Cola o. Sterculia acuminata o. nitida Kind Anhang

 

[Michaela Zorzi]

Cola: Eine Weltreise mit Genuss?

Nina ist neun Jahre alt, als sie 2001 mit ihrer Mutter in meine Praxis kommt wegen rezidivierender obstruktiver Bronchitis, allergisch bedingtem Asthma bronchiale und neurodermitisartigen Hauterscheinungen. Im Alter von elf Monaten war Nina wegen einer Salmonelleninfektion drei Wochen im Krankenhaus. Von Zeit zu Zeit treten Fieberblasen auf, vor allem bei Aufregung.

Das Mädchen fiebert selten, es wurden schon oft Antibiotika verabreicht. Als ich Nina kennen lerne, inhaliert sie seit einem Dreivierteljahr die üblichen kortikoidhaltigen und ßronchien-

erweiternden Sprays, mindestens morgens und abends.

Ninas Wesen erfüllt von der ersten Minute, in der sie in meiner Praxis ist, den Raum, eine Welt eröffnet sich mir in kürzester Zeit: lustig, beweglich, unruhig, beredt, wach, intelligent.

Vieles geht zu langsam, sie braucht ihren Freiraum.

Sie würde gerne am Abend lang aufbleiben, damit sie nichts versäumt. Sie will allein sein in ihrem Zimmer. Niemand soll ihre Sachen berühren, das ist ihr unangenehm.

Nina ist leicht kränkbar (Gemüt: beleidigt, leicht), sensibel. Die Mutter meint, sie könne sehr egoistisch sein, Ungerechtigkeiten ihre Person betreffend ertrage sie nicht, sie sei ein Schlaumeier,

sie wisse, wie sie zu ihrem Vorteil komme. Nina erzählt von ihren Ängsten. Dunkelheit und Alleinsein machen ihr keine Angst; im Gegenteil, sie liebt die Dunkelheit, „da sieht mich keiner".

Aber sie hat Angst, ihre Eltern könnten sich trennen, obwohl die Mutter versichert, dass es keinen Grund dafür gebe, die Ehe, ihre zweite, sei gut. Nina hat Angst bei Autofahrten, dass das

Land von Bomben getroffen werden könnte. (Gemüt; Furcht; allgemein; geschehen, etwas werde; Gemüt; Furcht; allgemein; Unfällen, vor)

Sie erzählt Phantasien, dass sie von jemandem in ihrem Zimmer bedroht wird und wie sie sich abenteuerlich rettet - über ein Seil klettert sie ins Freie.

Sie klettert tatsächlich gern, sie schaukelt, sie liebt das Wasser, liebt es, Schätze zu erforschen und Dinge zu besitzen. „Ich möchte alles haben", sagt sie mit großen Augen. In der Phantasie

tauchen Dinosaurier auf. Sie liebt Tiere, baut ihnen Wohnungen im Garten, aber die Mutter meint, sie könne auch mutwillig grob sein zu Tieren (Gemüt; Grausamkeit, Brutalität, Unmenschlichkeit; allgemein)

Nina ist sehr liebesbedürftig, die Mutter seufzt bei diesem Thema ein wenig, das Kleben ihrer Tochter ist ihr spürbar zu viel. Sogar in der Praxis bemerke ich ein oftmaliges Suchen nach

Körperkontakt mit der Mama (Gemüt; Halten oder Gehalten-Werden; Verlangen nach). Es gibt Eifersuchtsszenen zu Hause bezüglich der Schwester (Gemüt, Eifersucht; allgemein) und

dann wieder kommt und geht Nina wie es ihr passt, sie muss allein sein und kümmert sich nicht um die anderen (Gemüt; Egoismus, Selbstsucht).

Nina liebt Milch und SchoKOLAde, Butter und Fleisch. Auf meine Frage, was sie einmal werden möchte, sagt sie spontan: „Bäuerin und Sängerin!" Ihr größter Wunsch? Da lacht sie mir mit

strahlendem Gesicht entgegen: „Ich will fliegen können, ich will eine Wildgans sein!"

Nina erzählt mir, dass sie von Wildgänsen träume, und einmal sei ihre Mutter im Traum eine Wildgans gewesen (Gemüt, Träume; Tiere; Vögel - Träume; Tiere fliegen).

Spätestens zu diesem Zeitpunkt hebe auch ich ab mit meiner kleinen Patientin; ich streife innerlich Arzneimittelbilder wie Phos. Tub. Lach. Med. Carc. Sacch. aber bei keinem habe ich ein

zufriedenes Gefühl. Nein, es muss etwas „Besseres", Genaueres sein, das dieses Mädchen braucht, um wieder ruhiger atmen zu können.

Bilder tauchen in mir auf von Nils Holgersson, der mit den Wildgänsen flog - jener kleine Bub in der Erzählung von Selma Lagerlöf, der die Tiere quält und von einem Wichtelmännchen in

einen Winzling, einen Däumling verwandelt wird. Mit dem zahmen Gänserich Martin hebt er ab in die Lüfte und meint: „Das war ja gerade, als flöge man weit weg von seinem Kummer und

seinen Sorgen und von allen Widerwärtigkeiten, die man sich denken könnte." Erst die mitfühlende Hilfe für viele Tiere auf einer phantastischen abenteuerlichen Reise, letztlich einer Reise

in sein Inneres, lässt ihn zum Schluss zu seinen Eltern als Mensch zurückkehren. Er ruft: „Vater! Mutter! Ich bin groß, ich bin wieder ein Mensch!"

Ich sehe wieder die kleine, so große Nina vor mir, sie will abheben, sich lösen vom Nest der Eltern und doch haftet und klebt sie an der Mama.

Haften und Ablösen, ein Thema der Malvengewächse, zu denen auch die Kolanuss zählt. Auch Kakao, Ausgangspunkt der Arznei Chocolate, Tilia europaea, die Linde, Althaea, der Eibisch

und Gossypium, die Baumwolle, sind Vertreter dieser Pflanzenfamilie. Das Süße und Herrliche dieser Welt ist wohl etwas, an dem wir gerne haften, aber auch kleben bleiben in einer Illusion

von ewigem Glück ohne Schatten.

Aber nur dort, wo wir kleben, wird das Lösen ein Problem, kann das Lösen schmerzvoll sein. Auch die „göttliche" Kolanuss, wie sie in ihrer Heimat Westafrika genannt wird, ging vom

Genussmittel der Afrikaner, eingebettet in eine alte Kultur, den Weg über den atlantischen Ozean in die neue Welt, wo sie zum Geschmacksverstärker eines Zuckergetränkes mit Kultcharakter

wurde. Denselben Weg gingen

viele Menschen des afrikanischen Kontinents, den bitteren Weg der Versklavung, bei dem sie die Süße des Lebens als Unterdrückte und Ausgegrenzte verloren. Und am neuen Kontinent findet

sich ein Nebeneinander von süßen Höhenflügen (Wahnidee; Einbildung; besser als andere, hält sich für), Euphorie der Eroberung von 200 Ländern - ich meine das Markengetränk - und daneben

die düstere Seite der Wahnidee, unwiderstehlich gut zu sein (Gemüt; Wahnidee; Einbildung; sei unwiderstehlich - Wahnidee; Einbildung; sei unbesiegbar).

Zurück zu Nina. Sie bekommt Cola C200. Ihr Schlafbedürfnis nimmt innerhalb weniger Tage deutlich zu, der Verbrauch an erweiternden Sprays reduziert sich. Innerhalb eines Jahres nimmt

Nina die Arznei nahezu monatlich und ihre Atmung wird frei und unbehindert. Die Hauterscheinungen beruhigen sich zusehends.

Fall: Herr K. ist ein 35-jähriger Mann, der seit l 992 in Österreich lebt. Er stammt aus einer wohlhabenden persischen Familie und wollte aus politischen Gründen über Österreich als Zwischenstation

in die USA, ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten, auswandern, um zu studieren. In Wien lernte er jedoch eine Frau kennen und er blieb, wie er sagt, „leider hängen" - und haften. Eine unverhoffte  Schwangerschaft dieser seiner jetzigen Frau machte ihn rasch zum Ehemann und er war gezwungen, einen Job anzunehmen, um die Familie ernähren zu können. Er fährt Taxi. Er liebt diesen Beruf einerseits, weil er immer unterwegs ist und mit vielen Menschen reden kann, andrerseits fühlt er sich „draußen" aus seiner Welt (Lepra-Miasma), gleichsam isoliert, mit dem Gefühl, nie wieder

zurück zu kommen. Seit seiner Eheschließung fühlt er sich krank. Er leidet unter asthmatischen Beschwerden, er kann nicht mehr richtig durchatmen - wobei er immer wieder versichert, dass er

vorher niemals krank gewesen sei in seinem Leben. Und er leidet unter stechenden Schmerzen unter dem rechten Rippenbogen im Bereich der Leber, wobei Ausstrecken bessert (Abdomen;

Schmerzen; Stechen; Leber).

Er liebt Milch und Schokolade, Schlagobers, Fleisch, Butter, er verträgt keine Nüsse.

Herr K. sitzt vor mir und macht einen strahlenden sonnigen Eindruck, ich möchte sagen, für sein Alter einen naiv kindlichen Eindruck. Er schildert seine Kindheit in Persien in den schillerndsten Farben. Seine Eltern seien seit 65 Jahren -also seit der Kindheit- ein glückliches Paar. Er sei das siebente von acht Kindern und er habe alles gehabt, was sich ein Kind nur erträumen könne. Er hat Heimweh nach seiner Familie, dort sei die Welt in Ordnung.

Er kennt keine Lüge, versichert er mit Nachdruck (Gemüt; Lügner), seine Kinder -mittlerweile zwei- sollten genauso in Liebe aufwachsen wie er. Seine Frau sei eine strenge und gerechtigkeitsliebende

Finanzbeamtin, die er sehr schätze, aber von der Art her sei sie nahezu das Gegenteil ihres lustigen Mannes. Herr K. ist verzweifelt, seine Frau sei nicht sauber genug, Reinlichkeit gehe ihm nämlich über alles, sie behandle die Kinder nicht liebevoll genug, und auch er bekomme zu wenig Zuwendung. Er beklagt sich über zu wenig körperliche Nähe, sie wiederum klagt über seinen Jähzorn, der in Grobheiten

enden könne, seine Aufdringlichkeiten und über seine Inkonsequenz in der Erziehung.

Herrn K.s Widerstand gegen die reale und alles andere als zuckersüße Seite des Lebens wird auch noch in einer eindrucksvollen Episode aus seiner Dienstzeit als Soldat auf der Seite des Iran während des ersten Golfkrieges deutlich.

Eines Tages sollte er -wie alle anderen Soldaten auch- die Latrinen putzen. Der Gedanke daran war für ihn das Ekelhafteste, das er sich vorstellen konnte und er weigerte sich beharrlich, auch nur ein

Klo zu putzen - wir erinnern uns: andererseits ist ihm Sauberkeit über alle Maßen wichtig!

Der Konflikt weitete sich aus und sein vorgesetzter Offizier stellte ihn vor die Wahl: entweder müsse er die Latrinen putzen oder er werde eine Nacht lang weit draußen am Meer an eine Boje angebunden.

Herr K. entschied sich für eine lange Nacht allein im Dunkeln. Er wollte nicht über dieses Erlebnis mit mir sprechen, aber sein Gesicht sprach Bände.

Das Ausblenden der dunklen Seite hat ihn eingeholt, Sehnsucht nach der heilen Welt, die er in seiner Kindheit wähnt oder tatsächlich erlebt hat -ich kann es nicht beurteilen- ist in seinen Augen zu sehen.

Das Sich-Lösen davon scheint unmöglich.

Wieder beginnen auch meine Gedanken zu reisen, ich muss unwillkürlich an Peer Gynt denken, den Helden in Henrik Ibsens Drama, zu dem Mutter Aase sagt: „Peer, du lügst!" wenn er sich in

phantastischen Geschichten verliert. Sein Leben wird zu einem abenteuerlichen Suchen, einmal gelangt er zu den Trollen, einem groben, derben Volk, dessen König er werden soll.

Der Trollkönig sagt zu Peer: „Draußen in der Tagwelt gilt als größte Weisheit: ,Mensch, finde dich selbst!', hier bei uns Trollen aber heißt es klug: Troll, finde dich selbst - genug! ... Genug, mein Sohn, dieses große Wort bestimme fortan dein Leben."

In der eigenen Welt haften zu bleiben, ist wohl die größte und süßeste Verlockung des Menschen, die ihn zugleich in die tiefste Nacht und Bitterkeit zu stürzen vermag.

Nach Jahren des Irrens, als der Tod als Knopfgießer an die Schwelle von Peer Gynt tritt, fragt Peer Solveig, die Frau, die ihn liebt: „Verloren, Verloren! Es sei denn du könntest Rätsel lösen ...

Nun, so sag, wo war Peer Gynt all die Jahre? ... Was war seine Bestimmung, die Gott ihm gegeben? ... Wo war ich selbst?"

Und Solveig antwortet: „In meinem Glauben, in meinem Hoffen und in meinem Lieben."

Dieses Geborgensein im anderen - ob in einem anderen Menschen oder durch Integration des anderen in sich selbst - am besten in beidem, ist wohl das Geheimnis des wahren Glücks.

Und meine Gedanken wandern wieder zurück zu Herrn K. und nach nüchtern sachlichem Repertorisieren finde ich mein inneres Gefühl bestätigt.

Cola C200 bringt den Schmerz zum Verschwinden, die Atmung wird frei, Herr K. ruft begeistert und erleichtert an, will mehr von diesen Kügelchen und -passend zur Abgehobenheit der Arznei- nach einem halben Jahr verliert sich die Lebensspur von Herrn K. für mich.

 

 

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