Arctica islandica = Islandmuschel/= ocean quahog
ZEIT ONLINE
Umwelt
Das unterschätzte Tier Diese Muschel weiß, was wirklich jung
hält
In der Schale der Islandmuschel steckt womöglich das
Geheimnis ewiger Jugend. Klimaforscher lieben sie. Die Muschel selbst fristet
ein ödes Dasein.
Aus Marketing-Sicht ist die Islandmuschel eine ziemliche
Niete. Zwar klingt ihr lateinischer Name Arctica islandica nach Meer und
Abenteuer, das war's dann aber auch schon. Ansonsten verbringt sie ihr Leben im
Schlick, filtriert den lieben langen Tag Wasser und hofft, dass sie nicht ins
Visier der Muschelfischer gerät.
Dabei hält die Muschel einen Rekord: Sie ist das älteste höher entwickelte Tier der Welt. Das bislang älteste Exemplar, das Forscher fanden, brachte es auf 410 Jahre. Damit liegt das Weichtier im Rennen um das längste
Leben weit vor den üblichen Verdächtigen wie
Galapagos-Schildkröte oder Grönlandwal.
Steckt das Geheimnis der ewigen Jugend also zwischen zwei Schalen? Was können wir lernen von einem Tier, das den Dreißigjährigen Krieg überlebte, ein Zeitgenosse Goethes war, von den Wirren der Französische
Revolution verschont blieb und den Kommunismus und die
Beatles aufsteigen sah?
Zunächst einmal nicht viel, denn Arctica islandica ist verschwiegen. Aufmerksam muss der Beobachter sein, sonst taucht die unscheinbare Methusalem-Muschel einfach ab: In unregelmäßigen Abständen schließt sie ihre
Schale und gräbt sich mit dem Fuß in den Untergrund.
Irgendwann taucht sie wieder auf – und sieht immer noch genauso aus wie vorher.
Arctica islandica hat einen entscheidenden Vorteil gegenüber anderen langlebigen Tieren: Man kann ihr Alter ziemlich genau bestimmen, denn die Muscheln bilden Jahresringe, ähnlich wie Bäume. Damit werden die Tiere
auch für Klimawissenschaftler interessant, lassen sich doch
anhand der Ringe Eiszeiten oder Schwankungen der Umweltbedingungen ablesen.
Um die Ringe zu sehen, müssen die Muschelschalen einmal
längst geschnitten und dann unter dem Mikroskop untersucht werden. Je älter
eine Muschel umso genauer muss man hinschauen: Während die Tiere in ihren
ersten Jahren sehr viel Größe pro Jahr gewinnen, werden die Zuwächse im Laufe
der Jahre immer geringen. Wissenschaftler sprechen dann von einem
asymptotischen Wachstum.
Doch der erste Eindruck täuscht. Während die Muschel im Schlamm war, hat sie Unglaubliches vollbracht. Sie hat ihre Alterung aufgehalten. Wenn die Muschel ihre Schale schließt, bekommt sie keinen Sauerstoff mehr.
Für die meisten Tiere wäre das ein Todesurteil. Für Arctica islandica ist es eine Verjüngungskur. Die Islandmuschel kann ihren kompletten Stoffwechsel umstellen, sodass sie ohne Sauerstoff auskommt.
Der Clou: In dieser Phase können auch keine
Sauerstoffradikale ihr Erbgut schädigen.
Angesichts dieser Fähigkeiten, könnte man neidisch werden. Da tröstet zu wissen, dass das Leben auch für Islandmuscheln zuweilen ungerecht ist. Zumindest für diejenigen, die im falschen Teil der Weltmeere zur Welt
kamen. Während Muscheln vor der Küste Islands nämlich locker 200 Jahre werden, wird in der Ostsee kein Tier älter als 40. Chancengleichheit ist also auch unter Muscheln eine Utopie – die Herkunft entscheidet stark über
das Schicksal der Tiere.
Woran das liegt, können Forscher bislang nur mutmaßen. Fest
steht, dass die Ostsee erdgeschichtlich noch sehr jung ist und ihr Salzgehalt
sowie ihre Temperatur schwanken. Das bedeutet Stress für die sonst so
geruhsamen Muscheln.
Aus menschlicher Sicht gewinnt die Islandmuschel durch ihr extrem langes Dasein nicht unbedingt an Lebensqualität dazu. Einsam und eintönig vergehen die Jahre. Zwar lebt Arctica islandica in Kolonien mit vielen
Tausend Tieren, doch in der Masse bleibt jede Muschel für
sich, allein zwischen ihren beiden Schalen geklemmt. Auch ihr Speiseplan ist
eintönig: Es gibt Zooplankton, tagein, tagaus.
Und Sex? Fehlanzeige, Arctica islandica pflanzt sich
ungeschlechtlich fort.
Für die Wissenschaft ist die Islandmuschel keine Langweilerin: Am Rand ihrer Kalkschale bildet sich Jahr für Jahr ein neuer Wachstumsring, der über Jahrhunderte wertvolle Informationen über das Meer, das Klima und
die Bedingungen auf der Erde speichert. Klimaforscher lesen darin wie in einem Buch aus alten Zeiten.
Vergleich: Siehe: Molluscae:
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