Zur Bedeutung der Geschichte der Materia Medica für die zeitgenössiche Homöopathie

 

Materia medica:  Describes signs and symptoms  of remedies, and makes up the homoeopathic  pharmacopoeia –a list of remedies and their associated symptoms and use (Block,  2003).

 

[Cand. med. André Röper]

Hierin bilden Vergiftungssymptome, die Hahnemann aus  der ihm zugänglichen Literatur exzerpiert hatte, sowie IKNS-Symptome aus seiner eigenen Praxis den Grundstein der neuen, verläßlichen Materia medica. 1805 kamen dann Arzneimittelprüfungen an Gesunden hinzu, niedergeschrieben in den „Fragmenta de viribus medicamentorum“,

die dann in der „Reine Arzneimittellehre“ (1811-1821) systematisch fortgeführt wurden.

Mittlerweile prüfte Hahnemann nicht nur an sich selbst und seiner Familie, sondern es hatten sich in seiner Leipziger Zeit (1811-1821) auch treue Schüler seiner neuen Heilkunst angeschlossen, die ebenfalls mit großem Eifer an der Auffindung der Arzneikräfte beteiligt waren. 1822 wurde mit dem „Archiv für die homöopathische Heilkunst“, einer dreimal jährlich erscheinenden Zeitschrift, gegründet von E. Stapf und G. W . Groß, ein Publikationsorgan geschaffen, um unter anderem vollzogene Mittelprüfungen

der Ärzteschaft schneller und direkter zur Verfügung zu stellen.

Somit war der Weg für weitere Journale und Zeitschriftenreihen geebnet, die die Vergrößerung und Verbreitung der homöopathischen Materia medica vorantrieben.

Es sollen nur einige der zahlreichen Periodika erwähnt werden. Ab 1826 erschienen die „Praktischen Mitteilungen der correspondierenden Gesellschaft“, 1832 die

„Annalen der homöopathischen Klinik“, berichtend aus Deutschlands erstem Homöopathischen Krankenhaus, 1832 gesellte sich die „Allgemeine homöopathische Zeitschrift“ hinzu, die ununterbrochen bis zum heutigen Tage fortgeführt ist und damit die am zweitlängsten publizierte medizinische Zeitschrift der Welt darstellt, und 1835 das „Correspondenzblatt der homöopathischen Ärzte“.

Es liegt nahe, daß die Kollegen auch eine Fülle ihrer geheilten Fälle in diesen Zeitschriften publizierten, die einerseits die Prüfungssymptome verifizierten und andererseits, um sinngemäß mit den Worten Georg von Kellers zu sprechen, dem an Gesunden gewonnenen Symptomen-Rohmaterial aus den Prüfungen die nötigen Konturen und den richtigen Schliff zu verpassen. Außerdem wurden auch toxikologische Berichte aus den traditionellen medizinischen Zeitschriften beachtet und miteingebunden, da man um deren Wert als den Prüfungssymptomen gleichkommende wußte.

Unterdessen hatte Hahnemann seine „Chronischen Krankheiten (1828-1830)“ herausgegeben, in denen teilweise Mittel der „Reinen Arzneimittellehre“ in erweiterter Form und in Zeitschriften veröffentlichte Arzneimittelprüfungen integriert und gesammelt sind. Zeitgleich traten auch C.G.C. Hartlaub und C.F. Trinks mit einer „Reine Arzneimittellehre (1828-1830)“ in Erscheinung.

Weitere in Buchform veröffentlichte Arzneimittelprüfungen folgten, unter anderem „Die Muskatnuß“ (1833) von Helbig, die „Amerikanischen Arzneimittelprüfungen“ (1857) von Hering, „Homöopathische Erfahrungen“ (1862) von Wolf, „Der Phosphor“ (1862) von Sorge, die „Materia Medica of American Provings“ (1866) wiederum von Hering, „Materia Medica - Physiological and Applied“ (1884)

von Drysdale et al. und „A Materia Medica of Nosodes“ (1888) von Swan.

Leicht nachvollziehbar ist das bald entstandene Bedürfnis von Sammlungen des zahlreich Publizierten, um für den praktischen Gebrauch den Überblick über das zur V erfügung Stehende zu gewährleisten.

So kam es zu Werken wie der „Systematische Darstellung der reinen Arzneiwirkungen“ (1826) von C. G. H. Hartlaub, den „Materialien zu einer vergleichenden Arzneimittellehre (1826)“ von Schweikert und dem „Ausführlicher Symptomen-Kodex“ der Homöopathischen Arzneimittellehre (1843) von G.H.G. Jahr.

Letzter sah bereits früh die Notwendigkeit, rein pathogenetische, verifizierte und rein klinische Symptome voneinander zu unterscheiden und optisch zu kennzeichnen.

Das erste größere „Mammut-Werk“ gelang T.F. Allen, der 1875-1879 die „Encyclopedia of Pure Materia Medica“ herausgab, die zehn Bände umfasst und die meisten Mittel beinhaltet, die bis zur damaligen Zeit geprüft waren.

Ein anderer, der die Notwendigkeit sah, das enorm Angewachsene einmal zusammenzutragen und systematisch zu ordnen, „damit jeder in den Stand gesetzt wird, auf einen Blick (das Vermögen einer Arznei) mehr zu sehen“ war kein geringerer als der große Hering. Er hatte, um dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen, bereits 1832 in seinem Beitrag „Ueber eine gemeinsame Aufgabe einer Arzneimittellehre“ zum Zusammenschluß der Kollegenschaft aufgerufen, da ihm bewußt war, dass die enorme Fülle schwer allein zu bewältigen sei. Letzten Endes mündete Herings verdienstvolles Schaffen in einem Werk, den zehnbändigen „Guiding Symptoms of Our Materia Medica“

(1879-1891), das nach seinem Tod 1880 seine Mitarbeiter Raue, Mohr und Knerr vollendeten.

Obwohl diese letztgenannten Standardwerke von großer Bedeutung und unschätzbarem Wert sind, waren sie bei ihrer Erscheinung bereits unvollständig und beinhalteten nicht ganz geringe Missstände.

Nun sind seit dieser Zeit weit mehr als 100 Jahre vergangen. Viele neue Beiträge haben die Literatur weiter bereichert. Etwa gegen Ende der Blütezeit der amerikanischen Homöopathie, d.h. etwa nach 1910, haben die Arzneimittelprüfungen an Umfang und Qualität stark abgenommen. Bedeutende Werke, die Herings ursprüngliche Idee aufgreifen und alte und neue Quellen sowie klinische Symptome zu vereinen und überschaubar zu machen sich bemühen, sucht man vergeblich. Einzige nennenswerte Ausnahme in Ansätzen bildete der Dreibänder „A Dictionary of Materia Medica“ (1900) von J. H. Clarke, der aber auch nicht viel jünger ist als die beiden anderen Standardeditionen.

Erst der ehemals in Tübingen niedergelassene homöopathische Arzt Georg von Keller (1919-2003) sah als erster wieder die Notwendigkeit, die Materia medica zu revidieren.

So machte er es sich zur Aufgabe, seine private homöopathische Büchersammlung durch Zukäufe aus aller Welt aufzustocken. Über die Jahre erreichte dadurch seine Bibliothek einen beträchtlichen Umfang, der schließlich dazu dienen konnte, die nun ihm zugängige Literatur nach Arzneimittelprüfungen, Kasuistiken und toxikologischen Berichten eines Mittels „abzugrasen“. Die dankenswerten Früchte seiner Arbeit bilden 14 „Symptomensammlungen homöopathischer Arzneimittel“ (1973-1987), darunter Mittel wie Conium, Psorinum und Ignatia.

Leider wird die Notwendigkeit des Materia medica-Revision-Unternehmens noch nicht überall erkannt. Dennoch ist mit Vorliegen der ersten Bände der „Materia Medica Revisa Homoeopathiae“ offensichtlich der Zeitpunkt gekommen, ein weiteres Kapitel der Geschichte der Materia medica zu schreiben.

 

I. Die Ausgangslage Es ist kein Geheimnis, daß der gegenwärtige Zustand der homöopathischen Materia medica längst nicht den Erfordernissen der Alltagspraxis gerecht wird. Die Mängel liegen, historisch bedingt, in verschiedenen Bereichen, von denen hier nur einige erwähnt seien:

- Arzneimittelprüfungen, Nachprüfungen und Kasuistiken liegen über einen Zeitraum von 200 Jahren in internationalen Zeitschriften verstreut und sind den meisten homöopathischen Ärzten nicht zugänglich;

- die Materia medica ist nicht so klar gegliedert, daß gesuchte Symptome zügig an erwarteter Stelle aufgefunden werden können;

- die Repertorien geben die gewünschten Hinweise auf die Materia medica nur unscharf oder sogar falsch wieder;

- eine für die Repertorien ursprünglich geforderte Trennung von Arzneiprüfungs- und klinischen Symptomen ist durch die Gradeinteilungen nur mangelhaft erfolgt, womit

der Wert eines Symptoms schwer einzuschätzen ist.

Die beiden letztgenannten Punkte seien hier noch einmal erläutert: In der Frühzeit der Homöopathie war eine Trennung zwischen den in den Arzneiprüfungen am Gesunden ermittelten und den am Krankenbett geheilten Symptomen selbstverständlich. G.H.G. Jahr unterschied in seinem „Symptomen-Kodex“ die verifizierten Prüfungssymptome und die an Kranken geheilten, aber nicht in der Prüfung aufgetretenen Symptome

i. was C. Hering als Besonderheit des Jahrschen Werkes hervorhob

ii. J.T. Kent markierte die Symptome seiner geheilten Patienten sorgfältig in der Allenschen Enzyklopädie

iii. und gedachte, neben den Prüfungssymptomen nur diese Verifikationen in seinem Repertorium zu berücksichtigen, wobei er den Prüfungen widersprechende klinische Symptome verwarf.

iv. Eine derartige Unterscheidung der Symptomenherkunft wurde aber in der weiteren Entwicklung der Homöopathie vernachlässigt. Die Gradeinteilungen lassen uns leider oft im Stich, und die arzneilichen Verordnungen sind allzu häufig auf Sand gebaut, wenn wir uns bei der Arzneiwahl lediglich auf die Repertorien verlassen.

II. Ein Beispiel

Ein Fall aus der täglichen Praxis soll diesen problematischen Sachverhalt beleuchten: Ein 12-jähriger Junge mit seit Jahren in regelmäßigen Abständen auftretenden Migräneanfällen wird von der Mutter

zur Erstanamnese begleitet. Schon bei der fernmündlichen Terminvereinbarung hatte die Mutter des Patienten die unerklärliche Abneigung gegen Butter angesprochen,

die ihr Sohn in letzter Zeit entwickelt habe. Die spätere Repertorisation der Symptome führt zur DD.: von Mag-c. und Sang. Beim Nachschlagen in der Quellenliteratur fällt bei Mag-c. auf, daß hier offensichtlich ein Bedeutungswandel bezüglich der Affinität zu „Butter“ statt gefunden hat. Hahnemann änderte geringfügig das Symptom von Hartlaub und Trinks:

         „Warmes Essen schmeckt ihr nicht, zu Butter und Brod hat sie Neigung“

v. zu: „Warmes Essen schmeckt nicht, sie will nur Butter und Brod (Htb. u. Tr.).“

vi. In der Allenschen Enzyklopädie allerdings findet sich:

        „She does not relish warm food, has no inclination for bread and butter“

vii. was auf einem Übersetzungsfehler beruht und wohl den fehlerhaften Eintrag im Kentschen Repertorium erklärt („Butter“ steht nun übrigens bei „Abneigung“ und „Verlangen“), der in den zeitgenössischen Repertorien wie „Synthesis“ und „Complete“ leider persistiert. Nebenbei sei bemerkt, daß Mag-c. in der anderen repertorialen Linie über Bönninghausen und Boger korrekt eingetragen ist: „Appetit, Neigung zu Butter“

viii. und: „Appetite, desire for butter“.

Da das Symptom bei Mag-c. in der Prüfung, soweit bekannt, nicht aufgetreten war, erhielt der junge Patient Sang.

x. was sich als hilfreiches Arzneimittel erwies. Dies kann bedeuten, daß auch nach sorgfältiger Anamnese und korrekter Symptomengewichtung der therapeutische Erfolg allein aufgrund der mangelhaften Qualität unseres Handwerkszeugs ausbleibt. Trotz zahlreicher Publikationen und inflationärer homöopathischer Sekundärliteratur in den letzten beiden Jahrzehnten ist die wesentliche Grundlage der homöopathischen Praxis, die Arzneimittelprüfung, in den Repertorien nicht zufriedenstellend gespiegelt.

III. Einarbeitung in die Literatur

Ist die Notwendigkeit der Materia-medica-Revision einmal erkannt, bedarf es eines Zugangs zur Primärliteratur sowie einer Anleitung zur Auswertung dieser Quellen. Die im Jahre 2004 gegründete „Gleeser Akademie homöopathischer Ärzte“, die sich als wissenschaftliche Forschungs- und Ausbildungsstätte versteht, verfügt über die weltweit umfangreichste Bibliothek homöopathischer Literatur, besonders nach Eingliederung der von G. v. Keller (1919-2003) hinterlassenen Buch- und Zeitschriftensammlung. Um diesen außergewöhnlichen literarischen Fundus hat sich ein Stab homöopathischer Kolleginnen und Kollegen gruppiert, der sich die Auswertung dieser Sammlung zum Ziel gesetzt hat und mit gebotener Konsequenz das Werk unter Anleitung des Herausgebers, Dr. med. K.-H. Gypser, der die Revision seit vielen Jahren vorbereitete, begonnen hat.

Warum könnte es nützlich sein, sich einmal mehr die Geschichte bzw. die Entwicklung der homöopathischen Materia medica zu vergegenwärtigen? W elche Erkenntnisse und Handlungskonsequenzen ließen sich aus deren Betrachtung für den heutigen Homöopathen gewinnen?

Macht es denn überhaupt noch Sinn, dem Alten anzuhängen und nachzugehen, wo doch zum Beispiel die traditionelle Medizin auf den Fortschritt baut, der das Wissen von gestern schnell hinfällig und meist unbrauchbar werden läßt und man in dem „zukünftig eventuell Möglichen“ das Heil für die Kranken erhofft? Sollte denn auch in dieser Hinsicht die Homöopathie eine Sonderstellung einnehmen und mit dem Pflegen des Gewesenen gut bedient sein? Ganz gewiß!

So ist es ein wahrer Segen, daß die Homöopathie nicht dem Wechselspiel irgendwelcher sich ständig ändernder Lehrmeinungen unterliegt und der verordnende Arzt auch keine Bedenken zu haben braucht, daß das dem Kranken verabreichte Medikament, welches vor kurzem noch hoch gepriesen wurde, nun nach neuesten Untersuchungen als

zu toxisch vom Markt genommen wird, und der Patient nur noch damit getröstet werden kann, dass man es damals eben noch nicht besser wußte.

In der Homöopathie darf sich der Arzt aus einem 200 Jahre alten Erfahrungsschatz bedienen, den schon viele Praktiker über Generationen hin mit beachtenswerten, teils an Wunder grenzende Heilungen bestätigt haben und immer wieder bestätigen werden.

Dies rührt daher, daß das Wissen um die kurativen Möglichkeiten der Arzneien eben nicht aus Versuchen an Tieren stammt oder auf bloßen Vermutungen basiert, die sich ständig ändern, sondern durch die Prüfung am gesunden Menschen in Erfahrung gebracht wurde. Die Arzneikräfte sind sozusagen auf redliche Art und Weise „aus der Natur vernommen worden“.

Die Tatsache, daß Arzneien in den für die homöopathischen Arzneiprüfungen üblichen „niedrigen“ Dosen Krankheitssymptome hervorrufen, wird oftmals angezweifelt und nicht geglaubt. In dieser Frage sollte aber nicht der Glaube entscheiden, sondern wie Hahnemann schon seinen Kritikern empfahl, die eigene Erfahrung. Durchweg ist es so geschehen, daß diejenigen, die Hahnemann beim Wort nahmen und seinen Rat befolgten, von allem Zweifel befreit sich bestens überzeugten.

Um hierfür nur eins der vielen Beispiele zu liefern, sei auf den Verein homöopathischer Ärzte Österreichs für physiologische Arzneimittelprüfungen verwiesen, dessen Gründungsmitgliedern die Qualität der Hahnemannschen Prüfungen nicht ohne weiteres für wahr halten wollten, Nachprüfungen unternahmen und von allem Zweifel bekehrt, sich fortan weiter in den Dienst der Homöopathie stellten und der Materia medica zuarbeiteten.

Nach diesem Versuch, den beständigen Charakter der Grundlagen der Homöopathie anzudeuten, der zugleich die Eingangsfrage mitbeantwortet, soll nun die Geschichte der Materia medica das weitere Thema bilden.

Angefangen hatte alles mit Hahnemanns Aufsatz „Versuch über ein neues Prinzip zur Auffindung der Heilkräfte der Arzneisubstanzen“, veröffentlicht 1796 in Hufelands Journal, der damals führenden medizinischem Fachzeitschrift. Hierin bilden Vergiftungssymptome, die Hahnemann aus der ihm zugänglichen Literatur exzerpiert hatte, sowie IKNS-Symptome aus seiner eigenen Praxis den Grundstein der neuen, verläßlichen Materia medica.

1805 kamen dann Arzneimittelprüfungen an Gesunden hinzu, niedergeschrieben in den „Fragmenta de viribus medicamentorum“, die dann in der „Reine Arzneimittellehre“ (1811-1821) systematisch fortgeführt wurden.

Ein kleines Beispiel soll das letzt Gesagte verständlicher machen. So hat Pulsatilla in der Arzneimittelprüfung gleich viele Male Durst und Durstlosigkeit erzeugt (vgl. RA II). Die klinische Erfahrung zeigte jedoch deutlich, dass der Pulsatilla-Bedürftige Kranke fast immer durstlos ist und somit diese Polarität zur Herstellung der Ähnlichkeitsbeziehung die entscheidende ist.

 

 

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