Goethe, Hahnemann und die Homöopathie

 

[Dr. Gerhardus Lang]

„Am 28. August 1749 mittags mit dem Glockenschlag zwölf kam in Frankfurt am Main jenes wunderbar begabte Kind auf die Welt, in welchem sich ein Geist erschließen sollte Deutschland, ja der Menschheit, zu größtem Erfreuen und zur größten Förderung höherer Erkenntnis und schöneren Lebens zu verhelfen. Die Konstellation war glücklich, die Sonnestand im Zeichen der Jungfrau und kulminierte für den Tag. Jupiter und Venus blickten sich freundlich an, Merkur nicht widerwärtig; Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig, nur der Mond, der soeben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als sogleich seine Planetenstunde eingetreten war, und die Astrologen, die später diese Aspekte als günstige Vorbedeutung geltend zu machen gar wohl wussten, behaupteten, dass von ihm die Verzögerung der Geburt des Kindes ausgegangen sei, welche nicht eher habe erfolgen können, als bis diese Stunde vorübergegangen. Der Mensch liebt es, in neuen

und großen Erscheinungen, die heran- und herein treten ins Leben, Erklärungen zu suchen, welche ihm das Wunder deutlich machen sollen, das sich vor seine Augen begibt und das nicht weniger Wunder bleibt, wenn auch gewisse Einwirkungen und Vorbereitungen bei demselben zugegeben werden mussten. So blickten die Völker von jeher gern zum Himmel auf, wenn ein Wendepunkt ihrer Existenz herankam und forschten in der Bilderschrift der Gestirne nach künftigen Geschicken, und wenn einerseits bestimmte Beziehungen überall unnachweisbar genannt werden müssen, so liegt doch immerfort darin, als ein Schönes und Rührendes, der unerschütterliche Glaube an die Welt als ein Ganzes, als ein einiger, großer, nach mysteriösen Gesetzen sich regender Organismus, als eine Gesamtheit, wo jeder Teil auf das Ganze und auf andere Teile, und das Ganze auf jeden Teil die entschiedenste Beziehung ausübt.

In diesem Sinne ist es, dass Goethe jene Besonderheiten der Himmelsläufe bei seiner Geburt nicht verschmäht hat, in seine Lebensgeschichte aufzunehmen.“

So beginnt Goethe seine eigene Lebensbeschreibung in Wahrheit und Dichtung, und so begann vor 150 Jahren Carl Gustav Carus, ein Zeitgenosse Goethes, seine Festrede zu dessen 100e. Geburtstag mit dem Titel „Goethe und seine Bedeutung für diese und die künftige Zeit“.

Verhältnis von Goethe zur Homöopathie:

Geht man von dem aus, was Goethe über Hahnemann und die Homöopathie geäußert hat, so ist das nicht sehr viel. Ich habe einiges gefunden, u.a. einen Brief, den ich Ihnen vorlesen werde, einen Brief an das Ehepaar Willemer, das er in Mainz aufgesucht hatte. Mit Marianne Willemer hat er zusammen den Westöstlichen Divan gedichtet, schon ein Alterswerk. Es war eine seiner späten Liebesbeziehungen, die zu diesen Dichtungen des Westöstlichen Divan geführt haben. Er bekam nach einem Besuch bei Willemers einen Brief von ihnen, auf den er antwortet. Das war ein Brief

zu seinem Geburtstag im Jahre 1820, und am 2. September schreibt er unter anderem Folgendes:

„...Eine Bemerkung jedoch kann ich, als akademischer Bewohner, hiebey nicht unterlassen; die Frankfurter Juweliere müssen von der Theorie des Doctor Hahnemann in Leipzig, eines freilich jetzt

in der ganzen Welt berühmten Arztes, vernommen und sich das Beste davon zugeeignet haben. Dieser lehret nämlich: dass der millionste Teil einer angedeuteten, kräftigen Arznei die vollkommenste Wirkung hervorbringe und jeden Menschen zur höchsten Gesundheit wiederherstelle. Nach diesem Grundsatz haben jene Goldkünstler bey der Behandlung des Mittel = Juwels verfahren und ich glaube jetzt eifriger denn je an die Lehre des wundersamen Arztes, seitdem ich die Wirkung einer allerkleinsten Gabe so lebhaft gefühlt und immer wieder empfinde. Wundersam genug ist es, wie sich eine von der Welt bisher so sehr angefochtene Lehre durch ein auffallendes Beispiel aus einem ganz fremden Felde legitimiert und bekräftigt. Möge dem Fürsten Schwarzenberg, welcher sich einer solchen Kur wegen jetzt in Leipzig aufhält, es eben so gedeihen als mir, so wird es jenem Arzt an Ruhm und Lohn keineswegs gebrechen“.

Es handelt sich um ein Amulett, das er von Marianne Willemer geschickt bekam, in welches einige Haare von ihr eingearbeitet waren. Es war sozusagen ein ganz kleiner Teil von der Marianne Willemer, und der übte auf ihn die zauberhafteste Wirkung aus, wie es eben so ist, wenn man eine Art Fetisch seiner Geliebten sein Eigen nennt.

Und dieser Brief an Willemers hat Professor Nager, der ein Buch über Goethe und die Medizin geschrieben hat – ein sehr lesenswertes Buch, weil er viele Dinge aufführt, die Goethes Beziehung zur Medizin, die ja sehr vielfältig war, von Anbeginn seines Lebens an darstellt – zu folgender Bemerkung veranlasst:

„Hahnemannjünger mag es erfreuen und ermutigen, dass der alte Goethe ein entschiedener Anhänger der Homöopathie war. Klassische Schulmediziner werden es seiner Placeboempfänglichkeit anlasten, wenn er im September 1820 seinen Willemer Freunden begeistert schreibt:....“und dann diesen Brief zitiert, den ich eben vorgelesen habe.

Weitere Stellen finden sich im Gesamtwerk Goethes, soweit es in der Weimarer Ausgabe (WA) veröffentlicht ist, in denen sich Goethe zur Homöopathie äußert, und sie belegen, dass er eine deutliche Vorstellung von der Homöopathie hatte:

„Beide (Graf Paar, Adjudant des Fürsten von Schwarzenberg, und Anton Prokesch) von der Hahnemannschen Lehre durchdrungen, auf welche der Fürst (= Schwarzenberg) seine Hoffnung gesetzt hatte, machten mich damit umständlich bekannt, und mir schien daraus hervorzugehen, dass, wer auf sich selbst aufmerksam, einer angemessenen Diät nachlebt, bereits jener Methode sich unbewusst annähert.“ und „Vorgenannte Freunde (Paar und Prokesch) überraschten mich, da wir gar manches, besonders die Hahnemannische Heilmethode besprachen.“(Goethes Tagebücher WA.III7, S.213) ferner „Nebenstehende Expeditionen ausgefertigt: An Graf Paar nach Leipzig, Hahnemannische Lehre Manuskript mit Dank für Brief und Besuch“ (a.a.O.III 7, S. 221),

„...Dr. Necher, Seiner Königlichen Hoheit Infant von Spanien, Herzog von Lucca Leibarzt und Hofrath, ein entschiedener Hahnemannier, welcher mir das bekannte Credo umständlich mit vollkommenster Überzeugung vortrug (a.a.O. III 11, S. 218).

„...Die alte tüchtige F.v.D besorgt um ihre Enkelin. Man kriegt von Homojopathen keine Explikation, weil sie keine Raison haben.“ (a.a.O. III13, S. 60).

„Hier zu Lande spielt man ein curioses Spiel mit Ablehnen und Abdämmen der Neuerungen jeder Art. Z:B: durch Magnetismus zu curieren ist verboten, auch nach der Hahnemannschen Methode darf niemand practizieren; nun aber hat der sehr kranke und wahrscheinlich incurable Fürst Schwarzenberg Vertrauen zu dem neuen Theophrastus Paracelsus und erbittet sich Urlaub von dem Kaiser und Erlaubniss, auswärts sein Heil zu suchen, welches ihm dann auch nicht versagt wird“(a.a.O. IV 33, S. 18).

„Sie erhalten hierbey, mein Theuerster, das kurz gefasste Glaubens = Bekenntnis eines Hahnemannschen Schülers. Möge diese fassliche Übersicht, aus der man kürzlich sieht, worauf es eigentlich ankommt, uns zu heitern und belehrenden Gesprächen bey längeren Abenden Gelegenheit geben“ (a.a.O. IV 33, 197).

„Mit tausend Dank sende die mitgeteilte Handschrift zurück, wovon ich die Copie einem würdigen Arzte mitgeteilt. Nächsten Winter soll sie uns Anlass zu bedeutender Unterhaltung geben und Gelegenheit, an den Wunderarzt, nach glücklich gelungener Cur des verehrten Fürsten, mit Freuden zu gedenken“ (a.a.O. IV 33, S. 218).

Das hat Goethe selbst über die Homöopathie geäußert. Zu diesem Brief vom 2.Sept.1820 hat Nager die etwas spöttische Bemerkung über die angebliche „Placebo-Empfänglichkeit“ Goethes gemacht.

Das ist sicher aus seiner Sicht ganz verständlich, da er ein Schulmediziner ist. Aber sein ganzes Buch durchzieht eine große Verehrung für Goethe.

Goethe und Hahnemann waren Zeitgenossen. Sie lebten fast gleichzeitig.

Goethe von 1749-1832 und H. von 1755-1843. Letzterer ist mit 88 Jahren älter geworden als Goethe, der 83 Jahre lebte. Die Geburtsstunde von Goethe war mittags um 12 h., am hellichten Tag.

Die Geburtsstunde Hahnemanns war genau um Mitternacht.

Hier schon eine deutliche Polarität der beiden Persönlichkeiten, die sich später auch an anderen Zügen zeigt. Um Mitternacht, die Mohrenapotheke hat bei Hahnemann eine Rolle gespielt, wieder das Schwarze, währenddessen bei Goethe die Sonne, das Licht sein ganzes Leben bestimmte. Für Goethe war das Licht das allerwichtigste, sein letztes Wort soll angeblich gewesen sein: „Mehr Licht“, und deshalb habe ich auch gesagt, wir müssen in diesem Saal mehr Licht haben, wenn wir über Goethe sprechen.

Gemeinsam war ihnen ein großer Wandertrieb.

Goethe reiste während seines Lebens ca. 40 000 km. Das war für die damaligen Verkehrsverhältnisse eine ganze Menge. Er ist zwar nicht nach Amerika gekommen, auch nicht nach Asien, nicht einmal bis Griechenland, aber was er auf seinen Reisen gesehen hat, das übersteigt vieles, was wir heutigen Touristen sehen, die wir zwar zum Fenster hinausgucken und trotzdem nichts sehen.

Er bereiste Mitteleuropa und Italien, wie wir wissen, und lebte immer im Licht, er hatte es nicht schwer mit seinem Lebensunterhalt. Sein Elternhaus war vermögend, und später lebte er bei seinem wirklich großzügigen Fürsten in einem gesicherten Wohlstand. Er war, würden wir heute sagen, auf der Sonnenseite des Lebens angesiedelt.

Auch Hahnemann ist sehr viel herumgekommen. Bei ihm war das etwas anders, als bei Goethe. Er war von der Not umher getrieben, einen Ort nach dem anderen aufzusuchen, um irgendwo seine Existenz zu finden, und er fand sie und fand sie nicht. An wie viel Stellen hat er angefangen zu leben oder auch seinen Beruf auszuüben, bis er dann in Köthen eine gewisse Ruhe fand. Sein Vater war Arbeiter, er konnte ihm das Schulgeld nicht bezahlen und schon gar nicht das Studium. Alles musste er sich erkämpfen, kein großzügiger Mäzen nahm ihm die Bürde des Lebensunterhaltes ab.

Als am Ende seines Lebens in Köthen ein bescheidener Wohlstand und eine gewisse Ruhe eingetreten war, wurde er wieder gestört, indem er nach Paris gelockt wurde vom weiblichen Element,

dass ewig Weibliche zog ihn hinan, die Melanie. Erstmals war ihm dort ein wenig die Sonnenseite des Lebens begegnet, nachdem er vorher sein Hauptwerk im wahrsten Sinne des Wortes der Nacht abgerungen hatte, der Zeit, wo er zur geistigen Arbeit kam, nachdem der Tag in mühseliger Plackerei für Haushalt und die vielen Kinder verbracht war.

Goethe war in Weimar zur Ruhe gekommen, und er war von dort aus immer unterwegs, aber er hatte immer sein Standquartier gehabt, von dem er ausgegangen ist.

Das war bei Hahnemann nicht so. Als er zum Schluss in Köthen war, hat er mit Sicherheit von dort aus nicht mehr viele Reisen unternommen, bis er dann nach Paris gelockt wurde. Beide zeigen diese große Unruhe. Da finden wir noch einen dritten im Bunde unter den berühmten Medizinern, und zwar den Paracelsus, der vom Wandertrieb besessen war.

Hahnemann hat diesen Wandertrieb nicht so von sich aus gehabt, aber wie wir es auch nehmen, es ist so gewesen. Wenn etwas mit uns passiert, gehört es immer zu unserem Wesen, auch wenn wir es nicht aus Überzeugung oder innerstem Trieb heraus machen. Wanderung hat immer etwas mit Wandlung zu tun, es sind ganz ähnliche Begriffe. Die Fähigkeit zur Wandlung ist ihnen beiden in hohen Maßen zuteil geworden.

Beide haben starke Beziehungen zu ihrem Vater gehabt. Bei Hahnemann war es der Vater gewesen, der ihm eine strenge Schulung zur Selbstbesinnung angedeihen ließ.

In der Hahnemannbiographie von Fritsche heißt es:

„Ging der im Selbstdenken geübte Porzellanmaler (sein Vater) zur Fabrik, kam es bisweilen vor, dass er seinen Sohn in ein Zimmer mit vorher geschlossenen Fensterladen sperrte und ihm dort streng und wohlwollend zugleich das Geistige durch Klären eines bestimmten Satzes als Übung anbefahl. Nach seiner Rückkehr aus der Fabrik wünschte er dann vom Ergebnis einer solchen Klausur zu hören. Früh genug wurde also der junge Hahnemann zu einem von Büchern und äußeren Anregungen unabhängigen Operieren mit dem zielstrebig gezügelten Gedanken vertraut gemacht. Eine weitere Regel, die der eigenwüchsige Pädagoge seinem Kind fest einprägte, verlangte „beim Lernen und Hören nie der leidende Teil zu sein“.

Das zeichnete später Hahnemann aus, dass in seinen Anschauungen die „Selbstherrschaft“, die „Autokratie“ des Organismus wegführen sollte von der Situation, die in der Krankheit herrscht, nämlich „ein leidender Teil“ zu sein, der die Selbstständigkeit zumindest teilweise verloren hat. Lernen und Hören, was nur in den Menschen hinein gegeben wird, schien ihm wertlos und als Ballast ungesund. Verhält sich der Lernende aber aktiv, dann befindet er sich von Anfang in kraftvoller Auseinandersetzung mit dem, was ihm zufließt oder übermittelt wird. So erfahren Seele und Geist eine Steigerung zu Höherem, reinerem Dasein. Auch in der Anwendung des homöopathischen Mittels nimmt der Organismus das Heilmittel nicht einfach passiv auf, sondern dasselbe ist eine Aufforderung zur Selbsttätigkeit.

Desgleichen sagte Goethe, dass er von seinem Vater Wesentliches mitbekommen hat. So der berühmte Spruch:

„Vom Mütterchen hab‘ ich die Frohnatur, Die Lust am Fabulieren,

Vom Vater hab‘ ich die Statur, Des Lebens ernstes Führen.“

Dieses ernste Führen des Lebens ist Goethe vom Vater her zugekommen. Der war in dieser Beziehung ein strenger Vater, indem er gewisse Dinge von ihm forderte.

Beide begannen schon sehr früh in ihrer Kindheit und Jugend die Schulung der Selbstbeherrschung. Daraus entsprang bei beiden ihr höchst anspruchsvolles und trotz seiner Verbreitung einsames Werk, das sich durch die fortwährende Wandlung im Sinne einer Entwicklung auszeichnete. Beide sind nie stehen geblieben bei irgendwelchen festen Ergebnissen. Jede Ausgabe des Organon ist neu geschrieben, gewandelt worden, mit neuen Ideen bereichert, ohne das Wesentliche aufzugeben.

Hahnemann sagte von seinem Vater:

„Keine erhabenen Begriffe von dem Urwesen der Schöpfung, der Würde der Menschheit und ihre herzerhebende Bestimmung schien er zu haben, die mit seiner Handlungsweise nur je im Widerspruch gestanden hätten. Dies gab mir die Richtung von Innen.“

Vor einem solchen Hintergrund zeigte sich eine tiefe Religiosität, die jedoch keine Kirchengläubigkeit darstellte.

Goethe fand in seiner pantheistischen Anschauung der Welt auch einen eigenen Gottesbegriff ferne jeder kirchlichen Konfession.

Für Hahnemann war der Beruf des Arztes, des Heilkünstlers, sein fortwährendes Problem, das Thema seines ganzen Lebens, seitdem er sich mit der Medizin beschäftigt hat. Schon in der Abschlussrede nach seiner Schulzeit wählt er das Thema der menschlichen Hand, deren Wunderwerk er wahrnimmt und der Gottheit die Ehre erweist, sie für ein solches Werk in den höchsten

Tönen zu preisen.

 „Des Arztes einziger Beruf ist, kranke Menschen gesund zu machen, was man heilen nennt“ (§1 des Organon).

Der einzige Beruf ist es. Ihn hat alles nur im Hinblick auf seinen Beruf interessiert, der ihn zu ständigem Handeln zwang, das nur er ganz allein zu entscheiden und zu verantworten hatte, für das er sich den hohen Anspruch gesetzt hatte, immer

„...nach deutlich einzusehenden Gründen“ (§3 Organon) zu handeln, was die eigentliche Voraussetzung für verantwortliches Handeln ist.

Bei Goethe gab es keinen Beruf im bürgerlichen Sinn. Er fühlte sich zu Vielem berufen: Er war Jurist, dann Staatsminister, Dichter, Schriftsteller, Naturwissenschaftler, Maler, Regisseur, Intendant,

Zeremonienmeister, in vielem Dilettant und Privatier.

Es gibt nichts, womit er sich nicht beschäftigt hätte, gar nichts ließ ihn gleichgültig, er wusste alles in den Reigen seiner Interessen und Wirksamkeiten aufzunehmen.

„Handeln nach deutlich einzusehenden Gründen?“

Nichts lag ihm ferner, dem immer neu der Liebe Verfallenen, der „verantwortungslos“ aus Weimar flüchtete, niemanden vorher informierte und sich darauf verließ, dass sein „Fürst“ sich fürstlich benehmen würde, wenn er sich einen wer weiß wie langen „Urlaub“ nahm.

Wie häufig war Goethe schwer krank, dem Tode nahe, im Gegensatz zu Hahnemann, der sich bis ins hohe Alter guter Gesundheit erfreute.

Sie sind beide keine Mystiker gewesen. Mystiker, das bedeutet (von myein): “die Augen schließen“. Nein, sie haben die Augen offen gehalten, sie sind beide mit offenen Augen durch die Welt gegangen. Portraits von beiden zeigen, dass sie außerordentliche Augen hatten. Bei Goethe ist es ganz klar, diese großen Augen, aber auch bei Hahnemann muss ein sehr intensiver Blick vorhanden gewesen sein: der sorgfältige Beobachter. Nur die Erfahrung galt beiden etwas. Wenn man heute die Homöopathie in irgendeiner Weise mit Mystik in Zusammenhang bringt, so ist das ein Fehler. Sie hat mit Mystik nichts zu tun, mit innerer Versenkung.

Das Wichtigste ist für Goethe und Hahnemann, die Welt zu betrachten, die Welt zu erforschen, die Welt wahrzunehmen, „wahr“ zu nehmen im wahrsten Sinne des Wortes, die Wahrheit zu nehmen und nicht irgendetwas, was man sich im Kopf ausgedacht hat.

Eine große Strenge beherrscht Hahnemanns Werk, eine strikte Konsequenz. Eine einzige Arznei, eine einzige Gabe zur Zeit, und das nach deutlich einzusehenden Gründen. Ganz klar, warum man etwas gibt, nicht nach ‘irgendwelchen’ Gründen. Eine kantische Disziplin durchzieht sein Werk, aber auch sein Leben. Er hat sehr diszipliniert gelebt. Sonst hätte er die Nöte, die er durchmachen musste, nicht durchstehen können.

Nichts lenkte ihn ab von dem einmal eingeschlagenen Weg. Er wird berühmt, auch berüchtigt. Ein schwieriger Charakter, ein einsamer Mensch, der sich mit allen anlegt, die nicht das machen und tun, wie er es sich vorgestellt hat.

„Macht’s nach, macht’s genau nach“, bis in die Einzelheiten hinein. Er streitet sich mit seinen homöopathischen Kollegen, welche die Sache etwas anders sehen, die es etwas verwässert sehen, die mit der übrigen Medizin zusammen gehen wollen. Nein, das geht nicht, sagt er. Er hat wenige Freunde gehabt, er lebte in Köthen allein mit seiner Familie, pflog keinen gesellschaftlichen Umgang, hatte kaum Kontakt zu seinen Kollegen.

Dagegen scheint Goethe, dieses hoch begabte Kind einer wohlhabenden Familie, zunächst viel unsteter zu sein. Viele Interessen erregen seine Aufmerksamkeit. Er ist überall zu Hause: Kunst, Literatur, Dichtung, Juristerei, Naturwissenschaften, überall glänzt er, wenn auch in unterschiedlichem Maße. In Weimar hat er dann seinen juristischen Beruf wirklich ausgeübt, als Staatsminister.

Es ist nicht so gewesen, dass er gar keinen Beruf richtig ausgeübt hätte, sondern er hat diesen sehr pedantisch und sehr pflichtbewusst ausgeübt: Jeden Tag ist er seiner Arbeit nachgegangen. Jahrelang stand dort die Pflicht im Vordergrund.

Aber er war trotzdem vielseitig in seinen Interessen, was man auch an seinem Werk ablesen kann. Wie viele Dinge hat er angefangen und nicht vollendet. Wie viele Fragmente hat er hinterlassen.

Es ist kaum etwas so vollkommen zu Ende gewirkt worden, wie z.B. das Organon von Hahnemann. Sechs Auflagen.

Jedesmal ist etwas erweitert, durchgearbeitet, aber im Prinzip ist es so geblieben von Anfang an. Das ist ein Block, der immer nur noch etwas verfeinert worden ist, den Hahnemann mit seinem Organon zurückgelassen hat.

Bei Goethe war es von Anbeginn seines bewussten Lebens etwas, das so im Vordergrund steht, das sich wie ein roter Faden durch sein ganzes Leben hindurch zog, ob das seine Dichtung ist oder sein wissenschaftliches Bestreben: das ist sein Verhältnis zur Natur. Ich lese diese berühmte Stelle vor, um Ihnen das wieder ins Gedächtnis zu rufen, aus Dichtung und Wahrheit, wie er von Anbeginn sein Verhältnis zur Natur gestaltet hat:

„Es versteht sich von selbst, dass wir Kinder, neben den übrigen Lehrstunden, auch eines fortwährenden und fortschreitenden Religionsunterichts genossen. Doch war der kirchliche Protestantismus, den man uns überlieferte, nur eine Art von trockener Moral.

An einen geistreichen Vortrag war nicht gedacht, und der Vortrag konnte weder der Seele noch dem Herzen zusagen. Deswegen ergaben sich gar mancherlei Absonderungen von der gesetzlichen Kirche.

Es entstanden die Separatisten, Pietisten, Herrenhuter, die Stillen im Lande und wie man sie zu nennen und zu bezeichnen pflegte, die aber alle bloß die Absicht hatten, sich der Gottheit besonders durch Christum mehr zu nähern als es ihnen unter der Form der öffentlichen Religion möglich zu sein schien.

Der Knabe hörte von diesen Meinungen und Gesinnungen unaufhörlich sprechen....

Die mehr oder weniger Abgesonderten waren immer die Minderzahl, aber die Sinnesweise zog an durch Originalität, Herzlichkeit, Beharren und Selbständigkeit. Man erzählte von diesen Tugenden und ihren Äußerungen allerlei Geschichten.....

Dieses und dergleichen mag wohl Eindruck auf den Knaben gemacht und ihn zu ähnlichen Gesinnungen aufgefordert haben. Genug, er kam auf den Gedanken, sich dem großen Gotte der Natur, dem Schöpfer

und dem Erhalter des Himmels und der Erden, dessen frühere Zornesäußerungen schon lange über die Schönheit der Welt und das mannigfaltige Gute, das uns darin zuteil wird, vergessen waren, unmittelbar zu nähern; der Weg dazu aber war sehr sonderbar.

Der Knabe hatte sich überhaupt an den ersten Glaubensartikel gehalten. Der Gott, der mit der Natur in unmittelbarer Verbindung stehe, sie als sein Werk anerkenne und liebe, dieser schien ihm der eigentliche Gott, der ja wohl auch mit dem Menschen wie mit allem übrigen in ein genaues Verhältnis treten könne, und für denselben ebenso wie für die Bewegung der Sterne, für Tages- und Jahreszeiten, für Pflanzen und Tiere Sorge tragen werde. Einige Stellen des Evangeliums besagten dieses ausdrücklich. Eine Gestalt konnte der Knabe diesem Wesen nicht verleihen; er suchte ihn also in seinen Werken auf und wollte ihm auf gut alttestamentliche Weise einen Altar errichten. Naturprodukte sollten die Welt im Gleichnis vorstellen. Über diesen sollte eine Flamme brennen und das zu seinem Schöpfer sich aufsehnende Gemüt des Menschen bedeuten. Nun wurde aus der vorhandenen und zufällig vermehrten Naturaliensammlung die besten Stufen und Exemplare herausgesucht; allein wie solche zu schichten und aufzubauen sein möchten, das war nun die Schwierigkeit. Der Vater hatte einen schönen, rot lackierten, goldgeblümten Musikpult, in Gestalt einer vierseitigen Pyramide mit verschiedenen Abstufungen, den man zu Quartetten sehr bequem fand und der in der letzten Zeit nur sehr wenig gebraucht wurde. Dessen bemächtigte sich der Knabe und baute nun stufenweise die Abgeordneten der Natur übereinander, so dass es recht heiter und zugleich bedeutend genug aussah. Nun sollte bei einem frühen Sonnenaufgang die erste Gottesverehrung angestellt werden; nur war der junge Priester nicht mit sich einig, auf welche Weise er eine Flamme hervorbringen sollte, die doch zur gleichen Zeit einen guten Geruch von sich geben müsse. Endlich gelang ihm ein Einfall, beides zu verbinden, indem er Räucherkerzchen besaß, welche wo nicht flammend doch glimmend den angenehmsten Geruch verbreiteten. Ja, dieses gelinde Verbrennen und Verdampfen schien noch mehr das, was im Gemüte vorgeht, auszudrücken als eine offene Flamme. Die Sonne war schon längst aufgegangen, aber Nachbarhäuser verdeckten den Osten.

Endlich erschien sie über den Dächern; sogleich ward ein Brennglas zur Hand genommen, und die in einer schönen Porzellanschale auf dem Gipfel stehenden Räucherkerzen angezündet. Alles gelang nach Wunsch und die Andacht war vollkommen. Der Altar blieb als eine besondere Zierde des Zimmers, das man ihm im neuen Hause eingeräumt hatte, stehen. Jedermann sah darin nur eine wohlaufgeputzte Naturaliensammlung; der Knabe hingegen wusste besser, was er verschwieg......“

Das hat er für sich behalten. Das ist Goethe gleich am Beginn, dass er in der Natur das göttliche Wirken sucht, dass er den Gott nicht irgendwo im Jenseits sucht, sondern in der Natur. Das ist ihm das Allerwichtigste. So geht es sein ganzes Leben hindurch.

Goethe hat sich sehr früh beginnend mit der Medizin beschäftigt, wofür es ja zahllose Belege gibt. Beginnend schon mit seiner Geburt, die Anlass für eine bessere Hebammenausbildung gab, da es schwierig war,

den neu Geborenen zu seinem ersten Atemzug zu bewegen. Dann hat er gleich bei Beginn seiner Studien in Straßburg medizinische Vorlesungen gehört, denn er war ja während seiner Leipziger Zeit schwer

erkrankt gewesen, was ihm Anlass war sich mit alchimistischen Studien zu befassen, die ja auch von Ärzten, wie Paracelsus intensiv gepflegt worden waren. Er sagte später einmal:

„Die Medizin beschäftigt den ganzen Menschen, weil sie sich mit dem ganzen Menschen beschäftigt“.

Also die Medizin ist ein ganz besonderes Fach, weil sie eben den ganzen Menschen als Thema hat. Im Faust sind diese Bezüge unübersehbar.

Faust selbst ist Arzt, wie auch der Vater von Faust es war. Wilhelm Meister, eine der wichtigsten Gestalten in Goethes Werk, wird nach langer Wandlung, nach langen Wanderjahren dann als „Entsagender“, Wundarzt. Eigentümlicherweise Wundarzt.

Wenn Goethe sich zur Medizin äußert, so ist das immer vor dem Hintergrund zu sehen, dass sein Verhältnis zur Natur auch da eine große Rolle spielt, denn alle die Themen, welche die Medizin betreffen, betreffen auch die Natur. Er hat die naturwissenschaftlichen Forschungen, die er durchgeführt hat, was er da veröffentlicht hat, was er da geforscht hat, hat er wesentlich höher bewertet, als seine ganzen poetischen Werke. Seine Dichtungen selbst sind durchsetzt mit seiner Naturanschauung. Was sind denn Dichtungen? Dichtungen sind Verdichtungen, dass man etwas auf den Punkt bringt. Und niemand hat Dinge so auf den Punkt gebracht, vor allem in seinen Gedichten, wie Goethe, eine unglaubliche Verdichtung geistiger Prinzipien findet da statt. Man kann auch diese Dinge nicht trennen von seiner Gottesanschauung, von seinen Bekenntnissen zu einem höheren Dasein. Er sagt:

Was wär ein Gott, der nur von außen stieße

Im Kreis das All am Finger laufen ließe!

Ihm ziemts, die Welt im Innnern zu bewegen,

Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen,

So dass, was in Ihm lebt und webt und ist,

Nie Seine Kraft, nie Seinen Geist vermisst.

Also in allem sucht er die göttlichen Kräfte auf, er ist ein wahrer Pantheist.

Hahnemann hat uns sein Organon, sein Werkzeug hinterlassen, Organon der Heilkunst. Das ist eine anspruchsvolle Anleitung zum therapeutischen Handeln. Eine strenge Anweisung, Paragraphen, wie ein Gesetzeswerk gegliedert, apodiktisch, imperativ, konsequent, unduldsam gegen Abweichungen und Abirrungen, voller Polemik gegen die Allopathie, gegen die andere Medizin, jene „Vermuthungskunst“seiner Zeit, wie er sie nannte. Voller Polemik gegen die Abweichler von der Reinen Lehre, ein reiner Fundamentalist würden wir heute sagen.

Hahnemann hat nie auf Goethe hingewiesen. Es ist, als ob er nie etwas von ihm gewusst hätte. Versucht man aus seinen Briefen etwas herauszufinden, nirgendwo eine Stelle, wo Goethe erwähnt wird, so ist das vergebliche Mühe. Es ging ihm immer nur um die Homöopathie. An irgendeiner Stelle hat er einmal etwas über Kant gesagt, aber sonst nur über die Homöopathie, also nicht nur die Medizin, sondern nur die Homöopathie ganz gezielt. Zwar hat er dann im Alter mit seiner Melanie in Paris die Theater aufgesucht, dort wird er wohl im Wesentlichen französisches Theater gesehen haben, er sprach ja fließend französisch.

Er war pedantisch, er ging jeden Tag zur gleichen Stunde mit seinen Töchtern spazieren (ähnlich Kant, der in Königsberg auf die Minute genau seinen gewohnten Spaziergang machte, dass man die Uhr danach stellen konnte) und lebte nur seinem Beruf, sonst nichts.

„An ihren Werken sollt ihr sie erkennen“, heißt es. So wurde Hahnemann an seiner erfolgreichen Praxis gemessen, aber nur wenige hielten sich an seine Anweisungen:

„Macht’s nach aber macht’s genau nach“! An dieser Genauigkeit hapert es bis heute, dass man es wirklich genau nachmacht.

Aber da Hahnemann und Goethe einem gemeinsamen Zeitalter entstammen und auch einer Region angehören – die Orte, an denen sie wirkten, lagen gar nicht so weit auseinander – da hätte man eigentlich erwarten können, dass irgendwelche Verbindungen entstehen. Aber damals waren die Welten eben relativ klein. Trotzdem ist das etwas, was einem keine Ruhe lässt, dass da zwei bedeutende Persönlichkeiten in einem gemeinsamen Zeitalter gelebt haben um die französische Revolution herum, die wirklich alles umgedreht hat in der damaligen Welt, und dass die nichts miteinander zu tun haben sollen.

Goethe hat sich immer dagegen gewehrt, dem Menschen eine Sonderstellung in der Natur dadurch zu verschaffen, dass man sagte, der Mensch sei deshalb etwas Besonderes gegenüber den übrigen Tieren, weil er keinen Zwischenkieferknochen besitze.

Dieses äußere Merkmal sollte den Menschen vom Tier unterscheiden? Das hat Goethe nicht eingesehen: Er hat so lange geforscht, bis er den Zwischenkieferknochen entdeckt hat, dass der beim Menschen genauso vorhanden ist wie beim Tier. Denn Goethe sah den einheitlichen Bauplan der Wirbeltiere, der für ihn selbstverständlich auch für den Menschen Gültigkeit hat. Der Unterschied des Menschen zum Tier lag für ihn ganz woanders, aber nicht in diesen angeblichen körperlichen Besonderheiten. Es war für Goethe völlig unannehmbar, dass der Mensch auf diese Weise eine Sonderstellung in der Natur einnehmen sollte, und er hat nicht eher geruht und war erst dann befriedigt, als er diesen missing link in der Naturwissenschaft entdeckt hatte.

Mit den Problemen der Anatomie, der Physiologie, der Unterschiede der Naturreiche und ähnlichen wissenschaftlichen Problemen hat sich Hahnemann nicht beschäftigt. Er streifte die Probleme nur insofern, als sie zur Begründung seiner therapeutischen Handlungen notwendig erschienen. Er war durchaus belesen und kannte sicher die damals herrschenden Anschauungen der Wissenschaften insofern sie die Medizin betrafen. Aber er nahm sie nicht zur Begründung seiner Handlungsanweisungen, aus welchen das Organon besteht. Ihm eigen war eine große Ehrfurcht vor der Schöpfung und den Wundern ihrer Bildung. Das zeigt sich bereits in der Abschlussrede von St. Afra über die menschliche Hand. Eine tief religiöse Haltung durchzieht Hahnemanns ganzes Werk. Aber die Probleme der Wissenschaft haben ihn nur am Rande berührt. Er war ein handelnder Mensch, weshalb ihn als jungen Menschen schon die Hand zur Bewunderung hinriss.

Hahnemann beschäftigte sich auch nicht mit dem Sinn von Krankheit, ein Thema, das für Goethe von großer Wichtigkeit ist. Was haben Krankheiten für einen Sinn für den Menschen, für seine Biographie, wie dienen sie seiner Entwicklung? Das ist bei Goethe ein großes Thema. Ich denke da an das Bekenntnis Goethes zum Christentum in Wilhelm Meisters Wanderjahren:

„Nun ist aber von der dritten Religion zu sprechen, gegründet auf der Ehrfurcht vor dem was unter uns ist; wir nennen sie die christliche, weil sich in ihr eine solche Sinnesart am meisten offenbart; es ist ein Letztes, wozu die Menschheit gelangen konnte und musste. Aber was gehörte dazu, die Erde nicht allein unter sich liegen zu lassen und sich auf einen höhern Geburtsort zu berufen, sondern auch Niedrigkeit und Armut, Spott und Verachtung, Schmach und Elend, Leiden und Tod als göttlich anzuerkennen, ja Sünde selbst und Verbrechen nicht als Hindernisse, sondern als Fördernisse des Heiligen zu verehren und liebzugewinnen. Hiervon finden sich freilich Spuren durch alle Zeiten, aber Spur ist nicht Ziel, und da dieses einmal erreicht ist, so kann die Menschheit nicht wieder zurück, und man darf sagen, dass die christliche Religion, da sie einmal erschienen ist, nicht wieder verschwinden kann, da sie sich einmal göttlich verkörpert hat, nicht wieder aufgelöst werden mag.“

Hahnemann schaute nur auf die Aufgabe des Arztes, nämlich kranke Menschen gesund zu machen. Er fragte sich nur: Wie kommen Krankheiten zustande? Durch eine Verstimmung der Dynamis, in welcher Beziehung auch immer, und wie kann ich Mittel finden, um diese Verstimmung wieder aufzuheben. Das war Hahnemanns einziges Thema. Er war ein Mensch, der tätig sein wollte und der versuchte, diese seine Tätigkeit zu begründen. Das war sein ganzes Bestreben. Dabei war ihm durchaus bewusst, dass es nicht nur Heilmittel aus heilkräftigen Substanzen sein müssen, sondern dass auch die Einbildungskraft selbst in der Lage ist, das Lebensprinzip zu verstimmen. Das sagte er in der Fußnote zum § 17

Goethe legte sein Verhältnis zur Medizin als Wissenschaft und Heilkunst in vielen seiner Werke dar, und es gibt noch weitere Stellen, die man zur Homöopathie in Beziehung setzen könnte. Insbesondere seine Erkenntnismethode ist derjenigen Hahnemanns sehr verwandt.

Hahnemann sah am Beginn der Krankheit (der „Ursache“ der Krankheit) die Verstimmung der Dynamis.( §11.Organon) Die Dynamis wurde also von Hahnemann als „geistartig“ bezeichnet.

Sie ist es, die im gesunden Zustande – von ihm als Autokratie bezeichnet, als Selbstherrscherin – den materiellen Körper belebt in Gefühlen und Tätigkeiten, wie er das im §9 ausdrückte:

„Im gesunden Zustande des Menschen waltet die geistartige, als Dynamis den materiellen Körper (Organism) belebende Lebenskraft (Autocratie) unumschränkt und hält alle seine Theile in bewundernswürdig harmonischem Lebensgange in Gefühlen und Thätigkeiten, so daß unser inwohnende, vernünftige Geist sich dieses lebendigen, gesunden Werkzeugs frei zu dem höhern Zwecke unsers Daseins bedienen kann.“

Hahnemann gliederte sehr deutlich: Dynamis und Geist sind zwei verschiedene Dinge, sie sind nicht identisch. Der menschliche Geist ist das oberste Prinzip. Die Anthroposophen würden sagen, es ist das Ich, währenddessen unter der Dynamis eine Zusammenfassung der anderen von Rudolf Steiner so bezeichneten Wesensglieder, des Astralleibes und des Ätherleibes, gemeint ist.

Bei Goethe finden wir wiederum einen Begriff, der von ihm häufig benutzt wird, den er aus der Philosophie entlehnt hat, den Begriff der Entelechie. Entelechie kommt aus dem Griechischen und heißt: das innewohnende Ziel, das innewohnende Prinzip.

Also das Ziel, das dem Menschen innewohnt, wohin er strebt, man könnte auch sagen:

sein Lebenszweck, seine Lebensabsicht, nicht zu verwechseln mit Schicksal. Im Faust II heißt es:

„Wenn starke Geisteskraft Die Elemente

An sich herangerafft,

Kein Engel trennte

Geeinte Zwienatur

Der innigen beiden,

Die ewige Liebe nur

Vermags zu scheiden.“ (Zeile 11964-72)

Bei Goethe ist es ganz klar, dass die Dinge eine innige Verbindung miteinander eingehen, und dass diese innige Verbindung so stark ist, dass sie nicht so ohne weiteres zu scheiden ist. Es handelt sich hier um die Himmelfahrt des Faust im zweiten Teil, wo die Auflösung des physischen Körpers oder die Trennung des physischen Körpers von der geistigen Entelechie beschrieben wird.

Dazu sagt Goethe an einer anderen Stelle in Eckermanns Gesprächen:

„Die Hartnäckigkeit des Individuums und dass der Mensch abschüttelt, was ihm nicht gemäß ist, ist mir ein Beweis, dass so etwas existiere...“, nämlich eine Entelechie, ein solch geistiges Prinzip. Dass der Mensch also nur das an sich heranlassen will und aufnimmt, was ihm gemäß ist und dass er alles andere versucht abzuschütteln.

Goethe hat diese Ideen von Leibniz übernommen, der für Entelechie den Begriff der Monade hatte.

Hahnemann führte aus, wie er sich vorstellt, dass Heilung zustande kommt. Daran kann man auch seine Weltanschauung studieren, die sonst nur sehr pragmatisch ist.

In seinem Organon hat er im Wesentlichen pragmatische Dinge dargestellt und hat nur an bestimmten Stellen Einblick in seine Weltanschauung gegeben. In Band IV der chronischen Krankheiten steht im Vorwort ein Erklärungsversuch für die homöopathische Heilung:

Unleugbar ist es, dass unsere Lebenskraft ohne Zuthun wahrer Heilmittel menschlicher Kunst, selbst nicht die kleinen, schnell verlaufenden Krankheiten, (wenn sie ihm nicht gar unterliegt) besiegen und eine Art Gesundheit wieder herstellen kann, ohne einen Theil (oft einen großen Theil) der flüssigen und festen Theile des Organismus durch sogenannte Crisis aufzuopfern, wie ich anderswo gezeigt habe.

Wie sie dies eigentlich bewirkt, wird uns ewig unbekannt bleiben; soviel ist jedoch sicher, dass sie selbst diese nicht direkt, selbst diese nicht ohne solche Aufopferung besiegen kann. – Die chronischen, aus Miasmen entsprungenen vermag sie auch nicht mit solchen Verlusten allein zu heilen und wahre Gesundheit herzustellen....., es doch immer die Lebenskraft selbst ist, welche obsiegt, wie die Landes-Armee doch die Siegerin zu nennen ist, welche den Feind aus dem Lande treibt, obgleich nicht ohne Unterstützung ausländischer Hilfs-Truppen.

Die organische Lebenskraft unseres Körpers ist es, welche natürliche Krankheiten aller Art selbst direkt und ohne solche Aufopferung heilt, sobald sie durch die richtigen (homöopathischen) Arzneien in den Stand gesetzt wird, zu obsiegen, was freilich ohne die Hülfs-Macht, ohne diese Unterstützung nie vermochte; denn diese unsre organische Lebenskraft ist, allein genommen, nur hinreichend, das Leben in gutem Gange zu erhalten, solange der Mensch nicht durch die feindlichen Einwirkung krankmachender Potenzen krankhaft umgestimmt wird.

Diesen letzteren ist sie allein letztlich nicht gewachsen;.....

Nur die homöopathische Arznei kann diese Übermacht dem kranken Lebens-Prinzip verleihen.

Für sich selbst setzt dieses uns belebende Prinzip, als nur organische, bloß zur Erhaltung ungestörter Gesundheit bestimmte Lebenskraft dem anrückenden Krankheit-Feinde nur einen schwachen, dann dem wachsenden, sich verstärkenden Uebel einen größeren, aber dem feindlichen Eindringen immer (im besten Falle) nur gleichen, bei schwächlichen Kranken nicht einmal gleichen, oft nur schwächern Widerstand entgegen; – zu überwiegender, unschädlicher Gegenwehr ist sie nicht fähig, nicht berufen, nicht geschaffen.

Können wir Ärzte aber dieser instinktartigen Lebenskraft ihren Krankheitsfeind durch Einwirkungen homöopathischer Arzneien auf sie, gleichsam vergrößert -selbst nur um etwas jedesmal vergrößert vorhalten und entgegenstellen- und vergrößern wir auf diese Art für das Gefühl des Lebens-Prinzips, das Bild des Krankheits-Feindes durch täuschend ähnlich die ursprünglichen Krankheit nachbildende homöopathische Arzneien, so veranlassen und zwingen wir nach und nach diese instinktartige Lebenskraft, allmälig ihre Energie zu erhöhen und immer mehr und so weit zu erhöhen, dass sie endlich weit stärker, als die ursprüngliche Krankheit war, dass sie wieder Selbstherrscherin in ihrem Organismus werde, selbst wieder die Zügel der Gesundheits-Führung halten und fernerhin leiten kann, indes die Schein-Vergrößerung der Krankheit, durch die homöopathischen Arzneien erzeugt, von selbst verschwindet, sobald wir, beim Erblicken der hergestellten Übermacht der Lebenskraft, das ist, der hergestellten Gesundheit, aufhören, diese Mittel anzuwenden.“....

So sah Hahnemanns Vorstellung von der Wirksamkeit der homöopathischen Arznei aus: nach dem Prinzip:

„auf einen Schelmen anderthalbe“wird die Dynamis durch eine Täuschung wie im Singspiel Lila durch den täuschenden Schein des Spiels aus ihrer Selbstvergessenheit gerissen, „ermannt“ sich

(nicht weibisches Zagen wie im Singspiel Lila) und tritt dem Krankheitsfeind entschieden entgegen. Es wirkt wie Propaganda im Krieg, bei der die Gefahr, die durch den Feind droht, gewaltig übertrieben wird, um den Kampfeswillen der eigenen Truppen zu vergrößern.

Haben wir uns dann noch zu der Anschauung durchgerungen, Krankheit prinzipiell als Täuschung anzusehen (Sankaran), so wird hier Täuschung durch eine ähnliche Täuschung aufgehoben

(..... „durch täuschend ähnlich...nachbildende homöopathische Arzneien...).

Hahnemann sagte an einer anderen Stelle, dass diese homöopathische Behandlung dazu dienlich ist, den Organismus wieder heraufzustimmen. Also es hat vorher eine „Herabstimmung“ stattgefunden, und diese Herabstimmung bedeutet Krankheit.

Für Hahnemann ist es wichtig, dass die Krankheitserscheinungen selbst die Gesamtheit der Krankheit darstellen. Das sagt er im §15 Organon:

Das Leiden der krankhaft verstimmten, geistartigen, unsern Körper belebenden Dynamis (Lebenskraft) im unsichtbaren Innern und der Inbegriff der von ihr im Organism veranstalteten, äußerlich wahrnehmbaren, das vorhandene Uebel darstellenden Symptome, bilden nämlich ein Ganzes, sind Eins und Dasselbe. Wohl ist der Organism materielles Werkzeug zum Leben, aber ohne Belebung von der instinktartig fühlenden und ordnenden Dynamis so wenig denkbar, als Lebenskraft ohne Organism; folglich machen beide eine Einheit aus, obgleich wir in Gedanken diese Einheit, der leichtern Begreiflichkeit wegen in zwei Begriffe spalten.“

Hahnemann sagt ganz deutlich, dass die belebende Dynamis eine Einheit mit dem Organismus bildet, dass nicht eines auf das andere wirkt, dass nicht eines die Ursache von dem anderen ist, sondern dass der belebte Organismus eine Offenbarung als Dynamis bezeichneten Lebensprinzips ist.

Goethe sagt:

Müsset im Naturbetrachten

Immer eins wie alles achten.

Nichts ist drinnen, nichts ist draußen,

Denn was innen das ist außen.

So ergreifet ohne Säumnis

Heilig öffentlich Geheimnis.“

1) siehe Artikel: Goethe als homöopathischer Psychotherapeut.

1790, DAS JAHR DER (R)EVOLUTIONEN

Das Jahr 1790 ist in Erinnerung als Datum der französischen Revolution. In dieser Zeit hat ein großer Umbruch in der Welt stattgefunden, äußerlich wie innerlich. Bei Goethe und Hahnemann sind die wichtigsten der von ihnen gefundenen Gesetze fast zur gleichen Zeit entdeckt worden: von Goethe das Gesetz der Metamorphose als Bildungsprinzip der organischen Welt und von Hahnemann das Ähnlichkeitsgesetz als Heilungsprinzip schlechthin. Dabei geht es nicht um die erstmalige Anwendung dieser Gesetzlichkeiten in der Lebenswirklichkeit, sondern um ihre Entdeckung als Gesetze.

Ich beende meinen Vortrag am Vorabend von Goethes 250. Geburtstag mit einem Gedicht von ihm mit dem Titel „Allerdings“

In diesem Gedicht, welches er „Dem Physiker“ widmet, greift er die Anschauung an, dass der Mensch das Wesentliche nicht wahrnehmen kann. Er greift ein Lehrgedicht des Physikers Albrecht von Haller auf, das er in sein Gedicht einbaut (in Anführungszeichen!), und gleichzeitig widerspricht er der darin geäußerten Meinung und bezeichnet den Autor als einen Philister:

„Ins Innere der Natur“, –

Oh du Philister!

„Dringt kein erschaffener Geist.“

Mich und Geschwister

Mögt ihr an solches Wort

Nur nicht erinnern.

Wir denken: Ort für Ort

Sind wir im Inneren.

„Glückselig wem sie nur

Die äußere Schale weist!“

Das hör ich sechzig Jahre wiederholen

Ich fluche drauf, aber verstohlen;

Sage mir tausend tausendmale:

Alles gibt sie reichlich und gern;

Natur hat weder Kern

Noch Schale,

Alles ist sie mit einem Male.

Dich prüfe du allermeist,

Ob du Kern oder Schale seist.

 

Goethe als homöopathischer Heilkünstler

[Dr. med. Gerhardus Lang]

Es ist zu wenig bekannt, wie weit Goethe sich Hahnemann annähert beim Verständnis von Krankheit. Nicht nur hierbei, sondern auch in der Praxis verwendet er eine Technik, die Hahnemann ausdrücklich für möglich hält und von deren Wirksamkeit er durch Erfahrung überzeugt ist.

Hahnemann schaute nur auf die Aufgabe des Arztes, nämlich kranke Menschen gesund zu machen.

Er fragte sich lediglich: Wie kommen Krankheiten zustande? Seine Antwort: Durch eine Verstimmung der Dynamis, in welcher Beziehung auch immer, und: Wie kann ich Mittel finden, um diese Verstimmung wieder aufzuheben. Das ist Hahnemanns einziges Thema. Er ist ein Mensch, der tätig sein will und der versucht, diese seine Tätigkeit zu begründen. Das ist sein ganzes Bestreben. Dabei ist ihm durchaus bewusst, dass es nicht nur Heilmittel aus heilkräftigen Substanzen sein müssen, sondern dass auch die Einbildungskraft selbst in der Lage ist, das Lebensprinzip zu verstimmen. Das sagt er in der Fußnote zum § 17, Organon der Heilkunst:

„Sowie auch die höchste Krankheit durch hinreichende Verstimmung des Lebensprinzips mittels der Einbildungskraft zuwege gebracht und so auf gleiche Art wieder hinweg genommen werden kann. (Hervorhebung vom Verfasser) Ein ahnungsartiger Traum, eine abergläubische Einbildung oder eine feierliche Schicksals-Prophezeiung des, an einem gewissen Tage oder zu einer gewissen Stunde unfehlbar zu erwartenden Todes, brachte nicht selten alle Zeichen entstehender und zunehmender Krankheit des herannahenden Todes und den Tod selbst zur angedeuteten Stunde zuwege, welches ohne gleichzeitige Bewirkung der (dem von aussen wahrnehmbaren Zustande entsprechenden) inneren Veränderung nicht möglich war; daher wurden in solchen Fällen, aus gleicher Ursache, durch eine künstliche Täuschung oder Gegenüberredung nicht selten wiederum alle den nahen Tod ankündigenden Krankheitsmerkmale verscheucht und plötzlich Gesundheit wieder hergestellt, welches ohne Wegnahme der todbereitenden, innern und äußern krankhaften Veränderungen mittels bloß moralischen Heilmittel nicht möglich gewesen wäre."

Er erkannte also, dass es von vornherein nicht unbedingt Medikamente sein müssen, die gegeben werden müssen, sondern der Mensch selber hat die Möglichkeit, sich etwas so einzubilden im wahrsten Sinne des Wortes, sich selbst zur Vorstellung zu werden, dass er dann an der Wirkung dieser Vorstellung wirklich stirbt. Also seelische Heilmittel ließ Hahnemann auch durchaus gelten, wobei er offen ließ, ob das Ähnlichkeitsprinzip selbst eine Rolle spielen kann. Eigentlich war er einer psychotherapeutischen Behandlung gegenüber offen. Aber es war nicht sein Anliegen. Er baute auf Heilmittel, die er aus der Natur gewinnen konnte.

Für Goethe spielt das Ähnlichkeitsprinzip in der moralisch-therapeutischen Anwendung auch eine Rolle. Wie er überhaupt in der Theaterdichtung die alte Tradition der Griechen aufnimmt, durch Beispiele bei den Menschen eine innere Wandlung, das heißt Heilung, anzuregen.

Zum Ähnlichkeitsprinzip als therapeutischem Mittel greift Goethe im Singspiel Lila:

Goethe fühlte sich als moralischer Leibarzt des herzoglichen Paares. Es hatte zwischen Karl August und der Herzogin Luise eheliche Verstimmungen gegeben. Diese Verstimmungen rührten daher, dass der junge, lebenslustige Herzog ein wildes Leben führte, welches mit Seitensprüngen verbunden war. Dem konnte seine Frau Luise nicht folgen, sie versank in Depressionen und wurde schwermütig. Goethe fühlte sich veranlasst, hier etwas zu tun. Kurt May sagte dazu Folgendes:

..."Die kleine, freie Dichtung ist dem Wunsch Goethes entsprungen als Verehrer, Freund und moralischer Leibarzt des herzoglichen Paares, die ehelichen Verstimmungen zwischen Karl-August und Luise zu mildern und zu heilen. Die zarte Gefühligkeit der Herzogin und die derbe übermäßige Lebenslust und Kraft des jugendlichen Herzogs hinderten ein harmonisches Zusammenleben. Durch diese Spannung der Gegensätze ist Luise, die äußerlich kalt erschien, schwermütig geworden. Der Seelenarzt in diesem dramatischen Spiel macht sein Meisterstück nach dem Motto: Phantasie soll man durch Phantasie kurieren. Lila in ihrer krankhaften Ängstlichkeit wähnt, der Gatte sei gefangen worden durch den Zauberer Oger und seine Dämonen. So wird ihr von der Hofgesellschaft unter Leitung des Magus diese Geisterwelt vorgespielt. Sie selbst wird hineingezogen in diesen Kreis und findet sich plötzlich in seinem Bann - aber nur, damit sie sich aus diesem gesunkenen Zustand wieder erhebe, aus Träumen und Phantasien in die Wirklichkeit erwachend zurückkehre, vor die Frage gestellt, wie sie den Dämonen entgehe, wie sie den Gatten und sich selbst mit ihm wieder befreie.

Feiger Gedanken

Bängliches Schwanken,

Weibisches Zagen,

Ängstliches Klagen

Wendet kein Elend,

Macht dich nicht frei.

Allen Gewalten

Zum Trutz sich erhalten,

Nimmer sich beugen,

Kräftig sich zeigen

Rufet die Arme

Der Götter herbei.

Die Macht dieses Liedes ruft sie aus ihrer Verirrung zurück auf den Weg zur Tat, befreit sie von der Lebensangst. Der weise Seelenarzt aber verkündet die schlichte aber bedeutsame Lehre:' Der Mensch hilft sich selbst am Besten. Er muss wandeln, sein Glück zu suchen, er muss zugreifen, es zu fassen; günstige Götter können leiten, segnen.... Gehe vorwärts und du erlangst deinen Wunsch.'

Ein interessantes Stück, wo das homöopathische Prinzip in Form eines Schauspiels verwendet wird: Phantasie durch Phantasie zu heilen. Es heißt da, alle Kuren haben nicht anschlagen wollen.

Lucie sagt: „Und es kommt alle Tage ein neuer Zahnbrecher, der unsere Hoffnungen und Wünsche missbraucht." Die ganze Krankheit ist ausgebrochen durch die falsche Nachricht vom Tod des Mannes.

Symptome: Folgen von schlechten Nachrichten. Großes Misstrauen herrscht bei ihr über das, was geschehen ist. Folgen von Schreck. Furcht vor jedem in der Umgebung. Glaubt, der Mann sei ein Gespenst.

Zorn durch Behandlung. Flucht in den Wald. Versteckt sich. Furcht vor Gespenstern. Wenn man dieses jetzt homöopathisch aufarbeitet, kommt man vielleicht auf Hyoscyamus.

Veratio, der Arzt sagt: 'Wenn wir Phantasie durch Phantasie kurieren könnten, so hätten wir ein Meisterstück gemacht.' 'Lassen Sie uns der gnädigen Frau die Geschichte ihrer Phantasien spielen.' ...

Der Patientin sollen ihre eigenen Phantasien vorgespielt werden, um ihre Krankheit zu überwinden, wobei sie selbst eine Rolle im Spiel übernimmt. Veratio: 'Zuletzt wird dann Phantasie und Wirklichkeit zusammentreffen'.

Es gibt einen weiteren bemerkenswerten Satz, in dem der Heilungsverlauf nach der „Gabe" des Heilmittels geschildert wird. Es sieht zunächst so aus, als ob die zu Heilende Lila (das ist die Kranke) nach anfänglicher, deutlicher Besserung wieder in ihren alten Zustand zurückfällt, als ob die „Kur" doch vergeblich sei.

Magus (= Veratio):'.... Diese Rückfälle müssen uns nicht erschrecken. Jede Natur, die sich aus einem gesunkenen Zustand erheben will, muss oft wieder nachlassen, um sich von der neuen, ungewohnten Anstrengung zu erholen.... Wir müssen nicht verzagen, wir haben mehr solcher Szenen zu erwarten.' Er schildert, wie sie am Anfang eine gewisse Besserung erfährt und dann wieder zurückfällt - aber es ist nicht mehr so schlimm wie vorher-, um ein gewisses Ausruhen zu haben vor dem erneuten Anlauf zu weiterer Genesung.

Das finden wir ähnlich beschrieben bei dem indischen Homöopathen Sehgal, der sagt, dass nach anfänglicher Besserung die Symptome wiederkehren werden, aber jedes mal etwas abgeschwächt, wenn das Mittel gut gewählt war. Er begründet diese Erscheinung mit einer Erholungsphase des Organismus, die er bei der für die Heilung erforderlichen Anstrengung einlegen muss.

Oder folgender Satz:' auch der Himmel führt oft Unglückliche zusammen, dass beider Elend gehoben werde'. Er entspricht der allgemeinen Erfahrung, dass ein Unglücklicher nur dadurch Trost findet, wenn ihm ähnliche Probleme anderer vorgestellt werden. Lustige Geschichten als Ablenkung gedacht, haben meist keine positive Wirkung, und wenn, eine nur kurze, oberflächliche.

Wir finden in diesem Singspiel Lila wichtige Stadien der Krankheit, die der Heilung zustrebt, dargestellt, ist erst einmal das Mittel gefunden, nämlich hier die ähnliche Krankheit, im Spiel dargestellt von Außenstehenden, die jedoch die Patientin durch ihr Mitspiel in der Hauptrolle mit einbeziehen. Im Zusammentreffen von Phantasie und Wirklichkeit - Krankheit und („arzneilicher") Schauspiel-Kunstkrankheit - wird der Patient aus seinen falschen Sicht der Wirklichkeit wieder in die ungeteilte Sicht derselben, die auch als Wahrheit (der Arzt heißt Veratio = der die Wahrheit – Wirklichkeit vermittelnde) bezeichnet werden kann, und damit in die Gesundheit geführt.

Es lässt sich an diesem Beispiel gut darstellen, wie Goethe intuitiv das Generelle des Heilungsverlaufes erfasste, den wir in der Homöopathie aus der Erfahrung kennen, und wie ihn erstmals Sehgal aus Indien in aller Deutlichkeit zur Darstellung gebracht hat: Das Wichtigste ist die krankhafte Veränderung des Geist - Gemützustandes, die uns zu einer eindeutigen Mittelwahl führt.

Fussnote( §211 Organon der Heilkunst: Dieß geht so weit, daß bei homöopathischer Wahl eines Heilmittels, der Gemüthszustand des Kranken oft am meisten den Ausschlag giebt, als Zeichen von bestimmter

Eigenheit, welches dem genau beobachtenden Arzte unter allen am wenigsten verborgen bleiben kann.)

Der Arzt heißt Veratio, abgeleitet von Veritas. Veritas ist die Wahrheit, die Realität im Gegensatz zur Täuschung, zur Delusion, zur Wahnidee, wie es im Repertorium heißt. Delusion kommt von deludere, d.h. ich treibe mein Spiel mit jemandem, ein missbräuchliches Spiel. Von dem Wort „deludere" kommt auch das Wort „Luder", wenn jemand mit jemandem anderen ein übles Spiel treibt. Unter Luder wird im Allgemeinen ein weibliches Wesen gesehen, aber das können genauso gut Männer sein. Ist ja auch ein Neutrum, das Luder.

Es wird uns Homöopathen von den „kritischen" Mediziner-Kollegen immer wieder vorgeworfen, dass wir nur den Placebo-Effekt benutzen würden, mit dem wir unsere Schein-Heilungen erzielen. Bis zu einem gewissen Grad haben sie natürlich Recht. Denn wir benutzen ein künstliche Verstimmung der Dynamis in Form der Kunstkrankheit, um der Dynamis, dem waltenden Lebensprinzip, etwas vorzutäuschen, sie abzulenken von ihrer Verstimmung, in die sie durch das krank machen Agens geraten war. Sie beschäftigt sich dann mit der Kunstkrankheit und „vergisst" die ursprüngliche Verstimmung. Die Kunstkrankheit endet mit der Mittelwirkung meist sehr rasch und macht der wieder hergestellten Gesundheit Platz. Nun kann das Spielchen mit dem Krankwerden erneut beginnen, denn der Mensch ist ja mit dem einmal Erreichten nie zufrieden. Das ist auch gut so, denn jede Entwicklung ist nur möglich durch das Absterben des Vergangenen, gemäß dem Postulat von Goethe:

Und wenn du das nicht hast,

Dieses Stirb und Werde,

Bist Du nur ein trüber Gast

Auf der dunklen Erde.

 

 

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