Capra ibex = Alpine ibex, Steinbock, Alpen-, Alpen.-Steinbock

 

Vergleich: Siehe: Mammalia

 

DIE ZEIT

Umwelt

[Urs Willmann]

 

Der König tut, als sei nichts gewesen. Stolz wie ein Geck stellt sich der Alpensteinbock im Sommer auf die Felsen und besichtigt sein Reich, in dem kein natürlicher Widersacher ihm etwas anhaben kann. 130 Kilogramm wiegt er, wuchtige Hörner krönen sein Haupt. Ein tierischer Macho in Reinkultur, ein muskelbepackter Protz, der durch die schweizerischen Alpen stolziert, als seien die Gipfel nur Kulisse für ihn, den König.

Und dann hilft ausgerechnet diesem größten Alpenchauvi zusätzlich das Schicksal – in Form der Klimaerwärmung. Weil der Frühling in den Alpen früher einsetzt, sprießt auch die Nahrung des Vegetariers zeitiger und üppiger. Dies schlägt sich deutlich im Hornwachstum nieder, wie Ulf Büntgen feststellte. Der deutsche Geograf in Diensten der Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL hat mit Kollegen zusammen die Hörner des Alpensteinbocks vermessen und gezeigt: Die Salat- und Kräuterorgie im Frühjahr lässt den Kopfschmuck von Capra ibex kräftig wachsen.

Vor einem Jahrhundert aber gab es die Wildziegenart fast gar nicht mehr. In Freiheit war der Alpensteinbock ausgestorben, dahingerafft von schießwütigen Trophäenjägern. Nur an einem einzigen Ort waren um 1900 etwa hundert Exemplare übrig geblieben. Sie gehörten dem italienischen König Vittorio Emanuele III. Dessen Großvater hatte im Aostatal ein privates Jagdgebiet eingerichtet, das Gran Paradiso, streng bewacht von bewaffneten Schutzmännern. Dorthin lud der Regent seine Gäste zum geselligen Ballern. Wie erfolgreich die Regenten den König der Alpen abschlachteten, demonstrierten sie in ihrem Palast. Der war geschmückt mit Hunderten von Gehörnen.

Als Italien keine Böcke hergab, halfen der Schweiz Diebe und Schmuggler

Als der Schweizer Bundesrat darum bat, ein paar Exemplare für die Wiederansiedlung zur Verfügung zu stellen, reagierte der Regent bockig und lehnte ab. Lieber wollte er weiterhin als Jäger seinen

Spaß haben. Um das Tier trotzdem zu retten – schließlich hatte sich die Eidgenossenschaft selbst mit dem Jagdgesetz von 1875 dazu verpflichtet –, griffen die Schweizer zum letzten Mittel: Sie klauten. Ausgewiesenes Fachpersonal unterstützte sie. Der Wilderer Gabriele Bérard und sein Sohn Giuseppe lieferten 1906 die ersten drei Kitze. Stückpreis der Schmuggelware: 1.000 Franken. Von 1911 an wurden die Steinböcke in die Wildnis entlassen. Später legalisierte Italien den Export, bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gelangten so mindestens 109 Tiere ins nördliche Nachbarland.

Alle heutigen Alpensteinböcke stammen von der kleinen Population des italienischen Königs ab. Die Art war somit durch einen engen genetischen Flaschenhals gegangen. Dank der Aufzucht schaffte sie es in nur einem Jahrhundert, wieder einen Bestand von 40.000 Exemplaren zu erreichen – davon leben 16.650 in den Schweizer Alpen und rund 300 in Deutschland, wo 1936 bei Berchtesgaden die ersten Exemplare ausgewildert wurden.

Erfolgreich durch den genetischen Flaschenhals

Dass sich eine Art nach einer so drastischen Bestandsschrumpfung erholt, ist nicht selbstverständlich. Im genetischen Flaschenhals droht Inzucht – was Krankheiten und Unfruchtbarkeit begünstigt. Deshalb achten Zoos streng darauf, bei ihren Fortpflanzungsprogrammen ab und an ein paar neue Gene in die Bestände einzuschleusen. Welche Probleme sich einer Minipopulation stellen, zeigte sich vor gut zwanzig Jahren in Florida. Von den dort lebenden Panthern, einer Unterart des Pumas, lebten noch zwei Dutzend. Sie litten an Herzschwäche und Missbildungen und waren kaum mehr in der Lage, sich zu vermehren. Puma-Importe aus Texas lösten das Problem. Die neuen Nachkommen waren zwar keine astreinen Florida-Panther mehr, dafür vermehren sich die gesunden Hybride seither kräftig.

Keine Zweifel bestehen daran, dass die Beinahe-Ausrottung des Alpensteinbocks allein auf die Jagd zurückzuführen ist. Dem Tier wurde allerdings nicht nur des würzigen Wildbrets und der eindrücklichen Trophäen wegen nachgestellt. Seit dem Mittelalter galten einzelne seiner Körperteile als Wundermittel. Hörnern, Magensteinen, Blut und Herzknorpel schrieben Quacksalber sagenhafte Wirkkräfte zu. Apotheker zahlten für den vermeintlichen Arzneirohstoff horrende Preise, was die Wilddiebe besonders motivierte.

Die Hörner der Steinböcke als Jahrbücher

Als sich jüngst Ulf Büntgen mit einem Team aus Biologen, Klimatologen und Ökologen daranmachte, die Vitalität von Capra ibex zu untersuchten, ging er methodisch so vor, "als wären das Bäume".

Er selbst übernahm den dendrochronologischen Part: Zwar haben die Hörner der Böcke keine Jahresringe, aber dafür kräftige Wülste. Jedes Jahr stößt ein neues Segment von unten nach – der älteste Teil der Kopfpracht ist demnach die Spitze des Horns.

Ausgelaugt warten die Tiere auf den Frühling. Der kommt immer früher.

Büntgen erfasste 42.239 solcher Segmente von 8.043 männlichen Steinböcken. Daraus errechnete er die durchschnittlichen Wachstumsschritte der Hörner – die ihm wiederum einen Eindruck von der Fitness der Tiere verschafften. "Wie bei einem Baum können Sie sehen, wann der Bock ein gutes, wann ein schlechtes Jahr hatte", sagt Ulf Büntgen. An das Material gelangte er, weil der Alpensteinbock in der Nordostschweiz längst wieder als gesicherte Art gilt. Seit 1977 wird der Bestand reguliert. Rund 20.000 Tiere haben Bündner Jäger in dieser Zeit von den Felsen geschossen.

Da die jeweils im Oktober stattfindende Pirsch von der Jagdbehörde strikt kontrolliert und zumindest jedes von den lizenzierten Jägern geschossene Tier genau erfasst wird, stand Büntgen und seinen Kollegen als Analysematerial ein gigantisches Archiv aus den Jahren 1964 bis 2011 zur Verfügung. Fast alle Tiere waren in Höhen zwischen 2.000 und 3.000 Metern über dem Meeresspiegel geschossen worden, ein Großteil der Tiere war zwischen vier und sechs Jahren alt.

Die Langzeitanalyse, sagt Büntgen, weise nach, dass die Nordatlantische Oszillation, die das Winterwetter in Europa beeinflusse, "eine Art synchronisierende Wirkung auf den jährlichen Zuwachs der Hörner" habe. Im Lauf der vergangenen Jahrzehnte stiegen die durchschnittlichen Temperaturen zwischen März und Mai. Aus der Klimaerwärmung resultieren nicht nur frühere Schneeschmelze und bessere Futterqualität und -quantität, sie schlägt sich auch direkt in der Vitalität des Alpensteinbocks nieder.

Der kann jede Reserve gut gebrauchen. Denn in der Wildnis lebt er normalerweise am Limit. Sogar im Winter steigt er bis in Höhen von 3.000 Metern auf und sucht schneearme oder schneefreie Südhänge nach trockenem Gras ab. Oft wühlt er sich sogar durch Schneereste hindurch, um an ein paar Kalorien zu kommen. Vor der Ankunft des Frühlings zehren die Tiere von ihren letzten Fettreserven. Nichts erwarten die ausgelaugten Könige dann mehr, als dass auf den Matten frisches Grünzeug sprießt.

Für umso erstaunlicher hielten es daher lange Zeit die Wissenschaftler, dass sich der Steinbock ausgerechnet in den Monaten Dezember und Januar paart – dann, wenn er kaum etwas zu knabbern hat. Warum soll sich der Bock ausgerechnet dann gegen Rivalen durchsetzen, wenn es doch ums nackte Überleben geht? Christian Willisch vom Institut für Evolutionsbiologie und Umweltwissenschaften der Universität Zürich erforscht das Paarungsverhalten der Böcke seit Jahren. Dabei stellte er fest, dass sich diese im Gegensatz zu anderen Paarhufern früh für eine Hierarchie entscheiden. Sie tragen ihre Kämpfe dann aus, wenn die Umweltbedingungen noch akzeptabel sind.

Auch unterlegene Böcke vermehren sich – dank der "Lauer-Taktik"

Um im eisigen Winter die Kräfte zu schonen, halten sich die Unterlegenen monatelang an die zuvor festgelegte Hackordnung – zumindest weitgehend. Die dominanten, zumeist reiferen Böcke schafften es so, innerhalb der bis zu 40 Tiere zählenden Herde "einzelne empfängnisbereite Geißen ohne größere Auseinandersetzungen zu monopolisieren", sagt Willisch. Sie tun dies mit einer "Bewacher-Taktik" gegenüber tieferrangigen Böcken und hätten "uneingeschränkten Zugang zu ihren Geißen". Der König wacht streng.

Wer in den Machtkämpfen das Nachsehen hatte, dem bleiben in der Paarungszeit nur kleine Fenster offen. Laut Willisch warten die Unterlegenen auf einzelne Möglichkeiten, um sich "mittels Lauer-Taktik Kopulationen mit den bewachten Geißen zu erschleichen". Kommt der Platzbock zurück, machen sie sich vom Acker. Um für Ordnung zu sorgen, genügt dem König der Alpen seine bloße Präsenz.

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