Kind früher Einschulen?

 

ZEIT ONLINE

[Mark Spörrle]

Luise ist ein Ass im Puzzeln. Soll sie mit knapp sechs oder lieber mit sieben eingeschult werden? Mark Spörrle lässt sich verrückt machen.

Wäre Luise ein paar Wochen früher oder später geboren, wäre es einfach. Wir könnten uns der Schulbehörde beugen, die bestimmt, dass unsere Tochter nächstes Jahr eingeschult wird. Oder übernächstes. Oder wir könnten

darauf pochen, sie sei hochbegabt, und bis zu ihrem siebten Geburtstag dafür kämpfen, dass sie schon mit fünf in die Schule darf.

Leider ist es komplizierter: Unsere Tochter ist ein Kann-Kind. Eines, das entweder nächstes Jahr in die Schule kann. Oder übernächstes.

Anfangs war für uns keine Frage, dass es nächstes Jahr sein würde. "Sie kann schon fast alleine lesen", fasste ich zusammen. "Sie kann besser rechnen als ich in der zweiten Klasse. Sie kann zwar noch nicht freihändig Geige spielen. Aber trotzdem müsste sie längst in der Schule sein, oder?"

Meine Liebste sagte, sie habe sowieso den Eindruck, Luise beginne sich im Kindergarten zu langweilen. Genau wie ihre Freundin Mia, die zweifellos auch schon früher eingeschult würde. Also sprach ich Mias Vater vor dem Kindergarten an, dass es doch schön wäre, wenn unsere Töchter zusammen auf dieselbe Schule kämen.

"Mensch toll!", sagte er erleichtert. "Ihr wollt mit Luise auch noch warten?"

"Warten???"

"Es war für uns keine leichte Entscheidung; Mia ist schon weit für ihr Alter. Aber sie muss noch ein paar Sachen lernen. Sich zu konzentrieren. Oder Enttäuschungen auszuhalten. Nicht immer gleich rumzuheulen und zu schreien..."

Ich dachte daran, wie Luise jüngst beim Mensch-Ärgere-Dich-nicht die Spielfiguren unters Sofa gepfeffert hatte. Zwar hatte ich vorher versucht, sie zu beschummeln, aber nur aus pädagogischen Gründen. Und was sie für ein Theater machte, wenn sie ins Bett sollte.

"Vielleicht wäre ein Jahr später wirklich gar nicht so schlecht", sagte die Liebste später. "Es wäre auch für uns entspannter. Die Schule fängt eine Stunde früher an als der Kindergarten"

Mama und Papa gehen arbeiten, die Kleine in den Kindergarten. Das perfekte Familienglück ist nur eine Frage der Organisation, oder? Mark Spörrle schreibt in seiner Kolumne "Familienglück" über die Tücken des Alltags.

Wir beschlossen also, unserer Tochter noch Zeit zu geben.

Tags darauf trafen wir Leonies Mutter. Leonie ist schon in der Vorschule. "Und etwas Besseres konnte ihr nicht passieren", sagte die Mutter, "ich weiß noch, wie sie sich im Kindergarten immer gelangweilt hat. Immer alles am besten zu können, ist auch nicht schön. Ihr kennt das ja von eurer Luise. Ich werde nie vergessen, wie die Leonie beim Puzzeln in die Tasche gesteckt hat. Wieso ist sie denn noch nicht in der Vorschule?"

Nach einem durchdiskutierten Abend beschlossen wir, die Erzieherin Martha zu Rate zu ziehen.

"Alles Top bei eurer Tochter!", sagte die. "Ich konnte es nicht glauben: Gestern hat Luise den Kleineren aus einem Buch vorgelesen."

Das war ziemlich eindeutig. Die Liebste und ich nickten uns zu.

"... aber ich würde vielleicht noch das Elterngespräch mit der Schule abwarten", fuhr Martha fort. "Es wäre gut, wenn sie beim Spielen auch andere mitbestimmen ließe und nicht immer nur führen wollte...."

"Das ist also gar nicht positiv?", fragte ich.

"Dass SIE das fragen, dachte ich mir", sagte Martha.

Probleme mit dem Puzzeln

"Trotz allem, sie ist Expertin", beruhigte mich die Liebste zu Hause. "Und soziale Kompetenzen sind wichtig..."

Sie musste aufhören zu sprechen, denn Luise kam ins Zimmer, in der Hand das Telefon.

"Eine Frau Julebusch für euch!", sagte sie.

Frau Julebusch gehörte die Firma, bei der wir unser neues Bett bestellt hatten. Sie hatte noch eine Frage, zuerst aber war sie voll des Lobes über unsere Tochter: "Wie sie sich unterhalten kann – in welche Klasse geht sie?"

"Noch gar nicht!", sagte die Liebste. "Wir überlegen gerade, sie ist ein Kann-Kind..."

"Hören Sie auf zu überlegen: Ihr Kind gehört in die Schule, das merke ich sofort, und ich bin studierte Pädagogin und habe selbst drei Kinder: Soviel soziale Kompetenz..."

Der Blick meiner Liebsten hatte einen leichten Anflug von Wahnsinn. Nach der Routineuntersuchung bei der Kinderärztin – Luise war sehr weit für ihr Alter, was das Hüpfen, Anziehen und Farben- und Formenerkennen anging, beim Puzzeln war sie hervorragend – sprachen wir das Thema Schule an. Im Zweifel sei es besser, wenn ein Kind beim Schuleintritt älter sei, sagte die Ärztin, "die Jüngsten kommen schlechter mit, können sich schwerer durchsetzen. Das holen sie nie wieder auf: Einmal Letzter, immer Letzter..."

Mir fiel ein, dass ich ungewöhnlich früh in die Schule gekommen war und es bis heute nicht zum Nobelpreisträger oder Multimillionär gebracht hatte. Und stieß auf eine britische Studie, die tatsächlich belegte:

Schülerfrühchen litten oft noch im Beruf unter ihrer vorzeitigen Einschulung! Erst sprach ich mit meiner Mutter. Dann redeten die Liebste und ich über Luise. "Nein", sagten wir feierlich. "Nein und nochmals nein! Wir werden

das unserem Kind nicht antun."

Leider ging ich ran, als das Telefon klingelte. Mias Mutter.

"Wir werden Mia jetzt doch früher einschulen. Sie wollte unbedingt, wegen eurer Luise... Warum lachst du so?"

Am folgenden Abend setzten wir alles auf eine Karte und knobelten aus, wann Luise in die Schule kommen sollte. Es stand unentschieden.

Zum Glück lag dann die Einladung zum Schulgespräch im Briefkasten. Die Rektorin der Grundschule an der Ecke ließ unsere Tochter in einem Nebenraum malen, gleichgroße Häschen erkennen und puzzeln. Und kam ratlos zurück.

"Ein Kind, das solche Probleme mit dem Puzzeln hat, habe ich noch nie kennengelernt", sagte sie.

"Wenn es in der Schule nur so blöde Baby-Puzzles gibt", sagte Luise auf dem Heimweg, "bleibe ich lieber im Kindergarten."

 

 

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