Miasmen Illusion     

 

[Roland Methner]

In den letzten 20 Jahren hat es innerhalb der Homöopathie einen erstaunlichen Meinungswandel bezüglich der Miasmen gegeben. Waren vorher "Miasmatiker" eher unverstandene Exoten, so ist es heute genau umgekehrt: Die deutliche Mehrheit der Kollegen berücksichtigt, mehr oder weniger regelmäßig, Miasmen in ihrer Fallanalyse. Es ist sogar so, dass man heute in der Regel auf Unverständnis stößt, wenn man behauptet, dass

man grundsätzlich nicht miasmatisch arbeitet.

Die Versprechungen und Verheißungen miasmatisch orientierter Homöopathen klingen oft derart beeindruckend, dass man sich diesem Trend scheinbar nur schwer entziehen kann.

Macht man sich dann aber motiviert an das Studium der Miasmen, wird es allerdings schwierig. Man versteht vieles nicht, man entdeckt Widersprüche und Unklarheiten und man sieht viele verschiedene sich widersprechende Arten von Miasmenlehren mit der Folge, dass man zunehmend Zeit und Energie in das Verstehen dieses undurchdringlichen Dschungels steckt.

Verstärkt wird das „Problem Miasmenlehre“ noch durch die völlig unklare Quellenlage

Der australische Kollege George Dimitriadis formuliert es folgendermaßen:

„Ich war immer sehr beunruhigt, wenn ich Kollegen zuhörte, die über Miasmen und ihre klinische Bedeutung sprachen, weil es dabei zu viele unüberprüfbare Annahmen gab, die ohne viel Nachdenken oder Nachprüfen von Lehrern an die empfänglichen Schüler weitergegeben wurden

- man konnte den zahllosen Meinungen aus den unterschiedlichsten Quellen nur glauben oder nicht glauben. Es gab keinerlei Bezug auf Originalquellen, keine Fakten. Wenn Lehrer der verschiedenen Richtungen der ‚Miasmentheorie’ genauer nach den Quellen ihrer Aussagen befragt wurden, konnten sie in der Regel keine Antwort geben und mussten meist zugeben, dass sie den alten ’Autoritäten’ auf diesem Gebiet blind vertraut hatten. Als ich dann die Schriften dieser Autoritäten las, konnte ich auch dort keine echten Quellen oder konkrete Tatsachen entdecken.“

Spricht man diese "Autoritäten" auf die vielen Widersprüche innerhalb der Miasmenszene an, bekommt man oft die Antwort, dass "die anderen" eben die Miasmen (noch) nicht richtig verstanden haben, dass sie Hahnemann falsch oder einseitig interpretiert hätten oder dass sich eben ihre eigene Miasmeninterpretation in der Praxis "bewährt" habe. Damit ist man aber weder insgesamt in der Diskussion, noch in seiner persönlichen Wahl der "richtigen" Miasmenvariante weitergekommen (außer man glaubt dem Lehrer einfach blind).

Forschung innerhalb der Miasmenlehren

Wie kommt man denn nun in dieser vertrackten Miasmendiskussion weiter? Wo liegt die „Wahrheit“ zwischen den Extremen

Welche der vielen verschiedenen miasmatischen Richtungen hat denn nun Recht, welcher sollte man folgen?

J.H. Allen: „Tatsache ist, dass wir das allerähnlichste Mittel nicht auswählen können, wenn wir die Phänomene der wirkenden und zugrunde liegenden Miasmen nicht kennen.“ (1, S. 3)

C. Hering: „Was macht es aus, ob ein Arzt die Psoratheorie annimmt oder verwirft, solange er immer das allerähnlichste Mittel auswählt.“ (1, S. 3)

 

Strategien zur Lösung

Als Strategien zur Lösung des „Miasmenproblems“ fielen mir drei Wege ein:

1. Man analysiert das Miasmenverständnis jeder einzelnen Miasmenrichtung:

Sofern es mehrere sich voneinander unterscheidende Miasmenmodelle gibt und genau das ist ja das aktuelle Problem, gilt es herauszuarbeiten, was für jede Miasmenrichtung spezifisch ist und worin sie sich von den anderen Richtungen unterscheidet. Das sollte unter Berücksichtigung des

Historischen und medizinischen Kontexts geschehen (daher gibt es in dem Buch diverse Exkurse zu den entsprechenden Infektionskrankheiten wie Krätze, Tuberkulose, Syphilis, Gonorrhoe etc. und ein gesondertes Kapitel zur genauen Differenzierung von Warzen), denn wir werden sehen, dass alleine hier schon (z.B. durch fehlendes medizinisches Wissen) diversen Miasmatikern Fehler unterlaufen sind. Durch das Studium aller miasmatischer Richtungen versteht man zunehmend, dass die Mehrheit der verschiedenen Miasmenrichtungen -wenn auch sprachlich modifiziert- im Wesentlichen auf Hahnemanns, Kents und J.H. Allens Gedanken bzw. Miasmenmodellen beruhen. Daher widmete ich diesen drei "Miasmatikern" besonders viel Raum.

2. Nach der Analyse aller Miasmenrichtungen vergleicht man alle Aussagen und schaut, ob es überhaupt gemeinsame Grundlagen gibt, ob es gar

miasmatische Informationen gibt, über die sich (fast) alle einig sind -denn diese könnten ja für den an den Widersprüchen verzweifelnden Miasmen-

Lernenden hilfreiche Fixpunkte sein. Hierfür habe ich die wesentlichen Aussagen und miasmatischen Zuordnungen (sowohl von 175 Erkrankungen/ Zeichen als auch von über 200 Mitteln) in Tabellen geordnet. Eventuell gibt es aber gar keine Gemeinsamkeiten, hat also jeder sein eigenes Miasmen

-Weltbild? Und wenn das so wäre, wie kann das sein, dass jeder die Realität "Krankheit" so verschieden interpretiert?

3. Man versucht, die miasmatischen Informationen der verschiedenen Autoren anhand seiner eigenen Praxis zu verifizieren.

Wir haben ja bisher immer nur die Begeisterung des einzelnen Miasmatikers über "seine" Theorie und dann entsprechende Einzelfälle, die sein

Konzept belegen sollen. Wenn Miasmen existieren, also eine energetische bzw. pathologische Realität sind, dann sollten sie auch in einer Untersuchung an einem etwas größeren Patientenklientel -auch für den noch nicht entsprechend "geschulten" Beobachter- sichtbar werden. Anhand der Patientendaten von 400 Erwachsenen aus meiner Praxis habe ich versucht, mit statistischen Werkzeugen über 60 "typische" bzw. konsensfähige miasmatische Parameter genauer zu untersuchen. Ich muss allerdings einschränken, das sich dies v.a. bezogen auf die "klassischen" Miasmenrichtungen (Hahnemann, Kent, J.H. Allen, Burnett, Risch/Laborde, u.a.) machen musste, da nur diese von feststehenden Krankheits-Entitäten bzw. miasmatischen Zuordnungen ausgehen.

Eine statistische Verifizierung "moderner" oder "dynamischer" Miasmenideen - welche sich ja schon konzeptionell radikal von den traditionellen Miasmenschulen unterscheiden - ist leider aus grundsätzlichen Überlegungen gar nicht möglich, können also weiterhin lediglich mit "gutem

Glauben" bewertet werden.

Das Thema Miasmen ist sicher das schwierigste und komplizierteste Thema in der gesamten Homöopathieausbildung. Viele kluge Homöopathen haben sich zu allen Zeiten und in verschiedenen Teilen der Welt die Köpfe darüber zerbrochen und es gibt die verschiedensten Interpretationen und Sichtweisen. Wenn man alle wichtigen Werke zum Thema Miasmen studiert, ist es allerdings interessant zu sehen, wie sehr sie aufeinander aufbauen, wie manchmal die "modernen" Strömungen lediglich Variation en der alten Werke sind. Das beleuchtet dann eines der Probleme in der modernen Homöopathie: das fehlende Studium, das fehlende Verständnis und die zu geringe Wertschätzung der alten Meister.

 

Analyse und Vergleich von 143 verschiedenen Miasmenströmungen

Untersucht habe ich sowohl die "klassischen" Miasmenrichtungen (Hahnemann, Kent, J.H. Allen, Burnett, Patel, Banerjea, Risch/Laborde, Jus), als auch "moderne" Miasmenkonzepte (Ortega, Vijayakar, Gienow, Sankaran, Klein). Die Ergebnisse hieraus versuche ich nun - so gut es in einem Artikel geht -

zusammenfassen:

Jedes einzelne dieser 14 Miasmenkonzepte unterscheidet sich fundamental von den anderen Richtungen. Oft sogar so radikal bzw. antagonistisch, dass man von Paradigmenwechseln sprechen sollte.

Hahnemann und Kent:

Für Hahnemann waren Miasmen Infektionserkrankungen mit einer Ansteckung als Ursache; Kent veränderte dieses Konzept -unter dem Einfluss von

Swedenborgs Ideen- zu einer religiös-moralischen Ideologie mit der Ursünde als Ursache.

War für Hahnemann die Psora noch die Mutter aller nicht venerischen Erkrankungen, so machte Kent sie zur Urkrankheit für alle Erkrankungen.

J.H. Allen war als Schüler Kents noch religiös -dogmatischer als sein Lehrer (man studiere seine Bücher). Entsprechend übernahm er auch Kents strikte Hierarchie mit einer Dominanz der Geistes- und Gemütssymptome (und einer weitgehenden Missachtung der Pathologie). Laborde preist Allen zwar als "größten Homöopathiker seit Dr. S. Hahnemann" und übernimmt in sein Miasmenmodell viele seiner Ideen und miasmatischen Zuordnungen, blendet jedoch den Swedenborg-Kent ́schen Hintergrund seiner Ideologie völlig aus und verdreht Allens Hierarchie in ihr Gegenteil; nun mit der Pathologie/dem

Miasma an der Spitze und den Geistes- und Gemütssymptomen am Schluss.

Hahnemann und Ortega:

Für Hahnemann waren Miasmen Krankheiten, die den Menschen gar nicht, einzeln oder in Kombination infizieren konnten. Für Ortega waren Miasmen

-in Variation zu Kents-existenzielle Seinszustände, die alle Menschen und immer in (dreifacher) Kombination betrafen.

Ortega und Sankaran: Versuchte Ortega noch, Hahnemanns drei Miasmen zu übernehmen, so löste Sankaran diese Beschränkung auf und vermehrte die Zahl der möglichen Miasmen auf zehn. Die konsequente weitere (zahlenmäßige) Auflösung betreibt aktuell Klein mit dem Konzept "Jede

Infektionserkrankung ist ihr eigenes Miasma".

Diese Modifizierungen wurden i.d.R. aber von den Autoren gar nicht klar formuliert, im Gegenteil, sie schienen unter dem Deckmäntelchen der "Weiterentwicklung" und "Anknüpfung an Hahnemanns Miasmenlehre" mehr den Eindruck von Kontinuität und Einheitlichkeit erwecken zu wollen, als ehrlich einen Bruch mit Hahnemanns Homöopathie zu gestehen. Dass daraus (Verwendung der gleichen Ausdrucksweise: Miasmen, Sykose,

Ansteckung, aktives Miasma etc.) bei gleichzeitiger Veränderung der Bedeutung von Worten, Verwirrung folgen muss, ist leicht einsehbar.

Mehrere Miasmatiker bauten ihre Konzepte auf medizinischen Irrtümern und falschen Analogien auf:

Viele Bücher über Miasmen sind nur lauwarme Aufgüsse bereits formulierter Konzepte und Ideen.

Daher beschränkt sich meine Analyse auf "nur" 14 relevante Miasmenkonzepte.

Dass bereits Hahnemann sein Miasmenmodell auf falschen Annahmen aufbaut, überrascht nicht, wenn man bedenkt, wie wenig er und seine Zeitgenossen über die medizinischen Hintergründe von Infektionserkrankungen wussten. Dass auch J.H. Allen bei der Tuberkulose noch medizinische Irrtümer

unterlaufen, ist ebenfalls erklärlich, da man selbst zum Ende des 19. Jahrhunderts in der medizinischen Welt die infektiöse Übertragung der Tuberkulose noch nicht wahrhaben wollte und daher die Idee einer "hereditären Tuberkulose" noch Standard war. Für mich (heute!) ist hingegen unverständlich, dass

Laborde immer noch diverse Irrtümer wiederholt und auch Gienow mit seiner "Skrophulose" ein längst überholtes Missverständnis mystifiziert.

Auch das Konzept eines "kanzerinischen" Miasmas ist eine nette Idee, aber faktisch falsch.

Es erfolgte in den meisten miamatischen Werken in der Regel keine schlüssige und nachvollziehbare Herleitung der jeweiligen Miasmentheorie, noch eine klare Beschreibung, nach welchen Kriterien miasmatische Zuordnungen zu Mitteln und Krankheiten/Zeichen getroffen wurden. Viele Miasmatiker benutzen monokausale Denkmodelle oder wertlose Kreisargumentationen.

Keine einzige der 14 Miasmenrichtungen basiert auf einem plausiblen, in sich stimmigen theoretischen Konzept, statt dessen sind sie eine Mischung aus

medizinischen Fakten, willkürlich zusammengestellten Praxis -Beobachtungen, weitgehenden Analogien, eigenen philosophischen Elementen und einer großen Portion gutem Glauben.

Es war für mich geradezu erschreckend, zu sehen, wie dünn und widersprüchlich die Argumentation häufig geführt wird. Und dies konnte ich -peinlich genug für unseren Berufsstand- erkennen, nicht, weil ich besonders geschult in wissenschaftlichem Denken bin, sondern schlicht dadurch, dass ich die gesamte diesbezügliche Literatur studiert habe.

Fussnoten:

Z.B. bezüglich der Krätze, der Psora, der Syphilis, der Lokalübel und seiner Unterdrückungs-Hypothese und der Dynamik von Infektionserkrankungen. Überdies kann ich -mit etwas Hintergrundwissen über Medizingeschichte- deutlich zeigen, dass etliche der Ideen über die Miasmen bzw. die Psora gar nicht von Hahnemann selbst stammen, sondern dem damaligen Zeitgeist entspringen.

Z.B. "Tuberkulinie" als Kombination aus Psora und Syphilis, als hereditäre erregerlose Erkrankungsdynamik; Skrophulose.

Z.B. seine Informationen über "syphilitische Stigmata", seine Hypothese einer "sykotischen Tuberkulinie", die Behauptung es gebe "(Krebs-)Stellvertreter

-Krankheiten", seine Thesen über die miasmatische Bedeutung von Kinderkrankheiten, die Behauptung Krebs und Tuberkulose würde häufig in der Familienvorgeschichte miteinander abwechseln, u.a.

Bei dem Begriff "Skrophulose" wurden früher (aus Mangel an Wissen) völlig verschiedene Erkrankungen miteinander vermischt. Im Kern ist das Erkrankungsbild eine Halslymphknotentuberkulose, also eine sehr milde und durch rohe Milch (daher seit den 1960er Jahren ausgerottete) übertragene Form der Tuberkulose.

Krebs ist weder eine "primär hereditäre" Erkrankung, noch unbedingt eine Mischung aus allen Miasmen; auch Labordes Behauptungen zu "Stellvertreter

-Erkrankungen" sind medizinisch falsch und werden von mir (anhand von 400 Patientenchronologien) klar widerlegt.

Z.B. Hahnemann mit der Psora: Eine von Hahnemanns Thesen besagt, dass den meisten chronischen Erkrankungen ein unterdrückter krätzeähnlicher Hautausschlag voranging, was für ihn die Ursache des Krankwerdens ist. Nun dient als Beleg dieses Zusammenhanges bei ihm nicht nur der "geständige" Krätzausschlag (so zweifelhaft das ja bereits als Beleg ist; siehe seine 97 Fälle dazu),

sondern es gelten für ihn auch die Fälle, wo der Patient sich

nicht mehr daran erinnern kann

Und er gesteht sogar ein, dass die gleichen nachteiligen Folgen auftreten können, wenn der Krätzausschlag " von selber" verschwindet (9, S. 121).

 

Vergleich von 175 miasmatischen Parametern und 200 Mittelzuordnungen ergeben eine nicht einheitliche Zuordnung durch hiernach aufgelistete Homöopathen:

Hahnemann

Roberts

J.H. Allen

Patel

Laborde

Ortega

Banerjea

Jus

Vijayakar

Gienow

Meistens werden sehr unterschiedliche und oft sich widersprechende Zuordnungen vorgenommen, was bei der Uneinheitlichkeit der theoretischen Grundlagen nicht verwundert. So sind z.B. Exostosen für die "klassischen" Miasmatiker syphilitisch, weil Hahnemann, J.H. Allen und andere Klassiker dies so schreiben und weil das Thema Knochen eben per se syphilitisch sein soll. Für "moderne" Miasmatiker ist jede

Wucherung/Hyperthrophie sykotisch und daher auch Exostosen sykotisch.

 

Vergleich der miasmatischen Zuordnungen von 200 Mitteln (= Ausschnitt) Mittel

Hahnemann

Kent

J.H.Allen

Laborde

Patel

Jus

Banerjea

Gienow

Fazit aus diesem Vergleich Bei den miasmatischen Mittelzuordnungen ist die Variationsbreite, die Widersprüchlichkeit, die Unklarheit, warum ein Autor wie zugeordnet hat und hiermit letztlich die Beliebigkeit noch viel ausgeprägter, als bei den ersten Zuordnungen der Miasmen.

 

1. Wie ist das möglich?

Wie lässt sich das verstehen, dass 14 (und mehr) Miasmatiker über das gleiche Thema sprechen und zu solch unterschiedlichen, ja völlig widersprüchlichen Ergebnissen kommen? Gibt es überhaupt "die" Miasmen oder bastelt sich nicht jeder seine eigene Miasmenlehre? Diese und weitere grundlegende Fragen würden den Umfang dieses Es gibt moderne Miasmenrichtungen, für die gerade die Variabilität der Parameter konzeptionell wichtig ist. Z.B. ob eine Pathologie einem Mangel bzw. einer beginnenden Entzündung (Psora), einer Hypertrophie (Sykose) oder einer Destruktion (Syphilis) entspricht.

Diese scheinbar sinnvolle Differenzierung vermehrt allerdings aus meiner Sicht die Beliebigkeit miasmatischer Diagnosen und löst nicht die Grundprobleme der Miasmentheorie.

Artikels allerdings sprengen. Nur soviel: Es gibt in der Medizin bzw. den Naturwissenschaften sehr wohl das Phänomen von "Parallel-Welten". Und es ist entscheidend, dass diese Welten nicht miteinander vermischt werden, sondern streng die Prämissen jeder Welt beachtet und eingehalten werden. D.h. jeder Versuch, sich aus den verschiedenen Miasmenrichtungen einfach "das Beste" herauszupicken, führt zwangsläufig zu sinnlosen Ergebnissen.

 

Analyse von 400 eigenen Patientendaten

Der interessanteste und vom Ergebnis völlig offene Teil meiner Forschungen war nun, die "typischen" konsensfähigen miasmatischen Parameter einem Praxistest mit statistischen Methoden zu unterziehen. Ich versuchte also bewusst eine andere Ebene, als die sattsam

bekannte subjektive Glaubensebene "Ich sehe meine Miasmenlehre täglich und mit großem Erfolg bestätigt, daher ist sie richtig, wahr und die Beste".

Das war ein zeitaufwändiges, aber aufregendes Projekt, denn es hatte bis heute ja noch nie eine methodenunabhängige Untersuchung der Miasmen gegeben.

Da ich seit Anbeginn meiner Praxistätigkeit, also seit über 20 Jahren, alle Anamnesen "miasmatisch" führte (d.h. in 2,5 - 4 Stunden Anamnesezeit sehr genau die Vorgeschichte aller Patienten untersuchte auf eigene Erkrankungen und Erkrankungen der Familie hin), besaß ich einen hervorragenden Informationspool, den ich für eine Untersuchung nutzen konnte. Eine Untersuchung aller meiner 2000 Patientendaten neben meiner Praxis- und Ausbildungstätigkeit, Supervision und Familie war unrealistisch - deshalb wählte ich zufällig 400 Erwachsene aus und gab etwa 100 "typische" miasmatische Parameter aus deren Vorgeschichte in ein Computerprogramm ein.

Mit dieser Datei konnte ich nun diversen möglichen Fragestellungen nachgehen:

Lassen sich alle oder nur bestimmte oder keine miasmatische Informationen bestätigen?

Lässt sich gar (ähnlich wie im Repertorium mit den Wertigkeiten von 1 - 3) eine qualitative Rangfolge der Wichtig-/Häufigkeit miasmatischer Informationen herausarbeiten?

Zeigen sich alle Miasmen gleich deutlich oder treten heute nur noch einzelne Miasmen auf?

Lässt sich die Überlegenheit oder Richtigkeit/Falschheit von einzelnen Miasmenrichtungen zeigen?

Der Philosoph und Naturwissenschaftler Prof. Fasching formuliert es folgendermaßen: Wenn man das erste mal davon hört, dass es mehrere Wirklichkeiten gibt, dann sagt sich vielleicht der eine oder andere, dass es dann doch auch zulässig sein müsste, sich nach eigenem Gutdünken aus diesen Wirklichkeiten die schönsten Details herauszusuchen, um sich auf diese Weise eine private Misch-Wirklichkeit zusammenzuzimmern. Es klingt im ersten Moment verständlich und vielleicht auch attraktiv, dass man sich gleichsam die Rosinen aus verschiedenen Kuchen herausnimmt. Abgesehen davon, dass sich so etwas nicht gehört, versteht man sofort, dass das auch beim

Wirklichkeitspluralismus unzulässig ist. Denn unterschiedliche Wirklichkeiten kommen durch unterschiedliche Verknüpfungsinstrumente zustande.

Das bedeutet, dass eine solche Wirklichkeitsmischung nicht mehr aus einem einheitlichen, autonomen, unabhängigen

Verknüpfungsinstrument entsteht!

Misch-Wirklichkeiten sind also Pseudo-Wirklichkeiten, sie sind‚ pseudo’, weil sie eben unecht und bloß vorgetäuscht sind. Sie sind nicht aus einer Wurzel, also nicht aus einem einheitlichen Verknüpfungsinstrument entstanden, sie sind bloß zusammengestoppelt. Man kann sie also

- kurz gesagt

- nicht (wirklich) verstehen." (10, S.45; die Hervorhebungen stammen von mir.)

Natürlich diskutierte ich die Frage, welche Größe ein aussagekräftiges Patientengut haben müsse. Mit Hilfe eines renommierten Medizin

- Statistikers verstand ich aber, dass die Qualität von Daten wesentlich wichtiger ist, als ihre Quantität.

Ich konzentrierte mich zunächst auf die Frage, welche der vielen möglichen miasmatischen Informationen denn überhaupt verifizierbar sind.

Daher versuchte ich, aus dem breiten Angebot an miasmatischen Hinweisen diejenigen zu extrahieren, die für die meisten Miasmatiker einigermaßen "konsensfähig" sein können. Da es darüber keine formalen Beschlüsse gibt, griff ich auf meine eigenen Tabellen zurück und extrahierte diejenigen miasmatischen Parameter bzw. Zeichen, bei denen einigermaßen Übereinstimmung sichtbar war. Das ist natürlich kein Qualitätsmerkmal per se, aber für die weitere Diskussion hilfreich. Vereinzelt ergänzte ich interessante Parameter der "klassischen" Miasmenrichtung (z.B. Risch/Laborde) und einzelne Fragestellungen (z.B. ob es einen Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Krebs und der Art, Zahl und dem Zeitpunkt von Kinderkrankheiten gibt).

 

Untersuchte Themen

Syphilis: 15 syphilitische Parameter

Tuberkulinie: 14 tuberkulinische Parameter

Sykose: 29 sykotische Parameter

Kanzerinie: 8 kanzerinische Parameter

Zusammenhang Krebs und Miasmen

Krebs und Krebs in der Familie

Kinderkrankheiten (KK)

Zahl der Kinderkrankheiten

Art der Kinderkrankheiten

KK im Erwachsenenalter

Zusammenhang

Zahl der KK und eigene Krebserkrankung

Zusammenhang Art der KK und eigene Krebserkrankung

Ich konnte natürlich nur diejenigen Miasmenrichtungen miteinander vergleichen bzw. verifizieren, die in ihren Miasmen

- Modellen überhaupt fixierte Zuordnungen von Zeichen/Krankheiten definieren. Das sind bis auf Sankaran eigentlich alle.

Genauer gesagt: bei den "klassischen" Miasmenrichtungen (Hahnemann, Kent, J.H. Allen, Burnett, Risch/Laborde, z.T. Banerjea) gehören feste

Zuordnungen explizit zum System. Sie ermöglichen überhaupt erst eine miasmatische Diagnose und Unterscheidung und ihre Kenntnis soll dem Behandler ja gerade eine interpretationsunabhängige Erkennung von Miasmen erleichtern.

Feigwarzen sind sykotisch, Geschwüre = syphilitisch und Pneumonien = tuberkulinisch - solche schematischen Zuordnungen machen die „Diagnose“ einfach. (?)

Bei den "modernen" Miasmatikern (Ortega, Vijayakar, Gienow, Sankaran) wird es schwieriger. Einerseits lehnen sie feste Zuordnungen ab und betonen die Variabilität miasmatischer Informationen und die Notwendigkeit, miasmatische Diagnosen im Einzelfall und in Abhängigkeit vom

Reaktionsmuster des Patienten zu treffen. Anderseits geben sie als Orientierung dann doch ausführliche und z.T. genaue miasmatische Hinweise und legen sich in Listen/Tabellen auf vorher definierte Zuordnungen von Zeichen/Krankheiten zu ihren Miasmen fest (siehe die Tabellen im Buch).

Ich konnte nicht alle miasmatischen Parameter untersuchen. Es gab Zeichen/Krankheiten, die von sehr vielen Miasmatikern zugeordnet worden waren, z.B. Asthma, Exostosen,

 

Das Miasma "Psora" ist als einziges nicht untersuchbar, da der Begriff Psora derart diffus ist und schlüpfrig wie ein Aal, sich jeglicher systematischer Betrachtung entzieht. Im Grunde machen die Psora und ihre Parameter nur Sinn als grober Maßstab für "Der Patient ist nicht gesund" und als Verlaufsparameter für "Der Patient wird mit dem Verschwinden von Psora Zeichen gesünder".

Furunkel, Geschwüre, Gicht, Gonorrhoe etc. Diese eigneten sich natürlich gut zum Vergleich. Und es gab Zeichen/Krankheiten, die nur von einigen wenigen beschrieben wurden, z.B. Chlamydien, Colitis ulcerosa/M.Crohn, Encephalitis, Hyperthyreose, Keuchhusten, Mononukleose, Trichomonaden, Schielen, Thrombose, etc. Hier habe ich trotzdem einige dieser Zuordnungen in meine Liste der zu untersuchenden Parameter mit hinein genommen. Dies weniger zum Vergleich der Miasmenrichtungen, sondern im Sinne einer Miasmenforschung, um die Bedeutung dieser Parameter zu untersuchen. Schließlich ist eine miasmatische Zuordnung nicht alleine deshalb wertvoll, weil viele Miasmatiker diese beschreiben.

Somit konnte ich also, trotz der großen inhaltlichen Differenz der Miasmenkonzepte, alle Miasmenrichtungen (bis auf Sankarans) hinsichtlich gewisser Parameter miteinander vergleichen.

Untersuchtes Patientenkollektiv Zufällige Auswahl von 400 meiner Patienten aus den letzten 15 Jahren (Gesamtpool ca. 1500 Patienten aus dieser Zeit).

Davon 255 (= 64%) Frauen und 145 (= 36%) Männer

Durchschnittsalter: 53 Jahre (20 - 29 Jahre: 3%, 30 - 39 Jahre: 10%, 40 - 49 Jahre: 33%, 50 - 59 Jahre: 26%, 60 - 69 Jahre: 15%, 70 - 79  Jahre:11%, >80 Jahre: 2%)

Verwendetes Programm: Praxis Organisation/Your Datamed

Ich habe selbstverständlich nur Erwachsene (hier: Patienten über 20 Jahre) in meine Untersuchung aufgenommen, da sonst jeder Miasmatiker kritisieren könnte, dass sich bei zu vielen jungen Patienten die miasmatische Fülle an Pathologien noch gar nicht ausbilden konnte. Mein (mit anderen homöopathischen Praxen verglichen) eher älteres Patientenkollektiv (Durchschnittsalter 53 Jahre) und mein hoher Patientenanteil mit schweren Pathologien (fast 30 % Krebspatienten) war eher hilfreich für die Aussagekraft meiner miasmatischen Untersuchung.

Ergebnisse Ich kann die Tabellen und Schlussfolgerungen von über 80 Seiten hier natürlich nur verdichtet und ausschnittweise wiedergeben.

Ich möchte im Folgenden als interessante Beispiele die Themen Tuberkulose und Tuberkulose in der Familie besprechen.

 

Beispiel Tuberkulose

Von den von mir untersuchten 400 Erwachsenen hatten 18 PatientInnen eine Tuberkulose. Die Frage für mich war nun, hatten/haben diese 18 Patienten weniger, genauso häufig oder seltener andere miasmatische Zeichen/Erkrankungen, sowohl aus der Klasse der tuberkulinischen Parameter, als auch aus der Gruppe anderer Miasmen-Parameter? Da ein direkter Vergleich der Zahlen (z.B.: von den 18 Tuberkulose

- 2 Patienten waren auch 1x an einer Pneumonie erkrankt; von den 400 Gesamt - Patienten hatten 78 eine Pneumonie) aus statistischen Gründen ungeeignet ist, war es notwendig, andere (in der Medizinstatistik übliche) Methoden (wie OddsRatio, p-Wert) zu verwenden, da sie wesentlich genauere Ergebnisse über die Verlässlichkeit von Daten liefern (nur Werte mit einem p-Wert unter/nahe 5 sind statistisch relevant) und geben Auskunft über die Chancen/Risiken für eine Erkrankung (OddsRatio) geben.

Ich wählte die letzten 15 Jahre, da erst in diesem Zeitraum eine ausreichende Konstanz, Erfahrung und Genauigkeit in meiner Anamnesetechnik und Dokumentation gegeben ist.

 

Fazit

Bestimmte "typische" tuberkulinische Parameter (z.B. Pneumonie, Trichterbrust, Nasenbluten) bestätigen sich nicht, im Gegenteil treten sie sogar seltener bei Tuberkulose - Patienten auf!

Tuberkulinisches Miasma: Der Zusammenhang

Tuberkulose und Furunkel ist auffällig, aber nur grenzwertig statistisch signifikant. Erklärung? Der Zusammenhang Tuberkulose und Tuberkulose in der Familie ist auffällig, aber nur grenzwertig statistisch signifikant. Er ist medizinisch/infektiös erklärbar. Der Zusammenhang Tuberkulose und Pleuritis/Asthma/Rachitis ist auffällig, aber nicht statistisch signifikant.

Andere Miasmen: Es gibt auffällige Zusammenhänge zwischen Tuberkulose und syphilitischen Parametern (Magen-/Darmgeschwüre,  Exostosen) und sykotischen Parametern (Gonorrhoe, Ovariitis, Prostatitis und Arthritis/Rheuma). Erklärung?

Eine statistische Signifikanz besteht nur bei Magen-/Darmgeschwüren und Prostatitis, eingeschränkt bei Tuberkulose in der Familie, Furunkeln, Ovariitis und Rheuma/Arthritis -also v.a. bei nicht- tuberkulinischen Parametern (Ausnahme: Tuberkulose in der Familie und Furunkel).

Insgesamt zeigt sich eine wichtige, miasmenunabhängige (!) Bedeutung der Erkrankung Tuberkulose für diverse andere Erkrankungen.

 

Tuberkulose in der Familie:

Fazit

Der Zusammenhang Tuberkulose und Tuberkulose in der Familie ist auffällig und statistisch (grenzwertig) signifikant. Er ist aber medizinisch  leicht erklärbar.

Der Zusammenhang Tuberkulose in der Familie und Urtikaria ist auffällig, aber nicht statistisch signifikant.

Alle weiteren "typischen" Parameter wie Pneumonie, Pleuritis, Asthma etc. lassen sich nicht bestätigen!

Kontrolle sykotischer und syphilitischer Parameter: Abgesehen von einer nur leichten Auffälligkeit bei den filiformen Warzen ist keine Häufung von syphilitischen bzw. sykotischen Parametern sichtbar. Erklärung für filiforme Warzen?

Auf diese Weise analysierte ich also in über 80 Tabellen diverse miasmatische Parameter und die Ergebnisse sind verblüffend, unerwartet,

und sie stellen die meisten bisherigen Miasmensysteme in Frage.

Mit dieser statistischen Untersuchung von 400 Patientendaten habe ich versucht, einen Anfang in Richtung methodenunabhängiger

Miasmenforschung zu machen. Es wäre wünschenswert, wenn nach einer Phase der Auswertung und Verbesserung andere mit größeren Patientenkollektiven weiterforschen.

 

Schlussfolgerung

Es wäre falsch, die Erkenntnisse der Miasmenlehre grundsätzlich zu verwerfen. Es gibt zahlreiche auffällige und statistisch signifikante Zusammenhänge zwischen Erkrankungen.

Diese Zusammenhänge sind z.T. in der Medizin bekannt (z.B. Rachitis bzw. pathologischer Vitamin D - Spiegel und Knochenerkrankungen), z.T. aber noch nicht ausreichend erforscht.

Im Grunde füllt die miasmatische Homöopathie Lücken in der medizinischen Grundlagenforschung, welche durch die derzeitige  reduktionistische und profitorientierte Medizin entstanden sind. Voraussetzung für eine fruchtbare Forschung von Medizin und

Homöopathie ist, dass die Sprache und Methodik der Miasmatiker (weiter-)entwickelt wird, damit sie endlich wissenschaftlichen Kriterien entspricht.

Es wäre jedoch genauso falsch, den bisherigen zahlreichen Miasmensystemen gläubig zu folgen.

Miasmatiker haben unvollständige und z.T. falsche Aussagen zu miasmatischen Zuordnungen gemacht.

Die Miasmenrichtungen beruhen auf Glauben statt auf Verifizierung. Die Miasmatiker lassen ihre Entstehungsgeschichte, ihre Methodik, ihre Unterschiede zu anderen Systemen im Unklaren. Miasmenrichtungen fokussieren auf eine Strategie für alle Erkrankungen.

"In dem Moment, in dem man beginnt, jemandem zu folgen, hört man auf, der Wahrheit zu folgen."

(Krishnamurti)

Da es scheinbar kein Miasmensystem gibt, welches allen anderen überlegen ist (= theoretisch schlüssig und praktisch verifiziert),

bleibt die Entscheidung über die "richtige" Miasmenrichtung subjektiv. Die Frage nach einem besseren Outcome in der Praxis ist damit

aber noch völlig unbeantwortet.

Die allgemein schlechteste Strategie bei der Wahl der "geeigneten" Miasmenrichtung ist, sich einen "Mischmasch" aus mehren verschiedenen Richtungen zu basteln. Das Ergebnis muss, wie ich gezeigt habe, in Beliebigkeit oder Bedeutungslosigkeit resultieren. Damit ist auch schon gesagt, dass die verschiedenen Miasmenrichtungen untereinander nicht kompatibel sind.

Völlig unklar und auch bisher nicht ehrlich diskutiert ist die Frage, welche der bestehenden Miasmensysteme welche Vor- und Nachteile haben bzw. für welche Erkrankungen (Sankaran = psychische Pathologien? Vijayakar oder Risch/Laborde = schwere Pathologien oder (epi-)genetische Erkrankungen? Burnett = Krebs?) sie geeignet/ungeeignet sind.

Solange keine nachvollziehbaren, klaren und wissenschaftliche Kriterien definiert werden, beruhen die Werbeaussagen und Versprechungen ("Folge mir, dann wirst du erfolgreicher in der Praxis") der Miasmatiker lediglich auf Glauben und Verkaufstalent.

Die Theorie der Miasmen und die Praxistätigkeit eines Homöopathen sind zwei verschiedene Dinge, die nicht notwendigerweise  zusammengehören.

Um eine erfolgreiche und befriedigende Homöopathie -selbst schwerer Pathologien- durchzuführen, benötigt man nicht notwendigerweise die Miasmen. Es gibt andere Faktoren und Kenntnisse, die dafür wesentlich wichtiger sind: eine genaue und umfangreiche Materia Medica-Kenntnis (beruhend auf verlässlichen Quellen), eine exakte umfassende Anamnese, eine flexible analytische Fallanalyse (mit der man in der Lage ist, verschiedene Krankheitsdynamiken zu identifizieren), gute medizinische Kenntnisse und eine psychologisch geschickte  Patientenführung. Dies sage ich bewusst und ausdrücklich nach dem Studium von über 1000 eigenen und fremden Krebsfällen und 20 Jahren

homöopathischer Praxis mit Schwerpunkt auf schweren Pathologien.

Um "miasmatische" Zusammenhänge zu erkennen oder zu erklären, braucht man weder die Begriffe, noch die Modelle der Miasmatiker. Sie lassen sich auch durch andere, z.B. medizinische Terminologien erklären.

"Miasmatische Zeichen" können gute Verlaufsparameter sein - man braucht dafür aber keine Miasmen.

Hering schreibt dazu: "Ob nun Hahnemanns Theorie sich längere oder kürzere Zeit erhalten wird, ob sie die beste ist oder nicht, darüber wird die Zeit entscheiden, aber darauf kommt jetzt gar nicht an.

Man hält mich allgemein für einen Schüler und Anhänger Hahnemanns, und ich erkläre, daß ich zu denen gehöre, die ihm am getreuesten anhängen und zu denen, die seiner Größe mit Begeisterung huldigen, aber dennoch erkläre ich auch, daß seit meiner ersten Bekanntschaft mit der Homöopathik (im Jahre 1821) bis auf den heutigen Tag ich noch niemals, auch keine einzige der Theorien im Organon so angenommen habe, wie sie da gegeben werden. (...)

Wer also die Theorie Hahnemanns angreifen will, der thue es; wer sie allesamt verwerfen will, der thue dies auch; aber er bilde sich nicht ein, dass damit etwas Erwähnenswerthes geschehen sei. Es ist eine, in jeder Hinsicht ganz unbedeutende Sache."

(Hering 1836 in der ersten Amerikanischen Ausgabe des Organon der Heilkunst; Übersetzung dieses Zitates aus: 11, S. 425)

Einige der bisherigen Annahmen und miasmatischen Modelle können getrost aufgegeben und als medizingeschichtlich erklärbare Irrtümer

erklärt werden.

Da diese These verständlicherweise Widerstand bei einigen überzeugten Miasmatikern hervorrufen wird, habe ich mich in meinem Buch bemüht, meine Aussagen so genau wie möglich zu belegen (Hunderte von Zitaten, über 400 Fußnoten), damit klar wird, dass es sich hier nicht um (m)eine Meinung, sondern um Wissen und Fakten handelt.

 

Ausnahmen

Die (aus meiner Sicht) einzig relevanten Miasmenmodelle sind die Konzepte der "Folgen von Tuberkulose" und "Sykose".

 

Tuberkulose

Man kann in meiner Untersuchung klar und gesichert erkennen, wie umfassend eine Tuberkulose in einer Immunschwäche bzw. Hypo-Immunität resultieren kann, die dann sekundär zu vielen verschiedenen (nicht auf bestimmte Miasmen fixierten)

Erkrankungen führen kann. Es ist weiterhin auch vorstellbar, dass diese Immunschwäche über epigenetische Wege an die eigenen Kinder vererbt wird.

Gleichzeitig sind die Folgen einer Tuberkulose in der Familie nicht so deutlich erkennbar, wie man das aufgrund der miasmatischen Literatur hätte vermuten können. Auch ein "typisches" tuberkulinisches Bild ist nicht so klar nachweisbar, wie oft behauptet wird.

Ich folgere daher daraus, dass eine erlebte Tuberkulose in jedem Falle eine anamnestisch wichtige Information ist, während Tuberkulose in der Familie oder "typische tuberkulinische" Symptome/Zeichen/Erkrankungen -bis zum Beweis des Gegenteils- als Parameter nicht absolutiert oder kultiviert werden sollten.

 

Sykose

Ganz anders dagegen bei der "Sykose". Es ist erstaunlich zu sehen, wie weitsichtig Hahnemann und J.H. Allen in ihrer Beobachtung von sexuell übertragbaren Erkrankungen in Verbindung mit einer "Warzenkrankheit" waren. Viele der "sykotischen" Parameter haben sich in meiner Untersuchung deutlich bestätigt. Wenn man in der "Sykose" eine Kombination von sexuell übertragbaren Erregern (z.B. Gonokokken, Chlamydien, Trichomonaden, Gardnerellen, Mykoplasmen, u.a.; Herpes-Viren; Candida albicans u.a. Mykosen), Warzen-Viren (Kondylome, Verruca filiformis) und einer hormonellen Störung (z.B. Sterilität, Ovarialzysten, Ovariitis, Myome, Aborte; sekundär gestörtes Scheidenmilieu: Zystitis, Vaginalpilz, Kondylome, etc.; Östrogen

- Naevi: Red moles, Spider naevi) sieht, kann man den Großteil der sykotischen Parameter mühelos medizinisch erklären. Nimmt man noch andere sykotische Parameter hinzu (z.B. Nierensteine, Gallensteine, Gicht; Mykosen, Gastritis, Sinusitis; Rheuma/Arthritis), dann scheint es gerechtfertigt, weiterhin -im "klassisch miasmatischen" Sinne- von einem sykotischen Miasma zu sprechen.

Eine zeitlos funktionierende Strategie ist, die Erkrankungen +/o. Charakteristika der Familie mit in die Mittelwahl hineinzunehmen.

Die homöopathische Literatur ist voller Fälle, wo entweder die Erkrankung selber (z.B. Vater mit Tuberkulose oder Gonorrhoe) oder die Charakteristika eines Elternteils zur Mittelwahl geführt haben. Schon Kent schreibt: "Man kann in vielen Familien Charakteristika und Besonderheiten im Erbgang weitergehen sehen. (...) es ist nicht selten, daß die ganze Familie dasselbe o. ein demselben verwandtes Medikament braucht, um sie zu heilen." (12, S. 11)

 

Die Macht des Glaubens und das Bedürfnis nach Sicherheit

Das Bedürfnis der Homöopathen (bzw. der Menschen) nach Sinn, Ordnung und Struktur ist so stark, dass es schwierig zu sein scheint, ihm nicht zu verfallen. Wie Nietzsche schon sagte: „Wer ein Warum zu leben hat, fast jedes Wie erträgt". Das bedeutet: Anstatt zu verstehen,

dass die Homöopathie Hahnemanns eine individuelle Therapie ist, mit der jeder Fall neu und ohne Abkürzungen, Gesetze (abgesehen vom Ähnlichkeitsgesetz) oder Ordnungssysteme (Miasmen, Periodensystem, Kingdoms oder Familien etc.) nach Hahnemanns Vorgaben gelöst werden muss (und gelöst werden kann!), suchen die modernen Homöopathen nach ordnenden Strukturen hinter dem Symptom/Zeichen

-und laufen damit (wie ich am Beispiel der Miasmen zeigen konnte) beständig einer Illusion hinterher.

Bertolt Brecht beschreibt dieses Problem sehr anschaulich in seinen Geschichten vom Herrn Keuner:

"Einer fragte Herrn K., ob es einen Gott gäbe. Herr K. sagte: ‚Ich rate dir, nachzudenken, ob dein Verhalten je nach der Antwort auf diese

Frage sich ändern würde. Würde es sich nicht ändern, dann können wir die Frage fallen lassen. Würde es sich ändern, dann kann ich dir wenigstens noch so weit behilflich sein, dass ich dir sage, du hast dich schon entschieden: Du brauchst einen Gott.’

"Solange das Bedürfnis der Homöopathen nach schematischen Lösungen besteht, solange nicht verstanden wird, dass die Homöopathie eine individuelle Therapie ist, so lange wird es immer wieder neue Miasmenmodelle und einfache Scheinlösungen geben, welche alle (mehr oder weniger) sinnvoll und falsch sein werden.

Was mache ich denn ohne Miasmen?

Ich habe bei vielen Miasmen -Diskussionen immer wieder erlebt, dass miasmatisch arbeitende Kollegen irgendwann verzweifelt sagten:

"Ja, wenn das gar nicht stimmt, was ich bisher bei xy gelernt habe, was mache (bzw. wie arbeite) ich denn ohne Miasmen"? Diese Frage offenbart ein groteskes Missverständnis über den Wert der Miasmenlehren für den Praktiker. Denn das Wesentliche der Homöopathie liegt außerhalb der Miasmen.

Wie im obigen Merksatz bereits erwähnt, sind die wesentlichen Faktoren für eine erfolgreiche homöopathische Praxis eine exzellente Materia Medica-Kenntnis, eine exakte Anamnese und Fallanalyse, eine korrekte Verlaufsbeurteilung und eine gute Patientenführung unter Berücksichtigung der Lebensführung (Salutogenese) des Patienten.

Sie begeben sich damit in den Gegensatz zur Hahnemannischen Homöopathie (siehe Organon § 6 - 7).

Um es klar zu sagen: Wer mit "seiner" Miasmenlehre (vorübergehend) zufrieden und v.a. erfolgreich ist, der sollte (bis er an dessen Grenze stößt) bei seinem System bleiben. Aber die vielen Kollegen/innen, die sich vergeblich um ein miasmatisches Verständnis bemühen, denen will ich sagen: Wendet Eure Zeit und Energie lieber für Wichtigeres auf! Da hier, bei diesen grundsätzlichen Themen, offensichtlich noch viel Klärungsbedarf unter Homöopathen besteht, versuche ich in meinem Buch verschiedene Fragestellungen diesbezüglich zu beantworten. Zusätzlich dokumentiere ich im Anhang zwei kommentierte Fälle von mir, um zu zeigen, wie man auch ohne Miasmen erfolgreich homöopathisch bei schweren Pathologien arbeiten kann.

Es geht mir letztlich auch darum, eine Orientierung, eine Richtung, ein Ziel zu geben.

Diejenigen, die bereits einen sicheren Standpunkt haben, werden diese Orientierungshilfen vielleicht als überflüssig oder störend empfinden, die anderen Leser werden dies hoffentlich schätzen. Denn es geht in der ganzen Diskussion um die Miasmen auch darum, in welche Richtung sich die Homöopathie zukünftig bewegen wird. Der Streit über die "richtige" Richtung war schon immer ein Charakteristikum der Homöopathen und der Menschen. Aber die Geschichte der Homöopathie lehrt auch, dass sie ohne ein klares und kompromissloses Bekenntnis zu der Homöopathie Hahnemanns weit unter ihren Möglichkeiten -nämlich der Heilung selbst schwerster Pathologien- bleibt.

Wie Hering bereits kurz vor seinem Tod 1880 mahnend sagte: “Wenn unsere Schule jemals die streng induktive Methode Hahnemanns aufgibt, sind wir verloren und verdienen nur, als Karikatur in der Geschichte der Medizin erwähnt zu werden.”

 

 

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