Scham

 

Vergleich: Siehe: Gemütsverfassungen

 

Édouard Louis "Ich habe mich die meiste Zeit meines Lebens geschämt"

 

[Ulrike Meyer-Timpe/ ZEIT Wissen Nr. 6/2016]

1. Wirkung

Die Scham ist ein heimtückisches Gefühl. Wir möchten im Boden versinken, wären am liebsten unsichtbar. Doch die Scham bewirkt das Gegenteil: Sie treibt uns die Röte ins Gesicht, und die Signalfarbe zieht die Blicke auf sich. Sie wird deshalb schnell zum Teufelskreis. Wir schämen uns nicht nur wegen unseres Fehltritts, sondern obendrein, weil wir uns schämen – und weil das offensichtlich alle mitbekommen.

Genau das macht das Wesen der Scham aus: Sie braucht das Publikum. Wir schämen uns nicht nur vor uns selbst, sondern hegen insgeheim immer die Befürchtung, die Außenwelt könnte die Schmach bemerken. Besonders deutlich wird dies beim Schamgefühl bezüglich des eigenen Körpers. Allein im Bad ist Nacktheit kein Problem, in der Öffentlichkeit hingegen fühlen wir uns bloßgestellt. Im übertragenen Sinn fühlen wir uns immer vor anderen entblößt, wenn wir uns schämen.

Obwohl sie aus der Furcht vor dem Urteil anderer entsteht, weckt die Scham beim Gegenüber oft Mitgefühl und Sympathie. Denn sie wird als Einsicht in den eigenen Fehler gedeutet, als Entschuldigung. Wer sich hingegen schamlos zeigt, gewinnt damit keine Freunde. Der Psychologe Anthony Manstead von der britischen Universität Cardiff hat dies in einem Experiment nachgewiesen. In einem Supermarkt ließ er erst einen Mann einen Stapel Toilettenpapier umreißen, dem das offenkundig peinlich war. Dann geschah das Missgeschick einem anderen, der sich ungerührt zeigte. Bei Ersterem spürte die Gruppe der Probanden erheblich häufiger den Impuls, ihm zu helfen. Anders als Letzterer tat er den Studienteilnehmern leid.

Die Scham erscheint uns also als beschwerlicher Umweg, doch sie führt geradewegs zum Ziel: Allen Bemühungen zum Trotz gelingt es nicht, sie zu verbergen. Aber indem wir sie nicht verheimlichen können, machen wir den Anlass zur Scham wieder wett.

2. Entstehung

Nur Menschen können Scham empfinden. Andere Gefühle, seien es Angst, Trauer oder Freude, teilen sie mit den Tieren. Doch wer sich schämt, muss ein Bewusstsein von der eigenen Persönlichkeit haben. Und er muss gleichzeitig die Fähigkeit besitzen, sich selbst aus der Perspektive der anderen zu sehen. Sehr kleine Kinder sind dazu noch nicht in der Lage. Sie lernen das erst mit eineinhalb oder zwei Jahren. Dennoch ist die Scham angeboren. Jeder Mensch schämt sich irgendwann. Dass dies mit dem Rotwerden verknüpft ist, beruht nicht auf Nachahmung. Schon Charles Darwin erwähnte in seinem Buch Der Ausdruck von Gemütsbewegungen beim Menschen und den Thieren drei von Geburt an blinde Kinder, die erröteten, obwohl sie das bei anderen nie haben sehen können. Auch bei ihnen weiteten sich die Blutgefäße im Gesicht. Die verlieren diese Fähigkeit übrigens mit zunehmendem Alter immer mehr. Deshalb werden Kinder und Jugendliche eher leuchtend rot als Erwachsene, die in peinlichen Situationen oftmals nur noch den Blick senken und in sich zusammensacken.

Wenn wir uns schämen, schüttet unser Immunsystem den Botenstoff TNF alpha aus. Das konnte die Psychologin Sally Dickerson von der New Yorker Pace University nachweisen, als sie von ihren peinlich berührten Probanden Speichelproben nahm. Wie bei einer Infektion fühlten sich die Betroffenen einen Moment lang schwach und wie gelähmt. Der Anstoß dazu muss offenbar aus dem Stirnlappen der Großhirnrinde kommen. Denn wenn der orbitofrontale Cortex geschädigt ist, verliert der Mensch sein Schamgefühl. Er stellt sich bloß, ohne es zu merken.

3. Zweck

Die Scham ist ein zutiefst soziales Gefühl, weil sie sich an den Maßstäben der Gesellschaft orientiert. Genau das hat sie überhaupt entstehen lassen. Damit sich die Mitglieder einer Gemeinschaft regelkonform verhalten. Wer sich schämt, der fürchtet, wegen seines Fehlers ausgestoßen und sozial isoliert zu werden. Er bemüht sich, ein solches Verhalten zu vermeiden.

"Die Forschung hat gezeigt, dass wir unsere Handlungen an dem ausrichten, was wir in unserer Umwelt als normales Verhalten wahrnehmen", sagt Jennifer Jacquet von der New York University. Bei der Durchsetzung solcher Normen sei die Scham ein wirkungsvolles Instrument. Das wussten bereits die Menschen im Mittelalter: Wer gegen ein Gesetz verstoßen oder eine gesellschaftliche Norm verletzt hatte, wurde am Pranger bloßgestellt, sichtbar für alle. Die Scham diente ganz offiziell als Mittel zur Disziplinierung der Menschen.

Die Scham ist zur "Zwangsjacke" geworden

Spätestens seit der Aufklärung, der Amerikanischen und Französischen Revolution orientieren sich die westlichen Gesellschaften jedoch immer mehr am Individuum. Anders als in Asien sehen sich die Menschen inzwischen vor allem als Einzelwesen, weniger als Mitglied eines Clans oder einer Familie. Um dennoch die Einhaltung der Normen zu erreichen, setzt der Westen nun auf die Schuld statt auf die Scham. Wer eine wichtige Regel verletzt, wird schuldig gesprochen und bekommt eine Strafe. Das sei sinnvoller, argumentieren Philosophen, weil es auf Wiedergutmachung ziele. So könnten beschädigte Beziehungen auch wieder gekittet werden. Die Scham hingegen bewirke nur den Rückzug.

4. Vorkommen

Scham kennen weltweit alle Menschen. Der Anlass dazu ist jedoch kulturell bedingt und basiert auf der befürchteten negativen Reaktion der Umwelt. In einigen muslimischen Ländern würden sich Frauen bloßgestellt fühlen, wenn sie sich ohne Burka zeigen müssten. Und da sich kulturelle Gepflogenheiten wandeln, ändern sich auch die Anlässe zur Scham. Vor hundert Jahren wäre es sehr peinlich gewesen, sich am Strand im (damals noch nicht erfundenen) Bikini zu zeigen. Das Gleiche gilt für Fehler oder Wissenslücken: Vieles von dem, was "man" heute selbstverständlich beherrschen muss, war vor Jahrzehnten den meisten unbekannt – zum Beispiel, einen Computer zu bedienen.

Je nach Kulturkreis ist die Scham unterschiedlich weit verbreitet und hat gesellschaftlich eine größere oder kleinere Bedeutung. Dem ging der Anthropologe Daniel Fessler nach. Er legte zwei sorgfältig ausgewählten Probanden-Gruppen aus Indonesien und Kalifornien eine Liste mit 52 Gefühlen vor. Die Teilnehmer sollten sie ihrer Bedeutung nach sortieren. Die Asiaten erklärten die Scham zur zweitwichtigsten Emotion überhaupt, bei den Amerikanern belegte sie nur Platz 32. In Asien ist man oft ängstlich bemüht, niemals "das Gesicht zu verlieren". In den westlichen Ländern hingegen stellen sich manche Menschen sogar ganz bewusst bloß, indem sie der Öffentlichkeit im Fernsehen selbst intimste Facetten ihres Privatlebens vorführen.

5. Therapie

Mit der steigenden Bedeutung der Schuld verlor die Scham ihren gesellschaftlichen Sinn. Dennoch schämen sich die Menschen weiterhin. Die Psychologin Brené Brown von der University of Houston forscht seit Jahren zu dem Thema. Ursprünglich ging sie davon aus, dass die Scham vor allem Frauen quäle. Jetzt sagt sie: "Scham fühlt sich für Männer und Frauen gleich an, aber sie ist nach Geschlecht organisiert." Die Anlässe seien geschlechtsspezifisch. Sie haben zu tun mit den Rollenklischees, denen man nicht zu genügen glaubt. Für Brené Brown ist die Scham inzwischen

zur "Zwangsjacke" geworden, die uns in unseren Möglichkeiten einschränke. Ursprünglich sollte sie garantieren, dass alle nach den tradierten Regeln handeln. In der modernen Gesellschaft hingegen sorgen Regelbrüche und Wagemut für Fortschritt. Deshalb plädiert Brown dafür, die eigene Scham zu bekämpfen: Wer Angst vor einer Blamage hat, wagt keinen Schritt nach vorn.

 

 

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