Kind Behindert

                                  

ZEIT ONLINE

Gesundheit

Vor einigen Wochen haben wir eine Debatte zur Pränataldiagnostik angefangen. Dabei geht es unter anderem um Gentests, die während der Schwangerschaft gemacht werden. Sie können sehr früh behindertes Leben im Mutterleib aufspüren, fast ohne Risiko für Mutter und Ungeborenes. Auslöser war unser Multimedia-Dossier "Wer darf leben?" zum Thema Down-Syndrom (nominiert für den Grimme Online Award). Seither haben uns viele Zuschriften erreicht, in denen Menschen ihre Erfahrungen mit behinderten Kindern schildern, entweder aus der Perspektive der Eltern oder aus Sicht der Geschwister. Drei dieser Zuschriften stellen wir hier vor.

"Ich bin selbst die große Schwester eines behinderten Kindes. Mein kleiner Bruder, 28 Jahre alt, hat das Williams-Beuren-Syndrom. Er ist etwa auf dem geistigen Stand eines Grundschülers und wird das auch immer bleiben. Meine Eltern unternahmen allerlei Anstrengungen, um ihn zu fördern. Zu Hause ging es eigentlich immer nur um ihn, ich als "normales" Kind hatte ja keine Probleme und musste immer zurückstecken. Das hat die Beziehung zu meinen Eltern nachhaltig gestört, erst jetzt nähern wir uns langsam wieder an. Ich habe lange gebraucht, um ihr Verhalten zu verstehen. Sie hatten lange die Hoffnung, dass mein kleiner Bruder ein einigermaßen normales Leben würde führen können.

Die Beziehung meiner Eltern stand des Öfteren auf der Kippe. Weil mein Bruder immer die Aufmerksamkeit auf sich zog, habe ich mich in der Pubertät immer weiter zurückgezogen. Es war ein Leben in einem permanenten Spannungszustand. Den Mangel an Aufmerksamkeit kompensierte ich durch Aggression, vor allem gegen mich selbst. Noch heute habe ich mit einem Minderwertigkeitskomplex zu kämpfen. Er hat mich privat und beruflich sehr eingeschränkt und tut es teilweise immer noch. Wir alle mussten so viel opfern, und aus meiner Sicht wiegen das die wenigen positiven Momente mit meinem Bruder nicht auf.

Natürlich könnte man in meinem Fall sagen: Da haben die Eltern aber schwer versagt. Nein, das haben sie nicht. Sie wussten es eben nicht besser. Aus Gesprächen mit anderen Geschwistern von geistig Behinderten habe ich erfahren, dass es in den meisten Familien ähnlich läuft wie bei uns. Ich hatte Glück und kann heute mein Leben leben.

Meine Eltern, die kurz vor der Rente stehen, kümmern sich immer noch um ihn, und ich zolle ihnen dafür großen Respekt. Sie haben wenig Zeit für sich, können nur selten alleine in den Urlaub fahren oder sich mal um ihre Beziehung kümmern. Aber weggeben wollen sie meinen Bruder nicht, weil die Einrichtungen für Behinderte in ihren Augen nicht gut genug sind. Und wahrscheinlich haben sie sich schon so an das Leben mit ihm gewöhnt, dass sie sich einen Alltag ohne ihn gar nicht mehr vorstellen können.

Geistig Behinderte sind nicht süß und eine Bereicherung für die Welt. Sie sind eine Belastung für alle Beteiligten. Deshalb finde ich es gut, wenn während der Schwangerschaft schon festgestellt werden kann, ob das Kind eine Behinderung haben wird."

Anna U.                                            

                                              

"Benjamin fragt, ob wir es ihm auch sagen würden, wenn er tot sei."

"Wenn ich an meinen Bruder Benjamin denke, dann empfinde ich tief in meinem Herzen ein wohlig-warmes Gefühl. Er ist mir unglaublich nah und ich habe eine ganz besondere Beziehung zu ihm. Benjamin ist jetzt Mitte 20. Er hat eine hochgradige kognitive Beeinträchtigung, das heißt er ist kognitiv auf dem Stand eines ein- bis zweijährigen Kindes. Während der Geburt kam es aufgrund eines Sauerstoffmangels zu einer neurologischen Schädigung.

Unsere Eltern trennten sich sehr früh. Mama musste Nachtschichten schieben, um mehr zu verdienen und tagsüber für uns da zu sein. Sie kämpfte sich durch mit uns.

Benjamin bringt mit seiner freundlichen Art alle zum Lachen. Gerne verteilt er Komplimente an die hübschen Menschen um ihn herum. Er ist aber auch sehr bedürftig und braucht viel Zuspruch und Unterstützung bei der Regulierung seiner Emotionen. Die Pflege umfasst alles, was das tägliche Leben betrifft: Waschen, Essen und vor allem sehr viel emotionale Nähe. Immer wieder muss er sich bestimmter Dinge vergewissern. So fragt er mehrmals täglich, ob wir es ihm auch sagen würden, wenn er tot sei.

Vor ein paar Jahren zog Benjamin in ein betreutes Wohnen. Anfangs machte das Heim einen guten Eindruck. Mittlerweile mangelt es dort aber an Personal, was dazu führt, dass ein Betreuer allein für bis zu zehn geistig schwerstbehinderte Menschen zuständig ist. Für unseren bedürftigen Benjamin ist das eine Qual. Er äußerte seine emotionale Not immer häufiger in Wutausbrüchen und Weinkrämpfen und sagte uns, dass er nicht mehr zurück in die Einrichtung, sondern bei der Familie bleiben wolle. Das ist für uns alle ein unglaublicher Schmerz, ihn in dieser Einrichtung nicht glücklich zu wissen.

Die Folge seiner emotionalen Schwankungen war, dass er mittlerweile auf Neuroleptika eingestellt ist. Ein Großteil der anderen Bewohner steht mittlerweile ebenfalls unter Medikamenten. Die Medikation wurde von unserer Familie nie gutgeheißen, aber das Heim hätte ihn vor die Tür gesetzt, wenn wir den Medikamenten nicht zugestimmt hätten."

Lina, Benjamins Schwester

 

"Mama, darf ich heim?"

"Das Miteinander mit Benjamin in den frühen Kinderjahren war schwer. Ich wusste nicht, wie ich meinen Sohn am besten fördern kann. Ich wusste nicht einmal, wer es mir zeigen könnte. Die Frau von der Frühförderung machte mich dann auf eine Einrichtung aufmerksam, die ein paar Hundert Kilometer entfernt lag. Die Wartezeit war in der Regel ein dreiviertel Jahr, aber wir haben innerhalb von zwei Wochen einen Termin bekommen. Eine segensreiche Zeit begann. Wir hatten so eine tolle Psychologin. Und ich war froh, endlich das Handwerkszeug an die Hand zu bekommen, um mein Kind zu fördern und richtig mit ihm umzugehen. Verhaltenstherapie, Spieltherapie, Konsequenz. Wir waren einige Monate stationär dort. Meine Tochter war in dieser Zeit bei meinen Schwestern und Freundinnen. Sie musste immer wieder zurückstehen, aber sie hat es tapfer getragen.

Wenn es Benjamin nicht gut geht, geht es mir auch nicht gut. Wenn wir telefonieren und er sagt: "Mama, darf ich heim? Wann darf ich endlich wieder heim?", dann zerreißt es mir das Herz. Bei manchen Betreuern des betreuten Wohnens fühlt Benjamin sich wohl, dann ist es gut. Es ist sehr persönlichkeitsabhängig bei ihm.

Die Zeit, als die Medikamente eingestellt wurden, war niederschmetternd. Die Nebenwirkungen waren enorm. Er konnte kaum eine Treppe hinaufgehen. Er zeigte keine Gefühlsäußerungen, konnte kaum selber essen und war stark verlangsamt. Grauenvoll. Der Psychiater meinte dazu: "Gesunde müssen auch Aspirin nehmen. Wir leben nicht im Paradies." Erst nach mehrmaligem Drängen hat er die Medikamente umgestellt.

Benjamin war mein erstes Kind. Ich habe mich sehr auf ihn gefreut, und wir haben bisher alles gut hingekriegt. Jetzt wünsche ich mir eine Einrichtung, in der er sich wohlfühlt. Damit er ein gutes Leben führen kann, wenn ich nicht mehr da bin. Es ist wichtig, dass er schon in seinen 20er Jahren lernt, in einem betreuten Wohnen zu leben. In jungen Jahren ist es noch leichter, sich in einem neuen Umfeld einzuleben, außerdem kann ich im hohen Alter möglicherweise nicht mehr für ihn sorgen. Würde er bis zu meinem Tod bei mir leben, hätte ich die Befürchtung, dass er vollkommen überrumpelt wäre und zusammenbräche, wenn ich sterbe."

Claudia, Benjamins Mutter           

 

 

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