistiert.
Eine Studie zu immunologischen Auswirkungen nach PCP-Exposition in
Innenräumen wurde bei 38 Personen durchgeführt, die vorher in
Holzschutzmittel-behandelten Blockhäusern gewohnt hatten (McConnachie et al.
1991). Die 2 bis 9 Jahre nach Expositionsbeginn durchgeführten Tests zeigten
signifikante Veränderungen bei einigen Zelltypen des Immunsystems. Sämtliche
Personen in dieser Studie wiesen erhöhte Fallzahlen von Erkältungs- und grippeähnlichen
Krankheiten auf. Außerdem berichten sie über zahlreiche Beschwerden wie
Übelkeit, Schwindel, Allergien (bei Kindern),
Hautausschläge und Kopfschmerzen. Die Studie schlußfolgert, daß diese
Erkrankungen und Symptome nach immunologischen Labortests zu erwarten waren,
die Veränderungen bei bestimmten Zellen des Immunsystems gezeigt hatten. Die
Resultate stimmen auch mit zahlreichen Befunden im Zusammenhang mit dem
deutschen Holzschutzmittel-Prozeß überein (u.a. Karmaus 1990; Jüdt-Duve/Jüdt
1993, S. 66 ff.;. Gerhard et al. 1993). So berichten Gerhard et al. von
vermehrter Anfälligkeit "gegenüber bakteriellen, viralen und mykotischen
Infektionen" bei Frauen mit erhöhtem
PCP- und Lindan-Gehalt im Blut.
PCB’s und Dioxine
PCB’s und Dioxine erweisen sich im Tierversuch als immuntoxisch, d.h.
vor allem als immunsuppressiv. Epidemiologische Studien nach den Unfällen von
Yusho und Yu-Cheng in Japan und Taiwan ergaben signifikante Verringerungen
einiger Zelltypen des Immunsystems und eine Zunahme von Bronchitis bei
exponierten Personen. Veränderungen einiger Zelltypen des Immunsystems werden
auch bei Bewohnern bei Times Beach, Missouri, berichtet, die potentiell
Dioxinen (TCDD) ausgesetzt waren, obwohl diese Veränderungen im allgemeinen
nicht signifikant waren (zusammengestellt
bei Margolick und Vogt 1991). Auch bei einer 1973 in Michigan/USA
vorgefallenen monatelangen Belastung von Menschen mit PBB (Polybromierte
Biphenyle) wurden eindeutige Störungen des Immunsystems beobachtet (Eisenbrand
1994, 95).
Eine Follow-up-Studie bei Arbeitern in Deutschland, die mit hohen
Dioxinkonzentrationen (TCDD) nach einem Unfall bei der BASF belastet worden
waren (Zober et al. 1990), zeigte, daß Arbeiter unter längeren
Krankheitsepisoden litten, einschließlich eines signifikanten Zuwachses von
infektiösen und parasitären Erkrankungen sowie von Infekten der oberen
Atemwege. Diese Ergebnisse
entsprachen der verringerten Widerstandskraft gegenüber Infektionen
infolge immuntoxischer Effekte.
Der Verzehr von fettem Fisch aus der Ostsee ist eine potentielle Quelle
menschlicher Exposition gegenüber chlororganischen Verbindungen einschließlich
Dioxinen und PCBs. Eine schwedische Studie untersuchte 23 Männer mit hohem
Fischkonsum und eine Kontrollgruppe aus 20 Männern mit praktisch keinem Fischkonsum
(Svensson et al. 1993). Hoher Fischverzehr stand in Verbindung mit einer
signifikanten Konzentrationsverringerung eines Zelltyps im Abwehrsystem,
genannt Killerzellen. Bei anderen Zelltypen wurden keine Veränderungen
gefunden. Natürliche Killerzellen
tragen vermutlich zur Abwehr von Viren und Krebs ebenso bei wie zur
Steuerung von Funktionen anderer Abwehrzellen (Margolick und Vogt 1991; Thomas
1990).
DDT und Dieldrin erwiesen sich im Tierversuch ebenfalls als störend für
das Immunsystem (Eisenbrand 1994, 96)
Zusammengefasst legen die angeführten Studien zu Chlordan und PCP einen
Zusammenhang zwischen Exposition gegenüber diesen Verbindungen und toxischen
Effekten auf das Immunsystem nahe, auch wenn weitere Studien für den Beleg der
Aussage nötig sind, daß die Chemikalien das Abwehrsystem ursächlich geschädigt
haben. Chlordan ist seit Jahren in Nordamerika (wie in Deutschland) verboten,
doch wird es noch in andere Länder exportiert. Ebenso wird PCP noch in vielen
Ländern angewendet. Studien zu Dioxinen und PCBs legen nahe, daß eine
Exposition zu
immuntoxizischen Effekten führt, obwohl die Daten weniger schlüssig
sind.
Untersuchungen zu PCP, PCBs und Chlordan sowie die Studie von Svensson
et al. (1993) demonstrieren, daß die Effekte auf das Abwehrsystem aus der
alltäglichen Exposition gegenüber chlororganischen Umweltchemikalien
resultieren und nicht nur auf Personen begrenzt sind, die ihnen beruflich oder
nach Unfällen ausgesetzt waren.
4.3 Leber- und Nierentoxizität
Eine der Funktionen von Leber und Niere ist die Entgiftung des Körpers.
Viele Umweltschadstoffe werden durch Leberenzyme, u.a. das Cytochrom P 450,
entgiftetet, so daß Konzentrationsmessungen dieser Enzyme die Aktivität des
Entgiftungsorgans Leber und auch eine toxische Wirkung anzeigen können. Einige
Chlororganika, darunter fast alle aliphatischen, sind bei Labortieren leber-
und nierentoxisch. Es gehören aber auch Dioxine und einige Pestizide wie
Chlordecon (Rao et al. 1990) sowie Dichlorbenzol dazu. Zu schwerflüchtigen
Chlororganika liegen allerdings nur wenige Studien vor, die sich speziell mit
der Leber- und Nierentoxizität bei Menschen nach Einwirkung solcher Chemikalien
beschäftigen.
Degenerative Schädigungen an Leber und Niere sind neben der
ZNS-Toxizität und der für einige Verbindungen nachgewiesenen Kanzerogenität die
wichtigsten gesundheitlichen Störungen beim Menschen durch chlorierte
aliphatische Kohlenwasserstoffe. Entsprechende Organschäden werden von allen
als Lösemittel gebräuchlichen CKW wie PER, TRI, 1,1,1,-Trichlorethan sowie
Methylenchlorid nicht nur im Tierzucht, sondern auch bei Menschen gemeldet.
Dies ergibt sich daraus, daß die Leber der Ort ist, wo der enzymatische Abbau
der im Blut enthaltenen CKW zu
Abbauprodukten führt, die gegenüber den Ausgangsstoffen partiell toxischer
sind (metabolische Aktivierung). Oft handelt es sich bei den hochtoxischen
Metaboliten um Epoxide.
Die Niere wiederum ist der Ort, wo relativ wasserlösliche toxische
Umwandlungsprodukte zur Ausscheidung in den Harn gesammelt werden. Nach zwei
Studien zu Leber- und Nierenschäden durch schwerflüchtige zyklische
Chlororganika werden nachfolgend vor allem Fallberichte zur Leberschädigung
durch leichtflüchtige CKW-Lösemittel dokumentiert.
HCH und DDT
Eine Studie bei Arbeitern in einer indischen Fabrik für HCH fand
signifikante Veränderungen der Leberenzyme, die nach Vergleich mit den
entsprechenden HCH-Werten im Blut der Arbeiter eindeutig auf Leberschädigung
schließen lassen. Die Ergebnisse stimmen mit einer früheren Studie überein, die
Leberschäden (Zirrhose und chronische Hepatitis) bei 8 Arbeitern fand, die
gegenüber HCH und DDT exponiert waren (Nigam et al. 1993).
Perchlorethylen
Über Leberfunktionsstörungen (Lebervergrößerung) nach zweiwöchiger Inhalation
von PER-Dämpfen aus einem Metallentfettungsbad berichten Meckler und Phelps
(1966).
Bereits 1953 hatten Coler und Rossmiller (zit. bei Böttger, S. 77) bei
einer Untersuchung von 6 Arbeitern in einem metallverarbeitenden Betrieb, der
PER zur Entfettung einsetzte, bei einem Arbeiter eine Leberzirrhose
diagnostiziert. An seinem Arbeitsplatz wurden 232-385 ppm PER gemessen. (Bis
1982 betrug der MAK-Wert in Deutschland 100, seitdem 50 ppm.) Metke stellte
1976 bei Chemisch-Reinigern Auswirkungen auf die Leber im Sinne von
Beeinträchtigungen der Syntheseleistungen und Leberzellintegrität fest. Eine
Untersuchung des Hessischen Sozialministeriums bei
Chemisch-Reinigern (1987) ergab 7 Fälle mit erhöhten Leber-Werten,
davon 2 mit Leberschäden. Allerdings konnte hier Alkohol als Cofaktor nicht
ausgeschlossen werden (vgl. Böttger, S. 79).
Trichlorethylen
Auch beim enzymatischen Abbau von TRI werden toxische Epoxide gebildet,
welche die Leber und die benachbarten Nieren schädigen können.
4.4 Hauterkrankungen, Chlorakne
Die obere Hautschicht (Hornschicht) ist die wichtigste Barriere der
Haut gegen das Eindringen von Fremdstoffen, Strahlen und Mikroorganismen. Sie
besteht im wesentlichen aus mehreren Lagen verhornter Hautzellen, die von
fetthaltigem Talg durchsetzt sind; dadurch stellt sie eine gute Barriere gegen
polare Stoffe und Wasser dar.
Fettfreundliche (lipophile) Stoffe können dagegen die Haut leicht
durchdringen. Da eine hohe Lipophilie charakteristisch für Chlororganika ist,
stellt der bestehende Schutzmechanismus der Haut meist kaum ein Hindernis für
die Aufnahme dieser Stoffe dar. Zahlreiche Chlororganika wie chlorierte
Lösemittel, Dioxine, PCBs oder diverse Chlorpestizide können daher leicht über
die Haut aufgenommen und über die Blutbahn im Köper verteilt werden. Sie können
dabei die Haut selber, aber auch andere Teile des Körpers schädigen. Akut kann
es dabei zur Austrocknung der Haut, zu Rötungen, Entzündungen, Schwellungen bis
hin zu schweren Verätzungen kommen.
Die bekannteste durch Chlororganika hervorgerufene Hauterkrankung, die
v.a. durch aromatische Chlororganika wie Dioxine (v.a. TCDD/F) und PCB's
ausgelöst wird, ist die Chlorakne. Als stärkster Auslöser von Chlorakne gilt
das "Sevesodioxin" 2,3,7,8-
Tetrachlor-dibenzo-p-dioxin (TCDD). Vor allem durch die Bilder der
durch Chlorakne verunstalteten Kinder von Seveso (1976) wurde diese
Chlor-Erkrankung in einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.
Chlorakne wurde allerdings schon in der ersten Hälfte dieses
Jahrhunderts bei Chemiearbeitern, die mit Chloraromaten oder
chloraromatenverunreinigten Chemikalien in Berührung kamen, festgestellt, ohne
daß man die Ursache direkt zuordnen konnte.
Auch bei chlor chemischen Chemieunfällen (z.B. BASF 1953) kam es schon
früher zu Fällen schwerer Chlorakne.
Chlorakne ist vor allem gekennzeichnet durch eine schwere Störung der
Talgdrüsenfunktion, die über von den Chloraromaten ausgelöste genetische
Zelldefekte hervorgerufen wird. Sie ist gekennzeichnet durch:
- Vergrößerung und Zunahme der Talgdrüsenzellen
- Verhornung der Talgzellen und Bildung eines hornhauthaltigen, harten
Talgs
- Dadurch Verstopfung der Talgdrüsen mit der Folge von Entzündungen,
Pusteln, Mitessern und eitrigen Abzessen.
Chlorakne heilt nur sehr langsam ab, möglicherweise wegen der
Nachlieferung der lipophilen Chloraromaten aus dem Fettgewebe. Sie tritt außer
beim Menschen z.B. beim Rhesusaffen, nicht aber bei Nagetieren auf. (Eisenbrand
1994, 91f)
5. Chlor-Endlager Mensch
5.1 Giftanreicherung in Körperfett und Muttermilch - "ein
chlorchemischer Generationenvertrag?"
Auch beim Menschen reichern sich chlororganische Verbindungen in seinen
Fettdepots an. Vergleichbare Konzentrationen liegen, auf das extrahierte Fett
bezogen, auch im Blut, im Muskelgewebe und in der Muttermilch vor. Eine
Wiederfreisetzung aus dem Körperfett, das bei 70 kg Körpergewicht im
Durchschnitt 15% beträgt, ist nur in geringem Umfang möglich.
Bei einer Abmagerungskur wird zwar Fett abgebaut, aber die darin
gespeicherten Gifte werden lediglich aus ihrem Depot remobilisiert und zirkulieren
im Körper, anstatt ausgeschieden zu werden.
Ein besonderes Gesundheitsrisiko liegt für den gestillten Säugling vor.
Erstens nimmt das Neugeborene im Verhältnis zu seinem Körpergewicht viel mehr (drei
mal so viel) Giftfreisetzung durch Abmagerungskur.
Fettlösliche Gifte, die im menschlichen Nerven- bzw. Fettgewebe
gepeichert wurden, werden beim Fasten vermehrt wieder freigesetzt und gelangen
in die Blutbahn. Sie werden von der Leber i.d.R. kaum abgebaut. Über die Galle
in den Darm werden sie nur schwer ausgeschieden und selbst bei erfolgreicher
Ausscheidung aus den tieferen Darmabschnitten wieder rückresorbiert
enterohepatischer Kreislauf).
Abmagerungskuren können somit zwar das Körperfett reduzieren, aber kaum
die deponierten Gifte ausleiten. Gerade in der Stillzeit sollten Frauen auf
keinen Fall eine Fastenkur durchführen, weil dann zusätzlich, mangels
Speichermasse, freigesetzte Schadstoffe in die Muttermilch übergehen.
Aus den Reihen der in Deutschland durch Pentachlorphenol- und
Lindan-haltige Holzschutzmittel Geschädigten haben sich mehrere Betroffene
bestimmten Entgiftungsprogrammen unterzogen.
Von der "Inititiative gegen Gift e.V." werden gegenwärtig die
Therapieansätze des Breakspear Hospitals in Hemel Hempstead, England
(Entgiftung durch Vitamin-C-Infusion, Sauna und Bewegungsübungen), und die
"nutriologische Behandlung" nach Prof. Dr. William Rea vom
Environmental Health Center in Dallas (USA) als erfolgversprechende Möglichkeiten
genannt, die jedoch
nicht ohne ärztliche Aufsicht in Angriff genommen werden sollten.
Ensprechend der amerikanischen Kur, die für Dioxin-geschädigte
Vietnam-Veteranen entwickelt wurde, sind in Deutschland bereits 35 Patienten
behandelt worden. Nähere Informationen bei der Initiative gegen Gift e.V. in
Karlsbad-Mutschelbach und bei Dr. med. Hannes Kapuste, München.
Nahrung als ein Erwachsener auf, und zweitens ist sein Nahrungsmittel
(Muttermilch) weit überdurchschnittlich schadstoffbelastet. Ein Gramm
Muttermilchfett enthält, weil durch den Abbau der Fettdepots die Schadstoffe in
das Milchfett übergehen, beispielsweise 30 pg Toxizitätsäquivalente (TE) Dioxin
- 20 mal mehr als Kuhmilch. Aus dieser Konzentration in der Muttermilch ergibt
sich eine tägliche Aufnahme von 150 pg Dioxin (TCDD-Äquivalente) pro Kilogramm
Körpergewicht für den Säugling während des Stillens. Das ist die 15- bis 150
fache Menge des 1 bzw. 10 pg betragenden TDI (täglich duldbare Aufnahmemenge)
für einen Erwachsenen und 75 mal so viel, wie ein Erwachsener im Durchschnitt
pro kg Körpergewicht effektiv aufnimmt.
Durch die Dioxinweitergabe von der Mutter sinken die PCDD/F-Gehalte in
der Muttermilch im Verlaufe einer Stillperiode auf etwa 75% ab und gehen nach
mehreren Stillperioden beim dritten Kind fast auf die Hälfte der ursprünglichen
Gehalte zurück. Diese "Entgiftung" der Mutter ist eine
Extrembelastung für das Kind. Da der Fetus auch schon während der
Schwangerschaft über die Nabelschnur durch die Plazenta hindurch mit
chlororganisch belastetem Blut versorgt wurde (Koopman-Essebohm et al. 1994),
wird beim Menschen die erworbene chlororganische Belastung über den Transfer
von Körperfett von einer Generation auf die nächste übertragen.
Trotz aller Belastungen rät die große Mehrheit der Kinderärzte und
Toxikologen, Säuglinge bis zum sechsten Monat zu stillen. Denn die Vorteile der
Muttermilch gegenüber künstlicher Babykost sind vor allem in der frühen
Stillphase wissenschaftlich unumstritten. Sowohl von der
Nährstoffzusammensetzung her - dies betrifft besonders den Gehalt an
langkettigen, ungesättigten (LCP-)Fettsäuren - als auch aufgrund der darin
enthaltenen keimtötenden Substanzen, die der Säugling noch nicht selbst
produzieren kann, ist die Muttermilch optimal für seine Bedürfnisse geeignet.
Die Vorteile des Stillens stehen daher den Nachteilen der chlororganischen
Belastung gegenüber und werden oft als höher eingeschätzt (Reich-Schottky
1994).
Die gegenwärtigen Konzentrationen der wichtigsten bekannten
chlororganischen Verbindungen in der Muttermilch führt Tabelle 2 an:
Tab. 2: Mittlere Konzentration chlororganischer Dioxine, PCBs und Pestizide im Muttermilchfett in der Bundesrepublik (alt*) 1991
Dioxin-TE 31 pg/g
PCBs (3 Kongenere) 600 ng/g
DDT 61 ng/g
DDE 589 ng/g
β-Hexachlorcyclohexan (β-HCH) 75 ng/g
Lindan 16 ng/g
Hexachlorbenzol (HCB) 218 ng/g
Dieldrin 9 ng/g
Heptachlorepoxid 14 ng/g
Quelle: Beck et al. 1994. TE= Toxizitätsäquivalent, gemessen an der
Giftwirkung von 2,3,7,8.Tetrachlor-p-Dibenzo-Dioxin (TCDD). Von den 209
möglichen PCB-Kongeneren wurden die 3 giftigsten Leitkongenere (138, 153 und
180) gemessen und addiert.
* Nach der hier zitierten Studie liegen nur die Werte für DDT und
seinen Metaboliten DDE in den neuen Bundesländern höher, für alle anderen
Schadstoffe niedriger.
Der mittlere Dioxingehalt liegt beim Säugling am Ende der Stillperiode
bei etwa 10 pg pro Gramm Fett. Der Dioxingehalt nimmt dann mit der
Nahrungsaufnahme jährlich um ca. 1 pg pro Gramm Fett jährlich zu. Infolge der
auf über 10 Jahre geschätzten biologischen Halbwertszeit für das 2,3,7,8-TCDD
stellt sich ein Kumulationsgleichgewicht (Zufuhr ist gleich Abbau) frühestens
nach 20 Lebensjahren ein. Dann hat der herangewachsene Mensch den mittleren
Belastungswert für die Gesamtbevölkerung von 55 pg TCDD-Äquivalenten pro Gramm
Körperfett erreicht.
Daraus errechnet sich eine sogenannte "Hintergrundbelastung"
von 8 bis 9 ng TCDD-Äquivalenten pro Kilogramm Körpergewicht (8-9 ng TE/kg KG).
Diese Hintergrundbelastung, die nur ein Mittelwert ist und folglich auch weit
höher belastete Personen einschließt, ist keine Bagatelle. Schon ab 14 ng TE/kg
KG wurden beim Menschen Verringerung der Hodengröße (Air Force Health Study
1991) oder Veränderungen der Glucose-Toleranz (Verminderung des
Blutzuckerabbaus; vgl. Wolfe et al. 1992) festgestellt.
Der auf das Körperfett bezogene Wert von 55 pg TCDD-Äquivalenten pro
Gramm liegt über dem in Deutschland für die letzten Jahre ermittelten
durchschnittlichen Dioxingehalt des
Muttermilchfetts, der 30 pg pro Gramm beträgt (Streuungsbreite zwischen
6 und 87 pg Dioxin/g Fett). Aus der Meßdatenreihe läßt sich noch nicht mit
Sicherheit ein Rückgang feststellen, aber zumindest auch kein Anstieg für die
Dioxingehalte in der Muttermilch seit Beginn der Untersuchungen im Jahre 1985.
Noch immer aber sind viele chlororganische Schadstoffe in der
Muttermilch nicht nachweisbar. So ist es in Untersuchungen, die im Auftrag von
Greenpeace im Frühjahr 1995 durchgeführt wurden, erstmals gelungen,
Chlorparaffine in Muttermilch nachzuweisen. Diese als potentiell krebserzeugend
eingestuften PVC-Zusätze und Flammschutzmittel werden seit den 60er Jahren in
großen Mengen hergestellt; es gab bislang aber kaum geeignete Meßverfahren. Die
Greenpeace-Meßreihe zeigt, daß sich -wie nicht anders zu erwarten war- hohe
Konzentrationen dieses Schadstoffs in der Umwelt, in Lebensmitteln und im
Mensch angesammelt haben. In der Milch von zehn Hamburger Müttern wurden 45
μg/kg Fett gefunden. (Greenpeace 1995c) Der Fall derunbemerkten
Anreicherung der Chlorparaffine ist sicher kein Einzelfall, sondern eher
typisch für den Großteil der Chlororganika.
5.2 Die Belastung des Körpers mit längst verbotenen Schadstoffen -
"Chlorchemische Altlasten"
Wie kommt die Giftmischung in der Muttermilch in den neunziger Jahren noch
zustande, wo doch die gefundenen Pestizide DDT/DDE, β-HCH, Hexachlorbenzol
(HCB), Aldrin/Dieldrin sowie Heptachlor/Heptachlorepoxid teilweise seit zwanzig
Jahren nicht mehr auf deutschen Feldern ausgebracht werden dürfen? Auch die
Produktion von PCBs ist seit 1983 (Hersteller: Bayer AG) in Deutschland beendet
(aber nicht ihre Verwendung). Lindan ist trotz des Holzschutzmittelskandals
noch zugelassen, wird aber seit Jahren in verringertem Maße eingesetzt. Dioxine
entstehen jedoch jährlich neu, und zwar als unbeabsichtigte Nebenprodukte.
Das Vorkommen verbotener Chlororganika in menschlichem Fett ist zum
großen Teil ihrer hohen Lebensdauer in der Umwelt geschuldet. In kleinen
Konzentrationen global verbreitet, werden sie auch heute noch über die
Nahrungskette "zurückgeholt". Zum Teil werden aber Pestizide, die bei
uns verboten sind, noch im Ausland produziert und angewendet. Von DDT ist
bekannt, daß es
-u.a. aus indischer Produktion- bei der Chlorparaffine sind Chlorgifte
Außer schwerflüchtigen zyklischen und leichtflüchtigen offenkettigen
gibt es auch chlororganische Verbindungen, die schwerflüchtig und offenkettig
sind. Wichtigste Vertreter dieser Stoffklasse sind die öl- bis wachsartigen
Chlorparaffine, die im Molekül mindestens zehn Kohlenstoffatome enthalten, was
ihre Schwerflüchtigkeit bedingt.
Chlorparaffine, in Deutschland gegenwärtig von der Hoechst AG im Umfang
von etwa 20 000 Tonnen erzeugt, werden als PVC-Weichmacher, als
Flammschutzmittel für andere Kunststoffe und Gummiartikel, als Zusätze in Beschichtungen,
Dichtungsmassen, Kitten, in Anstrichmitteln und als Additive in
Metallbearbeitungsölen eingesetzt. (Greenpeace 1995 e)
Wie die zyklischen schwerflüchtigen Chlororganika sind sie schwer ab
baubar und reichern sich in den Sedimenten von Flüssen und küstennahen
Meeresregionen an. (Greenpeace 1995d) Krebse, Würmer, Miesmuscheln
konzentrieren sie in ihrem Gewebe auf, so daß sie sich auf höherer Stufe der
Nahrungskette auch in Seevögeln und Fischen vor finden. (Greenpeace 1995c)
Im Tierversuch bei Säugern (Ratten, Mäuse) erzeugen Chlorparaffine
nicht nur erhöhte Sterblichkeit, sondern schon in niedrigen Gaben bösartige
Tumoren bei Leber, Niere und Schilddrüse (BUA-Stoffbericht 93, 168-171). Darum
sind sie von der MAK-Werte-Komission als krebsverdächtig (III B-Stoff)
eingestuft.
Aus dem Umstand, daß außer einigen Fallberichten über erhöhte
menschliche Leberwerte (BUA-Stoffbericht 93, 189) keine systematischen
Untersuchungsergebnisse über die Chlorparaffin-Konzentration im menschlichen
Gewebe vorliegen und erst recht keine Studienresultate zu gesundheitlichen
Schäden bei Menschen (weil keine solchen Studien jemals in Auftrag gegeben
worden sind), darf nicht auf die Harmlosigkeit der Chlorparaffine geschlossen
werden. Das Vorsorgeprinzip und die leidvolle Erfahrung mit ähnlichen Fällen
gebietet gerade umgekehrt,
Stoffe, die sich im Tierversuch als krebserregend erwiesen haben, so
lange zu verbieten, bis ihre Unbedenklichkeit für den Menschen positiv bewiesen
ist.
Die Hoechst AG hat auf Druck von Greenpeace und anderen
Umweltorganisationen im Mai 1995 angekündigt, bis 1998 die Produktion von
Chlorparaffinen einzustellen. Die Anwender können allerdings derzeit problemlos
auf Importprodukte umsteigen, da es in Deutschland keine Restriktion für
Chlorparaffine gibt.
Baumwollproduktion in der Dritten Welt eingesetzt wird und über den
atmosphärischen Ferntransport sowie als Pestizidrückstand in Produkten in die
Industrieländer gelangt.
Nahezu sämtliche Tropenhölzer und viele Lederwaren und Textilien werden
mit dem hierzulande verbotenen PCP für den Export nach Europa
"geschützt" (weltweite Produktion: 20 000 t/a) (Spilok 1995), wo das
PCP zusammen mit den darin enthaltenen Dioxinen langsam ausgast. Die
nachgewiesenen Pestizidreste Heptachlorepoxid, β-HCH und Dieldrin dürften,
wie weitere chlororganische Pestizide ohne inländische Anwendung, ebenfalls auf
solchen Wegen in unsere Umwelt und Körper gelangen. Von großer Bedeutung ist
auch die atmosphärische Verfrachtung von Pestiziden und Chlororganika, die am
warmen, auftriebsstarken Tropengürtel freigesetzt werden. Sie gelangen von dort
luftgetragen in die Nord- und Südhemisphäre und reichern sich besonders in
aquatischen (marinen) Ökosystemen an (vgl. Tanabe et al. 1994).
Für die erst 1989 in Deutschland verbotenen PCBs gibt es jedoch
eindeutig inländische Quellen. Zwar kommen die herstellungsbedingt mit Dioxinen
verunreinigten Flüssigkeiten (Kühl- und Isolierflüssigkeiten, Hydrauliköle
usw.) nicht mehr zur Neuanwendung. Doch bis zum Jahr 2000 dürfen sie noch in
Transformatoren, Kleinkondensatoren und im Untertagebergbau weitergenutzt
werden. Diese bedeutendste Altlast der Chlorchemie umfaßt in Deutschland 60 000
Tonnen, die schon heute ein großes Entsorgungsproblem darstellt. In
regelmäßigen Abständen wird die
Dioxinbildung nach Bränden von PCB-haltigen Trafos oder Gebäuden mit
PCB-haltiger Fugendichtmasse dokumentiert. Eine Dioxinquelle sind im Fall von
Bränden auch PVC und Chlorparaffine, die z.B. als Weichmacher in PVC (Kabel,
Fußbodenbeläge) oder als Flammschutzmittel in Fernsehgehäusen enthalten sind.
Zeitungsmeldungen erinnern immer wieder daran, wenn in Schulen oder
Kindergärten PCB-haltige Kondensatoren für Leuchtstoffröhren entfernt und
aufwendige Raumsanierungsmaßnahmen durchgeführt werden müssen. Laufend gelangen
PCBs aus der "Entsorgung", z.B. über Deponien, in die Umwelt. Pro Tag
nimmt der Durchschnittsverbraucher 2 Mikrogramm PCB in seinen Körper auf
(Gerhard et al. 1993).
Inländische Quellen gibt es auch für andere Chlororganika, die in der
Muttermilch nur deshalb nicht gefunden wurden, weil man nicht nach ihnen sucht
oder kein Verfahren zu Verfügung hat, um sie nachzuweisen. Immer noch sind 60
Prozent aller marktgängigen Pestizide chlorhaltig (Spilok 1995), und das gilt
auch für die jährlich im Inland verspritzten 35 000 Tonnen (alte Bundesländer;
vgl. DFG 1 994b, S. 31). Beispiel: Atrazin. Bei 14 000 Messungen in deutschen
Wasserwerken fanden sich in 6 200 Fällen Spuren dieses krebsverdächtigen
Pestizids im Trinkwasser. Erst Mitte 1991 wurde seine Anwendung verboten.
Deutsches Trinkwasser darf aber immer noch 0,5 Mikrogramm Gesamt-Pestizide pro
Liter enthalten (vgl. Greenpeace 1995b).
Auch bei Hexachlorbenzol (HCB) braucht die Quelle nicht im Ausland
gesucht zu werden, wo es noch verschiedentlich als Pflanzenschutzmittel im
Einsatz ist. Aber in der Hauptsache entsteht HCB als unvermeidliches und
unnützes Nebenprodukt bei einer Reihe chlorchemischer Synthesen wie von
Perchlorethylen, Trichlorethylen, elementarem Chlor und dem PVC-Vorprodukt
Vinylchlorid. Soweit HCB aus entsprechenden Chemiebetrieben nicht in die Umwelt
entweicht, wird es einer besonderen Rückstandsverbrennung zugeführt. Eine
Quelle sind aber auch Müllverbrennungsanlagen, wo HCB als Produkt der
unvollständigen Verbrennung auftreten kann.
Für alle in der inländischen Anwendung verbotenen Chlororganika, die in
der Muttermilch nachweisbar sind, gibt es zwei Quellen, nämlich Altlasten und
Neueinträge. Altlasten sind die zur Zeit ihrer legalen Verwendung in die Umwelt
gelangten Stoffe, die dank ihrer chemischen Beständigkeit daraus kaum
verschwinden. "Neueinträge" bedeutet, daß solche bei uns verbotenen
Stoffe auch heute noch in die Umwelt freigesetzt werden, sei es aus
absichtlicher Anwendung im Ausland oder unbeabsichtigt, aber zwangsläufig,
durch den Umgang mit chlorchemischen Produkten im Inland.
Daß dennoch für viele der genannten chlororganische Umweltchemikalien
seit den achtziger Jahren eine rückläufige Tendenz im menschlichen Fettgewebe
feststellbar ist, nachvollziehbar an den Muttermilch meßwerten (Beck 1994),
zeigt, daß gesetzliche Verbote chlorchemischer Produkte langfristig durchaus
geeignet sind, das Gesundheitsrisiko der Bevölkerung zu mindern.
5.3 Keine Entwarnung bei Dioxinen aus chlororganischen Produkten
Noch nicht mit gleicher Sicherheit kann ein Belastungsrückgang für die
gefährlichsten aller chororganischen Umweltchemikalien konstatiert werden: die
polychlorierten Dibenzo-p-dioxine und
-furane. Ein direktes Verbot dieser Stoffe hat keinen Sinn, da Dioxine
nicht absichtlich produziert werden. Vielmehr sind sie eine dirkete
Begleiterscheinung der organischen Chlorchemie, folglich in Teilbereichen zwar
zurückzudrängen, aber bei Fortexistenz der Chlorchemie als dauerhaftes
Gefährdungspotential nicht auszuschalten.
Zu bedenken ist, daß sich der jährliche inländische Umwelteintrag von
Dioxinen (TCDD) auf ganze zwei Kilogramm beläuft. Diese scheinbar geringe Menge
von 2 Billionen Nanogramm entspricht der Giftmenge, die 1976 beim Störfall
einer relativ kleinen chlorchemischen Fabrik - gemeint ist Icmesa-Seveso (s.
4.4) - freigesetzt wurde.
Unter den Dioxinquellen werden zwar so unterschiedliche thermische
Prozesse wie Müllverbrennung, Aluminium-, Zink- und Kupferschmelzen, Eisen- und
Stahlgewinnung, Gebäudebrände, Auto- und Flugzeugmotoren und chemische
Synthesen aufgeführt.
Wirkungsweise von biogenen Chlororganika sollte eigentlich zu einem
besonders vorsichtigen Umgang mit synthetischen Chlororganika Anlaß geben. Das
Vorkommen biogener Organochlorverbindungen bedingt auch das Vorhanden sein von
natürlichen Mechanismen für den totalen oder partiellen Abbau von
chlororganischen Verbindungen. Der biotische Abbau kann auf verschiedenen Wegen
erfolgen. Bei der Oxidation von Organochlorverbindungen (über die sog.
mischfunktionellen Oxidasen des Cytochromsystems, bei Säugern in der Leber
lokalisiert) können jedoch Reaktionsprodukte entstehen, die toxischer als die
Ausgangsstoffe sind. Außerdem besteht das Problem darin, daß die Anregung der
Abbauenzyme (ihre Induktion) zu einem beschleunigten Umsatz anderer
körpereigener Stoffe, z.B. von Steroidhormonen, führt. Folge ist eine Störung
des Hormonhaushalts.
Einzelne Mikroorganismen können Chlorverbindungen reduzieren. Das führt
"theoretisch" dazu, daß z.B. auch synthetische
Organochlorverbindungen vollständig in der Natur abgebaut werden können.
"Ein vollständiger Abbau (z.B. von DDT durch das Bakterium Pseudomonas
aeruginosa) setzt jedoch komplexe Umweltbedingungen voraus., d.h. einen
mehrstufigen Prozeß mit wechselnden Belüftungsschritten und Cosubstraten. Daher
kann der Abbau sehr langsam vonstatten gehen und zu einer hohen Persistenz von
chlorhaltigen Xenobiotika führen, obwohl die zum Totalabbau notwendigen Enzyme
in der Natur vorhanden sind." (Geckeler/Eberhardt 1995). Das Vorhandensein
von biogenen Organochlorverbindungen sowie biotischen Eliminations- und
Abbaumechanismen ändert also nichts an Stabilität, Anreicherungsvermögen und
Toxizität der Chlororganika - also gerade der Stoffeigenschaften, die sie aus
Gründen des Umwelt- und
6. Chlororganika: Die Gruppengefahr wird bestätigt
Die systematische Untersuchung der Toxizität, Persistenz und
Bioakkumulierbarkeit der Stoffgruppe der Chlororganika bestätigt die Kritiker
der Chlorchemie, die seit langem vor einer Gefahr durch die Stoffgruppe der
Chlororganika warnen.
Faktisch alle untersuchten synthetischen chlororganischen Verbindungen
oder ihre Vor- bzw. Abbauprodukte sind umwelt- und gesundheitsschädlich.
Dies hängt ursächlich mit der Einführung von Chlor in die organischen
Moleküle zusammen. Die Regelhaftigkeit dieses Zusammenhangs begründet die
Annahme einer "Gruppengefahr", d.h. einer Gefährdung, die vermutlich
von allen, auch den noch nicht untersuchten, Chlororganika ausgeht.
Gruppengefahr heißt:
1. Mit dem Chlorgehalt zunehmende akute und chronische Toxizität der
Produkte und/oder Nebenprodukte und/oder Abbauprodukte
2. Mit dem Chlorgehalt
zunehmende Persistenz
3. Mit dem Chlorgehalt
zunehmende Bioakkumulation
4. Freisetzung kritisch hoher Stoffmengen in die Umwelt und ubiquitäre
Verteilung
5. Folgenschwere Stör- und Unfälle
6. Entstehung hochtoxischer
Dioxine bei der Verbrennung von Chlororganika
Dieses Gefährdungsprofil ist bei chlororganischen Produkten regelmäßig
anzutreffen. Daraus folgt:
Gerade chlororganische Produkte, die bisher noch nicht näher auf ihre
Human- und Ökotoxizität untersucht wurden, unterliegen dem begründeten Verdacht
der Umwelt- und Gesundheitsschädlichkeit. Der Gruppengefahr kann nur durch eine
konsequente Anwendung des Vorsorgeprinzip begegnet werden. Das heißt:
- Chlororganische Produkte müssen grundsätzlich vermieden und ggf.
durch umweltgerechte chlorfreie Produkte ersetzt werden.
- Die Freisetzung von - auch schon produzierten - Chlororganika in die
Umwelt muß unterbunden werden.
Die chlororganikaproduzierende Industrie betreibt dagegen eine andere
Politik:
Sie fordert "Einzelstoffprüfungen" und möchte alte und neue
Chlororganika solange einsetzen, wie deren Umwelt- und Gesundheitsgefährdung
nicht definitiv nachgewiesen
sind. Bei dem vom VCI vorgeschlagenen Einzelstoff-"Risk
Assessment" sollen auch noch ökonomische Faktoren berücksichtigt werden,
bevor auf einen Stoff verzichtet
wird. Das hat, wie die bisherigen Erfahrungen mit Chlororganika zeigen,
mit Gesundheits- und Umweltvorsorge nichts zu tun. Das vom VCI geforderte
Einzelstoff-Risk-Assessment unter Berücksichtigung ökonomischer Faktoren würde
eine Umkehrung des Vorsorgeprinzips bedeuten. Der VCI setzt sich damit sogar in
Widerspruch zu seinen eigenen Umweltleitlinien, wo der Grundsatz formuliert
wurde:
"Wenn es die Vorsorge für Gesundheit und Umwelt erfordert, wird
sie [die chemische Industrie] ungeachtet der wirtschaftlichen Interessen auch
die Vermarktung von Produkten einschränken oder die Produktion
einstellen."
Studie des Verbands der Chemischen Industrie bestätigt Gruppengefahr:
Der Verband der Chemischen Industrie hat eine Studie zur Klärung der
Gruppengefahr durch die Chlorchemie in Auftrag gegeben. Diese Studie wurde vom
renommierte Würzburger Toxikologen Prof. Henschler durchgeführt. Diese 1994
abgeschlossene Arbeit kommt gleichfalls zum Ergebnis, daß die Einführung von
Chlor in organische Moleküle einen "Gruppenverdacht" begründet.
Wir zitieren aus der Zusammenfassung Aussagen, die auf den Zusammenhang
von Struktur und Toxizität bei Chlororganika eingehen.
"Obwohl die vorliegende Untersuchung nicht alle chlororganischen
Verbindungen einbezogen hat, können doch grundsätzliche Schlüsse über den
Einfluß von Chlorresten in organischen Verbindungen auf deren toxische
Wirkqualitäten gezogen werden. (...)
1. Die Einführung von Chlor in organische Moleküle ist nahezu regelhaft
mit einer Verstärkung des toxischen Wirkpotentials verbunden. Nur selten hat
die Einführung von Chlor keine Wirkungssteigerung oder gar eine Verminderung
zur Folge.
Diese Feststellung betrifft alle toxischen Wirkqualitäten (akute,
subchronische und chronische Toxizität, Reproduktionstoxizität, Mutagenität und
Kanzerogenität).
2. Noch im Rahmen einer allgemeinen Regel, aber weniger stringent als mit
der Chloreinführung schlechthin, steigt die Toxizität mit der Zahl der in ein
Molekül eingeführten Chlorreste an.
3. Mit der Einführung von Chlor treten häufig auch neue
Wirkqualitäten ins Spiel. Sie betreffen
im Hinblick auf akute und subchronische Effekte überwiegend die parenchymatösen
Organe (vor allem Leber und Niere, seltener Milz, Kreislauf- und
Zentralnervensystem).
4. Mit der Einführung von Chlor erlangen die Mehrzahl der hier
betrachteten organischen Verbindungen die Fähigkeit zur Entfaltung von
Gentoxizität (Mutagenität) bzw. Kanzerogenität
." (...) (Henschler 1994, S. 55.)
Hinsichtlich des Standes der toxikologischen Prüfung und der
Vorhersagbarkeit von toxischen Wirkungen meint Henschler:
"Ein beträchtlicher Anteil aller untersuchten chlororganischen
Verbindungen besitzt krebserzeugende Wirksamkeit. Der Anteil kann nicht genau
abgeschätzt werden, da es an einer systematischen toxikologischen Prüfung aller
chlororganischen Verbindungen mangelt." Und weiter: "Innerhalb
chemisch eng verwandter chlororganischer Verbindungen (homologe und analoge
Reihen), bei denen die Toxizität durchgängig von einem einheitlichen, chemisch
identifizierbaren Molekülfragment getragen wird, sind Voraussagen über das
Auftreten oder Ausbleiben toxischer (einschließlich gentoxischer) Wirkungen
möglich. Handelt es sich dagegen um eine heterogene Reihe (d.h. mit chemisch
unterschiedlichen toxophoren Gruppen), oder treten innerhalb einer Gruppe
mehrere Mechanismen der Toxizität ins Spiel, ist die Voraussagbarkeit stark eingeschränkt.
Der wesentliche Grund dafür besteht in der Mannigfaltigkeit enzymatischer
Aktivierungs- und Deaktivierungsreaktionen, die zum großen Teil auch
nebeneinander -von einander abhängig oder unabhängig- an einem Molekül ablaufen
können." (Ebd., S. 56.)
Diese letzten Bemerkungen zeigen, daß die strukturelle Ähnlichkeit von
Chlororganika einerseits toxische Potentiale wahrscheinlich macht und insofern
einen Gruppenverdacht begründet, daß aber andererseits wegen der Komplexität
der Stoffwirkungen und des Stoffmetabolismus keine definitiven
"positiven" Aussagen aus der Strukturchemie abgeleitet werden können,
die einem Stoff ökologische und gesundheitliche Unbedenklichkeit bescheinigen
könnten - also keine "Gruppenentlastung" durch Einzelbefunde
fehlender oder verminderter Toxizität. Das Prinzip, nach dem die chemische
Industrie verfährt -"in dubio pro reo" (Im Zweifel für den
Angeklagten)- ist hier noch weniger als anderswo im Umgang mit umwelt- und
gesundheitsschädlichen Stoffen angebracht.
7. Chlorchemie - unersetzbares Übel?
7.1 Der Chlorverbrauch der chemischen Industrie
Die Chlorproduktion in Deutschland hat sich von den 50er Jahren bis zum
Ende der 80er Jahre versechzehnfacht. Lange Zeit galt in der Chemiebranche die
Prämisse, ohne steigenden Chlorverbrauch wäre keine Entwicklung in der
Stoffwirtschaft möglich.
Untersuchungen der Freien Universität Berlin (Jänicke 1992) widerlegen
diese Annahme und zeigen, daß in den meisten großen Industrienationen ein
solcher Zusammenhang nie bestand.
Auch in Deutschland hat sich der Trend zum Chlor umgekehrt: Von 1988
bis 1993 fiel die Chlorproduktion um über 20 Prozent. Fast immer waren es
schwerwiegende Umwelt- und Gesundheitsschäden, die zur Substitution
chlorhaltiger Massenprodukte führte, so bei DDT, PCB ́s, PCP, FCKW,
chlorierten Lösemitteln, Chlor für die Papierbleiche und z.T. bei PVC.
Neben dem Rückgang des absoluten Chlorverbrauchs ist ein weiterer Trend
von Bedeutung: Die Verbrauchsstruktur für Chlor hat sich dahingehend geändert,
daß der Anteil der besonders umweltschädlichen chlorhaltigen Produkte am
Chlorverbrauch rückläufig ist, während der Chlorverbrauch für chlorfreie
Endprodukte wie Polyurethane,
Polycarbonat und Epoxidharze noch zunimmt. Doch auch diese Gruppe der
Chloranwendung birgt Risiken.
7.1.1 Chlorhaltige Zwischenprodukte
1992 wurden in der Bundesrepublik etwa 3 Mio.Tonnen neu erzeugtes Chlor
(Primärchlor aus der Elektrolyse) in der chemischen Industrie eingesetzt
(Prognos 1994, I, Anm.2).
Dieses Primärchlor geht grob geschätzt zu 65% in chlorhaltige
Zwischenprodukte für die Herstellung von chlorfreien Endprodukten (VCI 1995, 5). Bei diesen Synthesen wird das
Chlor als Reaktionsvermittler verwendet, um reaktionsfreudige chlorierte
Zwischenprodukte für weitergehende Synthesen herzustellen, bei denen es wieder
abgespalten und z.T. als Salz und in Form von Abfällen in die Umwelt
eingetragen wird. Ökologisch bedenkliche Folge ist u.a. die Aufsalzung der
Flüsse.
• 29% des Primärchloreinsatz es gehen in die Herstellung von
Propylenoxid (Prognos 1994,II), das als chlorfreies Zwischenprodukt für die
Herstellung von Polyurethanschaumstoffen, Alkyd- und Polyesterharzen eingesetzt
wird. Das chlorhaltige Zwischenprodukt ist das giftige Propylenchlorhydrin. Bei
dem hierzulande für die Propylenoxid-Produktion eingesetzten,
chlorverbrauchenden
Chlorhydrinverfahren werden über 90% des eingesetzten Chlors, mit Hilfe
von Natronlauge oder Calziumhydroxid als NaCl oder CaCl2 abgespalten und in
Flüsse (Rhein, Elbe) eingeleitet. Die restlichen 10% des Chloreinsatzes fallen
als -krebserregender- 1,2-Dichlorpropan-Rückstand an.
• Ein anderes, chloriertes Zwischenprodukt für nichtchlorhaltige
Endprodukte ist das Phosgen, ein starkes Atemgift. 14% des Primärchloreinsatzes
gehen zur Zeit in die nur unter großen Sicherheitsvorkehrungen zu betreibende
Phosgenchemie (Zwischenprodukt für Polyurethane, Vorprodukt für Polycarbonate).
Der Chloraustrag bei der Weiterverarbeitung erfolgt zum größeren Teil als
Chlorwasserstoff (HCl), der in die Produktion zurückgeführt wird, und zu 30%
als Kochsalz, das in die Gewässer (wiederum Elbe und Rhein) eingeleitet wird
(Prognos 1994, IV-4). Luftseitige Emissionen von nicht unbeträchtlicher Menge
sind Dichlormethan, vor allem bei der Polycarbonat-Herstellung.
Gefährliche störfallartige Phosgenaustritte kommen bis heute selbst bei
Anlagen mit den aufwendigsten und modernsten technischen
Sicherheitsvorkehrungen vor (z.B. bei der von einem "Containment"
umgebenen Anlage von Dow Chemical in Stade 1994).
• Auf die Herstellung chlorfreier Epoxidharze werden etwa 8% des
Primärchloreinsatzes verwandt. Chlorhaltige Zwischenprodukte ist hier
Allylchlorid und das daraus gewonnene Epichlorhydrin. Beide sind nephro- und
neurotoxisch, krebsverdächtig (III B bzw. III A 2-Stoffe der MAK-Liste) und
wassergefährdend. Wie beim Propylenoxid fällt auch bei der Allylchlorid- und
Epichlorhydrin-Umsetzung das freigesetzte Chlor als Salz an, das zur
Gewässeraufsalzung beiträgt (Prognos 1995, III-9). Chlororganische Rückstände
für die Verbrennung sind insbesondere krebserregende Chlorpropane und -propene
(III A 2-Stoffe). Außerdem fallen luft- und abwasserseitig gewisse Emissionen
von Epichlorhydrin an.
Die drei hier beispielhaft genannten chlorierten Zwischenprodukte, die
für die Herstellung chlorfreier Stoffe erzeugt werden, verbrauchen schon mehr
als die Hälfte der Primärchlorproduktion.
Sie stellen z.T. risikoreiche (giftige bzw. gesundheitsschädliche)
Stoffe dar. Das Unfallrisiko bei diesen Anlagen ist wegen der hochriskanten
Einsatzstoffe besonders hoch. Die schwersten Unfälle der Chemieindustrie der
letzten 30 Jahre waren Unfälle der Chlorchemie: Seveso, Bhopal, Sandoz, Hoechst
(1993).
Bei allen chlorchemischen Produktionsprozessen entstehen toxische
chlororganische Nebenprodukte, die zum Teil verbrannt werden oder zu
Perchlorethylen verarbeitet werden. Zu einem nicht unbeträchtlichen Ausmaß
werden sie deponiert und in Luft oder Abwasser emittiert.
7.1.2 Chlorhaltige Endprodukte
Über 35% des eingesetzten Primärchlors gelangen in chlorhaltige Endprodukte.
Dabei ist das Chlor in unterschiedlicher Weise gebunden, so daß es
unterschiedlich wirksam werden kann.
Bei chlorhaltigen Endprodukten wie CKW oder Pestiziden kann das Chlor,
wie in den Kapiteln 2 bis 4 dargestellt, in die Umwelt gelangen und in
Organismen seine gesundheitsschädliche Wirkung entfalten. In anderen Produkten
-z.B. dem Kunststoff PVC- ist es stabiler eingebunden, so dass das Produkt
unter Gesundheitsgesichtspunkten auf den ersten Blick unproblematisch
erscheint. Allerdings sind auch hier erstens die Gesundheitsprobleme durch
chlorhaltige reaktive Zwischen- und Nebenprodukte zu beachten, und zweitens
dürfen die toxischen chlororganischen Abfälle incl. Dioxinemissionen nicht
vergessen werden. Vorprodukte, Nebenprodukte und Abfälle gehören zum
Lebenszyklus der jeweiligen Stoffe.
29% der Primärchlorproduktion wird zu PVC verarbeitet. Zwischenprodukte
sind die krebserzeugenden Stoffe Ethylendichlorid (III A 2) und Vinylchlorid
(III A 1), dessen Gesundheitsgefahren bereits geschildert worden sind. Wir
hatten auch darauf hingewiesen, daß bei Bränden, Verschwelungen u.a.
Verbrennungsprozessen PVC zur Dioxin-Quelle wird. Eine Dioxinquelle ist auch
die Vinylchlorid-Synthese (Greenpeace 1993, Prognos 1995, II-57). PVC ist
ferner ein Beispiel dafür, daß die Verwendung von Chlor den Einsatz von
Hilfsstoffen erfordern kann, die möglicherweise gesundheitlich (und ökologisch)
bedenklich sind. Dies gilt sowohl für einige der bei PVC erforderlichen
Stabilisatoren wie für die oft eingesetzten Weichmacher, zu denen mit etwa 10
000
Tonnen wiederum chlorhaltige Stoffe, nämlich Chlorparaffine gehören
(BUA-Stoffbericht 93, 54).
Zur Chlorchemie gehört selbstredend auch elementares Chlor. Unter
Normalbedingungen liegt es als zweiatomiges Chlorgas vor. Chlor ist giftig
(chemischer Kampfstoff im Ersten Weltkrieg).
Es bewirkt bereits in niedrigen Konzentrationen Atemnot, Bluthusten,
Erstickung und führt bei längerer Einwirkung zu Lungenödemen.
Es kann in der Chemischen Industrie, in Textilbetrieben, in der Nahrungs-
und Genußmittelindustrie, bei Reinigungsprozessen etc. freigesetzt werden. Bei
seiner Erzeugung aus Steinsalz (Chlor-Alkali-Elektrolyse) fallen außerdem
Quecksilber-haltige Abwässer (Amalgamverfahren) und Asbest-haltige
Sonderabfälle (Diaphragmaverfahren) an. Obwohl der Massentransport von
elementarem Chlor aufgrund der leidvollen Erfahrungen der Vergangenheit in
Deutschland nur noch in Eisenbahnwaggons erfolgen darf, kommt es seit vierzig
Jahren kontinuierlich pro Jahr zu durchschnittlich drei schweren Chlorunfällen
mit Verletzten (Greenpeace 1992).
7.2 Die Rolle der chemischen Industrie
"Die Chemie mit Chlor steht im Mittelpunkt der Diskussion über die
Akzeptanz der chemischen Industrie und die damit verbundenen umweltpolitischen
Forderungen," stellt der Verband der Chemischen Industrie in seinem
Jahresbericht 1993/94 fest. Innerhalb dieser Diskussion verfolgt die
Chemieindustrie eine Doppelstrategie:
Einerseits stellt sich die Branche mit öffentlichen Dialogangeboten,
Umweltleitlinien, Umweltberichten und neuerdings in ganzseitige abgedruckten
Anzeigen zu "responsible care" und "sustainable
development" als aufgeschlossene, dialogbereite und umweltbewußte Branche
dar.
Andererseits nimmt die Chemie industrie in ihrer Lobbyarbeit vermehrt
wieder die Rolle des Maßnahmenverhinderers ein und betreibt hinter den Kulissen
ein aktives "roll back" der erreichten Umweltstandards:
- 1993/94: Forderung nach der Abschaffung des EU-Vorsorgewerts für
Pestizide im Grundwasser. Noch in den 80er Jahren hatte die Branche ein
Bekenntnis zum pestizidfreien Grundwasser abgegeben.
- 1994: Mit der Durchsetzung einer Senkung der Abgabesätze im
Abwasserabgabengesetz wurde das bislang einzige ökonomisch lenkend wirkende
Umweltgesetz entkräftet.
- Neue umweltpolitische Rahmenbedingungen, seien sie
ordnungsrechtlicher oder ökonomisch-lenkender Natur, werden von den
Chemieverbänden bekämpft:
Chlorgasunfälle
Chlorgasunfälle stellen weltweit die häufigsten chemischen Störfälle
dar (UBA 1992a, S. 44). Nach einer Greenpeace-Dokumentation der Chlorstörfälle
mit Personenschaden in der Bundesrepublik (alt) von 1952 bis 1991 sind
Betriebsunfälle in Industrie oder Schwimmbad die häufigste Unfallursache.
Chlortransporte einschließlich Be- und Entladung haben jedoch die schwersten
Folgen:
988 von 1290 Chlorverletzten zwischen 1952 und 1991 entfallen auf
Chlortransporte. Ein Trend zur Abnahme von Chlorstörfällen ist nicht
nachzuweisen.
Meldungen wie die folgende aus dem Lokalteil einer Tageszeitung sind
nicht ungewöhnlich: "Bei einem Säureunfall in der Zentralwäscherei der
Uni-Klinik sind fünf Bedienstete leicht verletzt worden. Nach Angaben der
Feuerwehr war es beim Umfüllen zweier Reinigungschemikalien zu einer Reaktion
gekommen, bei der Chlordämpfe freigesetzt wurden." (Frankfurter Rundschau
v. 13.5.1995).
- Die schon 1992 angekündigte Umsetzung der Empfehlungen des
Bund-Länder-Arbeitskreises Umwelt zu PVC (BLAU 1992) steht noch immer aus.
Nicht einmal die angekündigte Kunststoffkennzeichnung wurde eingeführt.
- Die Bundesregierung zeigte keine Initiative bei der Ablösung der
Chlorbleiche. Bis heute ist die Chlorbleiche gesetzlich gestattet. Durch den
hohen Importanteil bei Papier und Zellstoff werden immer noch große Mengen
chlorgebleichten Papiers verbraucht.
- Zur Umsetzung der 1994 ausgesprochenen Empfehlungen der
Stoffstrom-Enquete-Kommission gibt es bislang keine konkreten Vorschläge.
- Die Bundesregierung weigert sich, das dringend gebotene und auch vom
Umweltbundesamt geforderte Verbot von Chlorparaffinen einzuführen.
Diese Passivität wird von der Bundesregierung immer häufiger damit
erklärt, dass marktlenkende Instrumente und freiwillige Maßnahmen der Industrie
dem Ordnungsrecht vorzuziehen seien.
Ein solcher Politikgrundsatz bedeutet Rückschritt, denn das
Ordnungsrecht ist für Schadstoffe mit hohem und mittlerem Risikopotential
weiterhin das Instrument der Wahl. Für Stoffe, bei denen das Ziel der
Ressourcen- und Umweltschonung im Fordergrund steht, können ökonomische
Instrumente wie eine Energie- und Rohstoffsteuer geeigneter sein.
Die Bundesregierung blieb aber auch die Einführung ökonomischer
Instrumente zur Konversion der Chlorchemie schuldig:
- Eine Energiesteuer ist nicht in Sicht. Gerade eine solche Steuer aber
könnte den Chlorverbrauch drosseln und eine Konversion einleiten:
Auf die Chlorproduktion entfallen 25% des Stromverbrauchs der chemischen Industrie. 70%
der Produktionskosten für Chlor entfallen auf die Elektrizität. Die deutschen
Chlor-Alkali-Elektrolysen verbrauchen zusammen soviel Strom wie 40 Städte a
100.000 Einwohner. Die Strompreise für die Elektrolyse anlagen liegen zwischen
5 und 8 Pf/Kwh - dies sind alles andere als die wahren ökologischen Kosten der
elektrischen Energie. Durch die indirekte Subventionierung der Chlorproduktion
mit Billigtarifen wird die Chlorchemie sogar begünstigt.
- Konversions- und Förderungspolitik: Obwohl im Auftrag des BMFT und
des Landes Hessen erstellten Konversionsstudien zeigen, daß eine Konversion der
Chlorchemie ökologisch
vorteilhaft, ökonomisch tragbar und in der Arbeitsplatzbilanz positiv
ist, setzt die Bundesregierung diese Erkenntnisse nicht in ihrer Umwelt- und
Förderpolitik um.
Statt dessen werden Millionenbeträge für den Neubau von
PVC-Produktionsanlagen in den neuen Bundesländern zugeschossen.
In mehreren internationalen Konventionen, die auch in Deutschland
gelten, wurden
Restriktionen der Chlorchemie beschlossen:
Die derzeitige Umweltpolitik der Bundesregierung ist ungeeignet, eine
Umsetzung dieser Ziele und eine ökologische Umgestaltung der chlorchemischen
Industrie einzuleiten.
Abschlußerklärung des Ministertreffens der Kommissionen von Oslo und
Paris (OSPARCOM) vom 21./22. September 1992:
"Einleitung und Emission von toxischen, langlebigen und sich
anreichernden Stoffen, insbesondere halogenorganischen Substanzen, die in
Meeresgebiete gelangen könnten, sollten ohne Achtung auf ihre anthropogene
Quelle bis zum Jahr 2000 auf ein für Mensch und Natur unschädliches Niveau
reduziert werden, mit dem Ziel ihrer Elimination. Zu diesem Zwecke sind
einschneidende Reduktionen dieser Einleitungen und Emissionen durchzuführen und
dort, wo es angemessen ist, die Reduzierungsmaßnahmen durch Programme zur
graduellen Abschaffung des Einsatzes solcher
Substanzen zu ergänzen;" (Unterzeichnerstaaten: Belgien, Dänemark,
Finnland, Deutschland, Großbritannien, Irland, Island, Niederlande, Norwegen,
Portugal, Spanien, Schweden, Schweiz und Luxemburg.)
Mittelmeerkonvention von Barcelona (BARCON)
Im Oktober 1993 beschlossen 21 Mittelmeeranrainerstaaten bei ihrem
Treffen in Antalya "zu empfehlen, daß die Vertragsparteien Einleitungen
toxischer, persistenter und bioakkumulativer Stoffe, die im LBS-Protokoll
aufgeführt sind, besonders chlororganischer Verbindungen mit diesen
Eigenschaften, zu reduzieren und bis zum Jahr 2005 einzustellen. In diesem Rahmen
muß sowohl den diffusen als auch den industriellen Quellen halogenorganischer
Einleitungen äußerste Priorität eingeräumt werden."
Resolution der International Whaling Commission
in Kioto, 10.-14.5.1993 (IWC/45/50):
"...calls on contracting government nationaly
and in appropriate international for to take all practicable measures to remove
existing threats to the marine environment and adopt policies for the
prevention, reduction and control of degradation of the marine environment,
including, in particular, means to eliminate the emission or discharging of
organohalogen compounds that threaten to accumulate to dangerous levels in the
marine environment."
Internationale Umweltkonventionen mit Chlorchemiebezug
8. Greenpeace fordert:
Die Produktion und Freisetzung chlororganischer Produkte muß gestoppt
werden. Das gleiche gilt für bromorganische Produkte.
Höchste Priorität hat die Substitution der chlororganischen
Produktsparten PVC, FCKW/HFCKW, chlorierte Lösemittel,
Pestizide, Chlorparaffine, Papierbleiche und bestimmter Bereiche der
Chloraromaten.
der Chloraromaten.
Chlororganische Produkte müssen unverzüglich als chlorhaltig
gekennzeichnet werden.
Die Freisetzung aller - auch schon produzierter - Chlororganika in die
Umwelt muß unterbunden werden. Hersteller und Anwender von Chlororganika müssen
für die sichere "Entsorgung" dieser
Stoffe sorgen.
Hersteller und Anwender von Chlororganika müssen für Umweltbelastungen
sowie für Umwelt- und Gesundheitsschäden, die durch diese Stoffe hervorgerufen
werden, haften.
Eine grundlegende Konversion der Chlorchemie ist ökologisch notwendig
und ökonomisch tragbar. Diese Konversion muß von der chemischen Industrie
eingeleitet werden. Die
Bundesregierung, die Gewerkschaften und Umweltverbänden müssen diese Umstellung
aktiv unterstützen.
Die chemische Industrie darf grundsätzlich keine Stoffe herstellen und
vermarkten, die nicht toxikologisch eingehend untersucht sind und für die keine
Nachweisverfahren existieren.
Zusammenfassung und Fazit
Epidemiologische Studien, Tierversuche, experimentelle Laborstudien und
theoretische Untersuchungen zum Struktur-Wirkungs-Mechanismus bei Chlororganika
haben eine Fülle von Indizien und Belegen dafür erbracht, daß die Gruppe der
chlororganischen Stoffe ein hohes gesundheitsgefährdendes und
ökotoxikologisches Potential mit sich bringt. Dies hängt u.a. mit den struktur
chemischen Auswirkungen der Einführung von Chlor in organische Moleküle
zusammen.
Diese Studie gibt eine Übersicht zu Entwicklungs- und
Reproduktionsstörungen, die mit hormonähnlichen Wirkungen von Chlororganika in
Zusammenhang gebracht werden, zur Bedeutung von Chlororganika für die
Krebsentstehung und für Schädigungen des Nerven- und Immunsystems sowie von
Leber und Nieren. Die in der Studie referierten Humanbefunde betreffen sowohl
beruflich exponierte Personen als auch die Allgemeinbevölkerung.
I. Charakteristik, Verbreitung, Eintragsquellen und Toxizität von
Chlororganika 1992 wurden in Deutschland rund 3 Millionen Tonnen Chlor erzeugt
und in der chemischen Produktion eingesetzt. Über ein Drittel davon gelangte in
die Erzeugung chlorhaltiger Endprodukte. Die Einführung von Chlor in organische
Moleküle erhöht fast immer deren Human- und Öko-Toxizität. So sind z.B. ein
Drittel der bisher in der Liste gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe
(MAK-Liste) erfaßten krebserzeugenden oder krebsverdächtigen Stoffe
chlorhaltige Verbindungen.
Chlorhaltige Produkte sind u.a. chlorierte Lösemittel, Pestizide, PCP
(Holzschutzmittel),
FCKW, chlorgebleichtes Papier, polychlorierte Biphenyle (PCB), PVC,
Chlorparaffine, die bei Verbrennungsprozessen entstehenden Dioxine u.v.a.m..
Auch bei gesundheitlich direkt weniger problematischen chlorhaltigen Produkten
wie den Fluorchlorkohlenwasserstoffen (FCKW) und das Ozonloch hat sich inzwischen
eine indirekte Öko-Toxizität und Humanschädlichkeit erwiesen.
Die anwendungsorientierten Vorteile vieler organische Chlorverbindungen
-hohe Beständigkeit, sehr geringe Brennbarkeit, großes Fettlösevermögen- haben
eine negative Kehrseite. Die stabilen Stoffe sind in der Umwelt persistent
(schwer abbaubar), sie reichern sich besonders im Fett und damit in der
Nahrungskette an (Bioakkumulation), und sie sind in hohem Maße toxisch.
Obwohl es eine beachtliche Zahl natürlich vorkommender Chlororganika
-darunter auch solche mit Giftwirkung zur Abwehr anderer Organismen- gibt, sind
synthetische chlororganische Stoffe in der erzeugten Art, Vielfalt und Menge
naturfremd (Xenobiotika). Verschiedene Organismen verfügen zwar (in
unterschiedlichem Maße) über Entgiftungsmechanismen, mit denen auch
chlororganische Stoffe z.T. abgebaut und eliminiert werden können. Diese
Entgiftungsmechanismen sind, falls sie bei der betroffenen Spezies überhaupt
vorhanden sind, nur sehr unvollkommen auf die Belastung durch synthetische
(anthropogene) Chlororganika eingestellt. Deren Abbau findet, sofern er
überhaupt möglich ist, nur sehr langsam und i.d.R. unvollkommen statt, und er
läßt z.T. noch toxischere Abbauprodukte entstehen, die krebs auslösend,
organschädigend oder immun- bzw. reproduktionsschädlich sind. Infolge der
großen freigesetzten Mengen und der schweren Abbaubarkeit sind
chlororganische Verbindungen heute überall ("ubiquitär")
verbreitet. Eine wichtige Quelle sind Produktion und Gebrauch chlororganischer
Produkte. Weitere Quellen sind die Freisetzung aus
Altlasten und die Emission chlororganischer "Nebenprodukte"
aus Herstellung und Entsorgung (z.B. Dioxine aus der Verbrennung)
chlorchemischer Produkte. Zudem werden durch den Einsatz elementaren Chlors in
der Textil- und Papierbleiche und bei der Wasserchlorung hoch toxische
chlorierte Reaktionsprodukte erzeugt und freigesetzt. Eine andere Quelle stellt
der Gebrauch von Chlororganika als Pestizide, Desinfektionsmittel etc. in
Dritte-Welt-Länder dar, besonders im Tropengürtel. Die persistenten
Chlororganika werden von dort vor allem atmosphärisch über beide
Erdhalbkugeln verfrachtet. Die kälteren Regionen der Nord- und
Südhalbkugel sind Senken für diese global verfrachteten Chlororganika. Dies ist
einer der Gründe für die in zwischen festgestellte hochgradige Kontamination
auch zivilisationsferner Ökosysteme, etwa in den polaren Regionen.
Chlorhaltige Zwischenprodukte, für die rd. 65% des Primärchlors
verwendet werden, sind gleichfalls eine wichtige Quelle der Umwelt- und Gesundheitsbelastung,
da regelmäßig Störfälle zum Produktions- und Transportbetrieb gehören, wie auch
die häufigen Chlorunfälle zeigen.
II. Chlororganische Umweltöstrogene: Reproduktionsstörungen,
Brustkrebs, Entwicklungsstörungen
Chlororganische Stoffe greifen auf verschiedenen Wegen in das
Hormonsystem, speziell in das Wirkungsgefüge der Steroidhormone, ein. Teils
haben sie hormonähnliche Wirkung, teils beeinflussen sie den Hormonspiegel. Zu
den Steroidhormonen gehören die für die Entwicklungs- und Reproduktionsprozesse
wichtigen Sexualhormone (Östrogen, Progesteron, Testosteron). Deren Wirkung ist
rezeptorvermittelt. Untersuchungen zeigen, daß einzelne Chlororganika
diese Rezeptoren blockieren oder aktivieren können. Entwicklungsstörungen
können auch durch die Beeinflussung des Schilddrüsenhormonspiegels ausgelöst
werden.
Eine Reihe von Indizien sprechen für die These, daß die zunehmenden
Reproduktionsstörungen bei Männern (Abnahme der Spermienzahl, Zunahme von
Hodenkrebs, Hodenhochstand u.a.) auch auf den Einfluß von östrogen-wirksamen
oder den Hormonspiegel beeinflussenden Umweltchemikalien zurückzuführen sind.
Hier spielen, wie Tierversuche oder die Folgen des taiwanesischen
Yu-heng-Unfalls zeigen, z.B. pränatale Expositionen gegenüber Dioxinen und PCBs
offenbar eine Rolle. Tierexperimente sowie verschiedene Untersuchungen bei
beruflich exponierten Männern (Pestizide, Dioxine) und Dioxinschädigungen durch
den Vietnamkrieg verweisen auf gleiche Zusammenhänge.
Reproduktionsstörungen bei Frauen und Erkrankungen von Organen des
Reproduktionssystems (Zunahme von Brust- und anderen Krebsarten, Endometriose)
stehen vermutlich ebenfalls mit erhöhter
Belastung durch östrogen-wirksame Chemikalien in pränatalen oder späteren Stadien
in Zusammenhang. Indizien für eine Erhöhung des Brustkrebs risikos gibt es für
Pestizide (speziell DDT) und PCB; Dioxin kann offenbar in schon geringen
(chronischen) Belastungsdosen Endometriose, d.h. Wucherungen von
Gebärmuttergewebe außerhalb der Gebärmutter, auslösen.
Schädigungen des Embryos können durch Pestizide und leichtflüchtige
Chlororganika bewirkt werden. Pränatale PCB-Exposition kann
Wachstumsverzögerungen (Untergewicht bei der Geburt) und kindliche
Entwicklungsstörungen nach sich ziehen (Untersuchungen aus dem Umfeld der Great
Lakes in den USA und nach dem Yu-Cheng-Unfall). Chlororganisch bewirkte
Beeinträchtigungen von Intelligenzleistungen dürften über die Beeinflussung des
Schilddrüsenhormonspiegels ausgelöst werden (Dioxine, PCBs). Krebs durch
organische Chlorverbindungen Chlororganika gehören zu den chemischen
Kanzerogenen. Sie erzeugen meist nicht direkt Krebs, sondern wirken i.d.R. über
ihre Abbauprodukte. Einige Chlororganika sind direkt gentoxisch, andere agieren
als sog. Krebspromotoren, die nicht für sich genommen Krebs auslösen können,
das Krebswachstum aber anregen. Es gibt jedoch auch Chlororganika, die sowohl
gentoxisch wie tumorpromovierend sind. Die Latenzzeit bis zum Ausbruch des
Krebses beträgt i.d.R. mehrere Jahrzehnte; der Kausalnachweis der
Krebsverursachung wird auch hierdurch sehr erschwert.
Generell ist nachgewiesen, daß Dioxin im Tierversuch und beim Menschen
zu einer eindeutigen Erhöhung der allgemeinen Krebsmortalität führt. Das
bestätigten auch epidemiologische Studien bei dioxinexponierten Arbeitern. Leber-
und Darmkrebs wird durch Vinylchlorid ausgelöst. Im Tierversuch gilt dies auch
für PCBs; die epidemiologischen Studien zeigen hier kein eindeutiges Bild für
den Menschen. Bei Krebs der Bauchspeicheldrüse konnte eine strenge Assoziation
mit DDT-Exposition gezeigt werden. Im Fall von Lungenkrebs spielen
Vinylchlorid, Chlormethylether, elementares
Chlor sowie Dioxin eine Rolle. Eine 1995 veröffentlichte Studie des
ehemaligen
Vorsitzenden der MAK-Kommission, Prof. Henschler, hat nachgewiesen, daß
das noch immer gebräuchliche Lösemittel Trichlorethylen Nierenkrebs verursacht.
Weichteilsarkome werden gehäuft bei Belastungen durch Chlorphenole,
Chlorpenoxydessigsäure (2,4-D) und Dioxine gefunden. 2,4-D-Herbizide erhöhen
auch das Risiko für Lymphknotenkrebs. Bei der als Krebsvorstadium zu
betrachtenden aplastischen Anämie sind Pestizide (Lindan, PCP) als Verursacher
in Verdacht. Blasen- und Mastdarmkrebs wird u.a. gehäuft bei Exposition gegen
chlorhaltige Amine und, in
geringfügigem Maße, gegen Hypochlorit (gechlortes Wasser) konstatiert.
Chlororganisch bedingte Krankheiten von Nerven- und Immunsystem, Leber
und Nieren
Aus Tierversuchen und epidemiologischen Studien ist eine neurotoxische
bzw. narkotische Wirkung vieler chlororganischer Verbindungen auf das zentrale
Nervensystem bekannt. Dies gilt besonders für leichtflüchtige, aber auch für
schwerflüchtigere Chlororganika. Chronische Effekte sind hier
Nervenschädigungen, die sich als verringerte Konzentrationsfähigkeit,
verminderte Gedächtnisleistung, Persönlichkeitsveränderungen und dgl.
darstellen. Auch in diesem Fall sind die frühen prä- und postnatalen
Entwicklungsstufen besonders empfänglich für sich u.U. erst später
manifestierende Belastungen.
Die Neurotoxizität von PCBs beim Menschen ist nachgewiesen. Sie wird
mit Veränderungen in der Konzentration des Neurotransmitters Dopamin in
Verbindung gebracht. Nachgewiesen sind auch entsprechende Dioxin-Schädigungen
sowie durch HCH (Hexachlorcyclohexan, Lindan) ausgelöste neurologische
Symptome. Die Anhäufung von relativ unspezifischen, in ihrer Summe aber stark
belastenden "Befindlichkeitsstörungen" von Bewohnern von Wohnungen
mit pestizidbehandeltem Holz, die lange Zeit als irrelevant abgetan wurden, geht
u.a. auf PCP und Lindan zurück.
Dies konnte auch in beim Holzschutzmittel-Prozeß präsentierten Studien
belegt werden.
Zu den neurotoxischen Wirkungen der chlorierten Lösemittel liegen
relativ viele Befunde vor.
Auf Immuntoxizität verweisen neben Tierversuchen -hier sind es die
bekannten Auslöser PCB, PCP, Dioxine, Pestizide- auch einige epidemiologische
Studien.
Signifikante Veränderungen bei einigen Zelltypen des Immunsystems mit
relativ langer Latenzzeit ergaben sich z.B. nach PCP-Exposition. Gleiches gilt
auch für PCB- und Dioxin-Belastungen (Yusho- und Yu-Cheng-Unfälle;
Dioxin-Unfall bei der BASF).
Degenerative Schädigungen an Leber und Niere - den Hauptentgiftungs-
und Ausscheidungsorganen des Körpers für Schadstoffe - sind neben der
ZNS-Toxizität und dem kanzerogenen Potential einiger Verbindungen die
wichtigsten durch Chloraliphaten ausgelösten Schädigungen beim Menschen, wie
sich aus zahlreichen Befunden ergibt.
III. Fazit
Die systematische Untersuchung der Toxizität, Persistenz und
Bioakkumulierbarkeit der Stoffgruppe der Chlororganika bestätigt die Kritiker
der Chlorchemie, die seit langem vor einer Gefahr durch die Stoffgruppe der
Chlororganika warnen.
Faktisch alle untersuchten synthetischen chlororganischen Verbindungen
oder ihre Vor- bzw. Abbauprodukte sind umwelt- und gesundheitsschädlich. Dies
hängt ursächlich mit der Einführung von Chlor in die organischen Moleküle
zusammen. Die Regelhaftigkeit dieses Zusammenhangs begründet die Annahme einer
"Gruppengefahr", d.h. einer Gefährdung, die vermutlich von allen,
auch den noch nicht untersuchten, Chlororganika ausgeht.
Gruppengefahr heißt:
1. Mit dem Chlorgehalt zunehmende akute und chronische Toxizität der
Produkte +/o. Nebenprodukte und/oder Abbauprodukte
2. Mit dem Chlorgehalt zunehmende Persistenz
3. Mit dem Chlorgehalt zunehmende Bioakkumulation
4. Freisetzung kritisch hoher Stoffmengen in die Umwelt und ubiquitäre
Verteilung
5. Folgenschwere Stör- und Unfälle
Dieses Gefährdungsprofil ist bei chlororganischen Produkten regelmäßig
anzutreffen.
Daraus folgt:
Gerade chlororganische Produkte, die bisher noch nicht näher auf ihre
Human- und Ökotoxizität untersucht wurden, unterliegen dem begründeten Verdacht
der Umwelt- und Gesundheitsschädlichkeit. Der Gruppengefahr kann nur durch eine
konsequente Anwendung des Vorsorgeprinzip begegnet werden.
Das heißt:
- Chlororganische Produkte müssen grundsätzlich vermieden und ggf.
durch umweltgerechte chlorfreie Produkte ersetzt werden.
- Die Freisetzung von -auch schon produzierten- Chlororganika in die
Umwelt muß unterbunden werden.