Kombinierte Arzneien

 

[Wolfgang Springer und Heinz Wittwer]

Salze

Salze sind von Natur aus Verbindungen mit (meist) zwei verschiedenen Komponenten, nämlich einem positiv geladenen Teilchen (Anion) und einem negativ geladenen (Kation). Als Festkörper

bilden sie sog. Kristallgitter, in welchen Kationen und Anionen in streng regelmäßiger Anordnung vorliegen, sodass sich ihre Ladungen gegenseitig neutralisieren. Die meisten Salze sind in

Wasser sehr gut löslich. Es gibt aber auch solche, die aufgrund von Beschaffenheit und Größe ihrer Ionen energetisch besonders günstige Kristallgitter zu bilden imstande sind, sodass sie nur

sehr geringe Löslichkeit aufweisen.

Einige, in der Mehrheit gut lösliche Salze kommen in großen Mengen in unserem Körper vor und sind nicht nur für uns, sondern für die Physiologie jedes Lebens unerlässlich. Sie bestimmen

die osmotischen Verhältnisse in Zell- und Gewebeflüssigkeiten und sind verantwortlich für die elektrischen Potenziale an Zellmembranen, ohne die Phänomene wie z. B. aktiver Transport

oder Reizleitung undenkbar wären. Die biologisch wichtigsten Anionen sind Na, K, Ca und Mg, während bei den Kationen Cl, P, C, S und organische Säurereste im Vordergrund stehen.

Anionen und Kationen lassen sich nahezu beliebig zu verschiedenen Salzen kombinieren.

Kombinierte Arzneien

Zweihundert Jahre Homöopathiegeschichte haben gezeigt, dass aus dem Bereich der mineralischen Arzneien gerade jene Substanzen in potenzierter Form eine besonders bedeutende Rolle spielen, welche für den

Aufbau und das Funktionieren unseres Körpers wichtig sind. So bilden S, P, Si, Calcarea carbonica, Natrium muriaticum oder Kalium carbonicum wichtige Eckpfeiler unseres Arzneimittelschatzes.

Daneben existieren mit Arsen, Aurum, Mercurius etc. natürlich auch Polychreste unphysiologischen Ursprungs, doch sind diese Mittel deutlich weniger häufig indiziert.

Mineralische Substanzen bestehen entweder aus Ionen oder können durch Oxidation in solche überführt werden. Metalle werden hierbei zu Kationen und die nichtmetallischen Elemente

bilden oft Anionen durch Bindung zum oxidierenden Sauerstoff. So wird beispielsweise aus elementarem Schwefel Sulphat (S ? SO4 2-).

Da Kationen und Anionen praktisch beliebig zu verschiedenen Salzen kombiniert werden können, existieren viele kleinere Arzneien, die zwei (oder selten sogar drei) Komponenten enthalten,

welche einzeln als Polychrest oder Anteil eines Polychrestes gut bekannt sind. Derartige Mittel bezeichnen wir im Folgenden als kombinierte Arzneien. Die Ausgangssubstanz von kombinierten

Arzneien ist naturgemäß meist ein Salz, was aber nicht ausschließlich der Fall sein muss (vgl. Natrium silicicum).

Es spielt auch keine Rolle, ob die Komponenten eine Bedeutung im Rahmen der physiologischen Lebensvorgänge haben oder nicht. Der entscheidende Aspekt von kombinierten Mitteln ist einzig

der, dass die Materia medica jeder Komponente besser bekannt ist als die der kombinierten Arznei. Da viele dieser Komponenten physiologisch lebensnotwendig sind und als Polychrest

in der Homöopathie große Bedeutung erlangt haben, lässt sich erahnen, dass manche der kombinierten Arzneien über ein größeres Potenzial verfügen würden, als heute tatsächlich genutzt wird.

Jan Scholten und kombinierte Arzneien

Der Wert von kombinierten Arzneien ist in der Homöopathie schon länger bekannt. Bereits Kent hatte sich ihnen zugewandt und einige davon in New Remedies beschrieben. Doch populär geworden

sind sie deshalb nicht. Dass sie nur selten mit Erfolg verschrieben werden, liegt u. a. daran, dass sie schwer zu fassen sind. Selbst Kent hat sie nur unscharf darzustellen vermocht.

In jüngerer Zeit ist das Interesse an kombinierten Arzneien wieder gestiegen und viele wurden neu entdeckt. Unter verschiedenen zeitgenössischen Homöopathen hat sich ganz

besonders Jan Scholten um diese verdient gemacht.

Es ist ihm gelungen, durch sog. „Gruppenanalyse“ jeder einzelnen Komponente Themen zuzuordnen, und er hat dadurch mögliche Essenzen von kombinierten Arzneien formulieren können.

Weiter hat er durch die Entdeckung von homöopathischen Gesetzmäßigkeiten innerhalb der Elemente des Periodensystems jedes chemische Element und jedes beliebige anorganische

Salz für den therapeutischen Gebrauch erschlossen, sodass heute eine unüberblickbare Menge von neuen kombinierten Mitteln zur Verfügung steht. Allein von den Lanthaniden und deren Salzen sind

gegenwärtig 158 Arzneien im Handel erhältlich.

Die Arbeiten von Jan Scholten und anderen Homöopathen, welche dieselbe Richtung verfolgen, stellen sicher eine Bereicherung der Homöopathie dar. Doch wäre es falsch zu glauben, dass damit alle Schwierigkeiten

bei der Verschreibung von kombinierten Arzneien entfallen sind. Wie bereits erwähnt, basiert seine Verschreibungsweise v. a. auf Essenzen. Dazu ist Folgendes zu sagen:

* Jede der von Scholten beschriebenen Arzneien hat sicher einen zusätzlichen Anwendungsbereich, der außerhalb der von ihm dargelegten Essenz liegt, d. h. mit seiner Methode ist es

nur möglich, einen Ausschnitt des tatsächlichen Arzneimittelbildes zu beschreiben.

* Auch im körperlichen Bereich verfügt jede kombinierte Arznei über eigene Symptome und Organschwerpunkte, welche keiner seiner Komponenten zuzuordnen sind und daher auch durch Gruppenanalyse nicht

vorhergesagt werden können. Dies dürfte auch der Grund sein, weshalb eine kombinierte Arznei sich nicht ersetzen lässt durch Verschreibung zuerst der einen und dann der anderen Komponente.

* Eine Verschreibung, die hauptsächlich oder ausschließlich auf einer Essenz basiert, ist stets mit einer gewissen Unsicherheit behaftet.

Die Essenzen von verschiedenen Arzneimitteln können sich stark überlappen und je nach Optik und Interpretation des behandelnden Arztes erscheint das eine oder das andere Mittel indiziert.

Eine sichere Verschreibung liegt immer dann vor, wenn man ein Mittel gefunden hat, welches die Essenz bzw. den Charakter des Patienten wie auch seine körperlichen Auffälligkeiten inklusive

Modalitäten abzudecken vermag.

* Bei vielen Fallaufnahmen, selbst wenn diese lege artis durchgeführt wurden, ist es aus verschiedenen Gründen schwierig bis unmöglich, eine klare, aus dem psychischen Bereich stammende

Essenz zu formulieren. Auch in solchen Fällen muss man zu einer guten Verschreibung gelangen können, die eine hohe Wahrscheinlichkeit hat, dem Patienten zu mehr Wohlergehen zu verhelfen.

Mitunter kann diese Verschreibung auch aus einer kombinierten Arznei bestehen. Nachfolgend sind daher Regeln angegeben, nach welchen Kriterien kombinierte Arzneien ohne Vorliegen

einer Essenz verschrieben werden können, ohne sich dabei als Arzt auf allzu dünnes Eis zu begeben. Regeln zur Verschreibung von kombinierten Arzneien

Nach der Analyse eines homöopathischen Falles gibt es verschiedene Möglichkeiten, aufgrund derer ein Salz mit zwei Komponenten verschrieben werden kann. Diese werden hier aufgelistet

in der Reihenfolge absteigender Wahrscheinlichkeit, die dem Fall angemessene Verschreibung zu sein. Möglichkeiten 1 bis 3 setzen Kenntnisse der Materia medica der verschriebenen Arznei voraus,

während Möglichkeiten 4 und 5 auch für vollkommen unbekannte Arzneien in Frage kommen.

1. Totalität der Symptome Die sicherste aller Verschreibungen besteht immer dann, wenn die Totalität der Symptome klar auf eine bestimmte Arznei hinweist. Dabei kann es sich natürlich auch um

eine „kombinierte“ Arznei handeln, von welcher die Materia medica hinreichend bekannt ist.

2. Essenz einer Arznei Falls bekannt und in einem gegebenen Fall klar vorhanden, kann auch einmal die Essenz einer kombinierten Arznei für eine Verschreibung in Frage kommen.

3. Anteile beider Komponenten und Brückensymptom der kombinierten Arznei

Falls aufgrund der wichtigsten Symptome eines Falles – inkl. des vorliegenden Gemütsbildes – nicht klar unterschieden werden kann zwischen Arzneien A und B, von denen eine kombinierte Arznei

AB existiert, so kann diese mit großer Sicherheit verschrieben werden, falls ein Schlüsselsymptom des Falles durch die Arznei AB abgedeckt ist und – ähnlich einer Brücke – die Verbindung zwischen den

Beiden Komponenten A und B bewerkstelligt.

Im günstigeren Fall ist das Brückensymptom ein Symptom, dessen Repertoriumsrubrik nur die kombinierte Arznei AB, nicht aber dessen Komponenten A oder B enthält. Dies wird meistens

der Fall sein bei kombinierten Arzneien AB mit einer hinreichend bekannten Materia medica.

Ein Beispiel eines derartigen Brückensymptomes ist das Symptom „Stuhl, lang, schmal“ des zweiten Calcarea-silicata-Falles oder das Symptom „Gemüt, Traurigkeit morgens, fröhlich am Abend“ des

Zweiten Calcarea-sulphurica-Falles.

Manchmal kommt es aber auch vor, dass in der Rubrik des Schlüsselsymptomes eines Falles beide in Frage kommenden Arzneien A und B wie auch die kombinierte Arznei AB zu finden sind.

Dann bildet der Eintrag der kombinierten Arznei AB in dieser zentralen Rubrik die Brücke zwischen den beiden Komponenten und die Bestätigung, dass die kombinierte Arznei höchstwahrscheinlich

die richtige Verschreibung ist.

4. Anteile beider Komponenten ohne Brückensymptom Wenn man die relevanten Symptome eines Falles betrachtet, kann man gelegentlich feststellen, dass diese aufgeteilt werden können zwischen zwei

Arzneien A und B, von welchen eine kombinierte Arznei AB existiert, deren Materia medica aber gänzlich oder annähernd unbekannt ist. Es soll an dieser Stelle noch einmal betont werden, dass eine

kombinierte Arz-

 

Tab. 1 Calcarea-silicata.-Fall: Dellwarzen, vgl. S. 88 (Complete Repertory 1998).

 

Calc.             Calc-sil.     Sil.

Gemüt, Schüchternheit                                                                                   3                1                    4

Mund, Mundgeruch, sauer                                                                             -                -                    -

Stuhl, lang, schmal                                                                                         -                1                    -

Rücken, Schweiß, zervikal                                                                             3                1                    2

Rücken, Schweiß, zervikal, im Schlaf                                                           3                -                    -

Allg., Speisen & Getränke, Saures, Verlangen nach                                     2                1                    -

Allg., Speisen & Getränke, Milch, Verlangen nach                                      2                1                    2

Blase, Urinieren, unwillkürlich, nachts                                                         2                1                    3

Kopf, Hautausschläge, Milchschorf                                                              2                -                    3

 

Tab. 2 Calcarea-sulphurica.-Fall: Multiple, perianale Fistelbildung, vgl. S. 99 (Complete Repertory 1998).

 

Calc.     Calc-s.             Sulph.

Gemüt, Traurigkeit, morgens, fröhlich am Abend                                        -                1                    -

Gemüt, eigensinnig, starrköpfig                                                                    3                2                    2

Rektum, Fistel                                                                                                3                1                    2

Brust, Abszess, Achselhöhlen                                                                        2                1                    2

Abdomen, Schwellung, Milz                                                                         -                -                    2

Extremitäten, Hitze, Füße, entblößt die Füße                                                2                -                    3

Allgemeines, Kleidung, Lockern bessert                                                       3                -                    2

Rektum, Durchfall, morgens, treibt aus dem Bett                                         -                -                    3

Stuhl, hart, dann flüssig                                                                                 3                -                    1

Schweiß, reichlich                                                                                          3                1                    2

männliches Genitale, Schweiß                                                                       2                -                    2

Gesicht, Schweiß                                                                                            3                1                    2

Extremitäten, Schweiß, Füße, übel riechend                                                 2                2                    2

Allgemeines, Luft, Frischluft, Verlangen nach                                             1                2                    3

Allgemeines, Speisen & Getränke, Obst, Abneigung von                            -                -                    -

Allgemeines, Speisen & Getränke, Salz, Verlangen nach                            2                1                    1

Gesicht, Farbe, bleich                                                                                     3                2                    3

 

Tab. 3 Ferrum-arsenicosum.-Fall: Rezidivierende Bronchitis, vgl. S.105 (Complete Repertory 1998).

 

Ars.             Ferr-ar.      Ferr.

Gemüt, Zorn durch Widerspruch                                                                  1                2                    2

Gemüt, diktatorisch                                                                                       1                -                    1

Gemüt, gewissenhaft in Kleinigkeiten                                                         4                1                    1

Gemüt, Ruhelosigkeit                                                                                   3                3                    3

Gemüt, empfindlich, auf Geräusche                                                             2                2                    2

Husten, muss sich aufsetzen                                                                         2                1                    2

Husten, Anstrengung                                                                                     5                -                    2

Allgemeines, Speisen & Getränke, Butter, Verlangen nach                        -                -                    1

Allgemeines, Speisen & Getränke, Saures, Verlangen nach                        2                1                    2

Allgemeines, Speisen & Getränke, Gewürze, Verlangen nach                    2                -                    -

 

Einleitung

Eine Arznei nicht einfach gleichgesetzt werden kann mit der Summe der Symptome ihrer Komponenten, sondern dass sie eigenständige Charakteristika bezüglich Gemütsbild, Organschwerpunkten, Modalitäten etc. aufweist.

Dies ist z. B. leicht zu erkennen im Falle von Calcarea phosphorica oder Aurum muriaticum, deren Materia medica bestens bekannt sind. Da aber jede kombinierte Arznei immer auch Elemente ihrer beiden

Grundkomponenten enthält, können wir im oben beschriebenen Fall trotzdem die kombinierte Arznei verordnen, falls gewisse Bedingungen erfüllt sind:

a) Unter den auffallenden Symptomen von beiden Komponenten A und B befinden sich sowohl Geistes- und Gemütssymptome als auch Allgemein- und Körpersymptome.

b) Falls alle auffallenden Symptome der beiden Komponenten A und B Allgemein- oder Körpersymptome sind, muss die Hauptdiagnose des Patienten eine bekannte Indikation der Arznei AB darstellen und dessen Gemütsbild darf weder mit Mittel A noch mit Mittel B im Widerspruch stehen.

c) Falls der Patient auf der körperlichen Ebene keine Besonderheiten aufweist und daher sämtliche auffallenden Symptome Geistes- und Gemütssymptome darstellen, darf die kombinierte Arznei AB verschrieben

werden, falls der Konsultationsgrund in einem rezidivierenden Infekt oder einem psycho-physischen Erschöpfungszustand besteht. Bei diesen Zuständen ist der Körper nämlich oft nicht in der Lage, zuverlässige

Symptome zu generieren. Im Falle von anderen Hauptbeschwerden wird die Verordnung der kombinierten Arznei AB fehlschlagen.

d) Falls die auffallenden Symptome für die Komponente A aus dem Geistes- und Gemütsbereich, für die Komponente B aber aus dem Allgemein- und Körperbereich stammen, oder umgekehrt, so darf die

kombinierte Arznei AB nicht verordnet werden, da sie fast sicher eine Fehlverschreibung darstellt. Für alle oben genannten Fälle kann gesagt werden, dass die Verschreibung sicherer ist, falls die Symptome der

beiden Komponenten A und B ungefähr gleiches Gewicht aufweisen. Besteht die Totalität der Symptome aus vielen Hinweisen für Mittel A und nur ein einziges Symptom spricht für Mittel B, so wird die

kombinierte Arznei AB nur in den seltensten Fällen die richtige Wahl darstellen. Eine günstige Situation besteht stets dann, wenn einerseits im Repertorium in fast allen relevanten Rubriken des Falles

beide Komponenten A und B zu finden sind und andererseits die Modalitäten des Patienten in Übereinstimmung mit den Modalitäten des Mittels AB stehen, sofern diese bekannt sind.

5. Gegenwärtiger Zustand

Nicht jeder Patient braucht während seines ganzen Lebens stets dasselbe homöopathische Mittel. Manchmal trifft man Fälle, bei welchen man erkennen kann, dass das indizierte Mittel mit Beginn einer schweren Erkrankung gewechselt hat. So kann ein Patient schon immer beispielsweise Phosphorus benötigt haben, doch seit seinem Herzinfarkt ist die Symptomatik verändert und er weist nun Symptome auf, die zum

Teil für Aurum und zum Teil für Arsen sprechen. In einem solchen Fall sind die Regeln des 4. Abschnittes für eine eventuelle Verschreibung von Aurum arsenicosum immer noch gültig, mit der Einschränkung allerdings,

dass sie sich nur auf die Symptome des gegenwärtigen Zustandes beziehen.

 

 

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