AIDS Anhang 2
Zeit
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[Sebastian Danz]
Warum Kondome, wenn's
Schutzpillen gibt?
Mancher Arzt ist euphorisch:
Mittel zur HIV-Vorbeugung könnten die Neuansteckungen unter Homo- und
Bisexuellen endlich senken. Nur schafft die Pille davor neue Probleme.
Kondome mochte Michael Kappel* nie besonders. An den
ersten Sex, bei dem er das Gummi wegließ, erinnert er sich deshalb noch
lebhaft. "Das Gefühl war so schön intensiv", erzählt der Mittdreißiger
in einem Café in Berlin-Neukölln. Er hatte damals Sex mit seinem Ex-Freund.
Richtig fühlte es sich trotzdem nicht an: "Unsere Generation ist mit der
Warnung aufgewachsen,
dass wir beim Sex Kondome nehmen müssen, weil wir sonst
Aids bekommen und sterben." Seit Kurzem gibt es etwas gegen das schlechte
Gewissen und die Angst: kleine blaue Pillen, wie
sie Michael nun jeden Tag einnimmt. Seine Befreiung, wie
er sagt.
Die Pille zur HIV-Prophylaxe ist ein Mix aus den
Wirkstoffen Tenofovir und Emtricitabin, bekannt unter dem Markennamen Truvada.
Und sie wird immer beliebter. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) führt das
Mittel inzwischen als essenzielle Arznei. In New York stieg die Zahl derer, die
Truvada einnehmen, in den letzten beiden Jahren um fast das Zehnfache
(Infectious Diseases Society of America, 2017).
Seit gut einem Jahr ist das
Mittel in Deutschland zugelassen. Weil Truvada zur Vorbeugung vor dem möglichen
Kontakt mit HI-Viren genommen wird, nennen Mediziner es PrEP, kurz für
Prä-Expositions-Prophylaxe. Sie
verringert das Risiko, sich bei ungeschütztem Sex anzustecken. Dank PrEP, so
die Hoffnung vieler Forscher, ließe sich die Zahl der HIV-Neuinfektionen
senken,
die in Deutschland (Robert
Koch-Institut, 2017, pdf) und vielen anderen Ländern derzeit stagniert.
Noch aber sind viele Fragen
offen: Wer sollte die Pille bekommen? Wer bezahlt dafür? Und was ist mit
anderen Geschlechtskrankheiten, wenn deswegen Menschen beim Sex das Gummi
weglassen?
Die Wirkstoffe Tenofovir und Emtricitabin, die in den
blauen Pillen stecken, sind beide schon länger für die antiretrovirale
HIV-Therapie zugelassen. Sie sollen dafür sorgen, dass sich HIV im Körper nicht
fortpflanzt, indem sie ein Schlüsselenzym des Virus, Reverse Transkiptase,
hemmen. Dieses Enzym stellt normalerweise eine Kopie des Virus-Erbguts her und
schleust es in das Genom, also das Erbgut der menschlichen Zelle ein. Truvada
reichert sich unter anderem in den Zellen der Schleimhäute an. Gelangen
HI-Viren daraufhin bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr dorthin, können sie
sich nicht weiter vermehren. Deshalb stecken sich die meisten PrEP-Nutzer auch
beim Sex mit einem HIV-Positiven nicht an. Die Nebenwirkungen der
PrEP-Medikamente sind meist mild und mit denen der entsprechenden HIV-Therapie
vergleichbar: ein wenig Bauch- und Kopfschmerzen, eine etwas verminderte
Filtrationsleistung der Nieren.
PrEP könnte Tausende
HIV-Infektionen verhindern
Tatsächlich sind die Pillen sehr
wirksam. In einer französischen Studie, an der homo- und bisexuelle Männer
teilnahmen, verringerten sie das Risiko, dass diese sich mit HIV ansteckten, um
86%
(New England
Journal of Medicine: Molina et al., 2015). Andere Studien deuten darauf hin, dass die Pille noch
effektiver sein könnte, wenn die Behandelten sie verlässlich jeden Tag
einnehmen
und nicht hin und wieder
vergessen (New England Journal of Medicine: Grant et al., 2010).
Das human immunodeficiency virus
(HIV) ist ein sogenanntes Retrovirus. Es schreibt sein Erbgut in das Erbgut der
Wirtszelle ein und zwingt sie dazu, es zu vervielfältigen. HIV befällt
verschiedene
Körperzellen, unter anderem
wichtige Zellen des Immunsystems [Fresszellen (Makrophagen)] und die
T-Helferzellen, die die Immunantwort koordinieren. In der Folge sterben die T-Helferzellen
entweder, weil sich Risse in ihrer
Zellwand bilden, wenn sie neue Viruspartikel ins Blut abgeben, sie gehen in den
programmierten Zelltod, oder sie werden vom eigenen Immunsystem getötet, weil
dieses sie als infiziert erkennt.
Wird die Infektion nicht
behandelt, sinkt die Zahl der T-Helferzellen immer weiter, das Immunsystem wird
schwächer. Das Endstadium der Immunschwäche ist Aids (Acquired Immunodeficiency
Syndrome). Aids ist durch
lebensbedrohliche Infektionen wie Lungenentzündungen mit aggressiven Pilzen,
Entzündungen des Gehirns aber auch durch Krebserkrankungen gekennzeichnet.
Michael Kappel ist Patient bei
Heiko Jessen, einem Infektiologen, den man in der schwulen Szene Berlins gut
kennt. Seine Praxis hat er in der Motzstraße in Berlin-Schöneberg, im schwulen
Herzen
der Hauptstadt, dort, wo überholt
geglaubte Klischees über Schwule wahrhaftig werden: Gegenüber der Praxis wirbt
ein Geschäft mit satten Rabatten auf Dildos, nebenan werden Sexschaukeln,
Ganzkörper-Latexanzüge und
Brustwarzenklammern verkauft. In Jessens Sprechzimmer stehen deckenhohe
Bücherregale, auf jedem zweiten Einband steht das Wort Aids. "Das Thema
Safer Sex
ist noch zu stark auf das Kondom
konzentriert", erklärt Jessen. Wenn es nach dem Arzt geht, sollten noch
viel mehr Menschen mit hohem Ansteckungsrisiko Truvada nehmen. Also vor allem
homo-
und bisexuelle Männer, die häufig ihre Sexpartner
wechseln, denn innerhalb dieser Risikogruppe kommen noch immer mehr als die
Hälfte der HIV-Neuinfektionen vor. "Das große Problem aber waren bis jetzt
die Kosten und die Übernahme durch die Krankenkassen."
Eine Monatspackung Truvada
kostete bis vor Kurzem rund 820 Euro. Krankenkassen übernehmen die Kosten für
die PrEP, anders als in Frankreich, hierzulande nicht. Der Grund: Der
Gemeinsame
Bundesausschuss (G-BA), der über die Erstattungsfähigkeit
von Medikamenten entscheidet, fühlt sich für die PrEP nicht zuständig. Josef
Hecken, Vorsitzender des G-BA, in dem Ärzte, Krankenhäuser und -kassen sitzen,
sagt, dafür gebe es gute Gründe: Der Gesetzgeber habe klar geregelt, was die
Krankenkassen übernehmen sollen. Für Medikamente sollen sie nur zahlen, wenn
diese zur Behandlung Kranker dienen. Für Prävention also nicht. Einzige
Ausnahme: Impfungen. Pillen als Vorbeugung vor eine HIV-Infektionen fielen
deshalb sozusagen durch das Raster.
Aus Sicht der Deutschen Aidshilfe ist das eine klare
Lücke im Regelwerk.
Für den Arzt Heiko Jessen verbirgt sich hinter der
Argumentation aber noch etwas anderes: Für die Sicherheit des privaten,
sexuellen Vergnügens will selten eine staatliche Stelle bezahlen. "In
Deutschland hat sich die Sexualmoral seit den Fünfzigerjahren eben kaum
weiterentwickelt", sagt er. Dass Truvada nicht nur vor Ansteckung schützt,
sondern noch dazu Männern hilft, die beim Einsatz von Kondomen
Erektionsprobleme bekommen, ist für Krankenkassen natürlich auch kein Argument,
dafür aufzukommen. "Und das ist eine große Gruppe", sagt Jessen und
verweist auf eine kürzlich erschienene Studie, für die 479 Männer befragt
wurden. Mehr als die Hälfte gab an, beim Sex mit Kondom Erektions- und
Orgasmusprobleme zu haben (AIDS and Behavior: Sanders et al., 2014).
Aus finanzieller Sicht für das Gesundheitssystem
erscheint es wenig sinnvoll, dass die Krankenkassen keine Vorbeugung bezahlen.
Das rechnete ein holländischer Mediziner dieses Jahr den niedergelassenen
deutschen Hausärzten vor, die HIV-Kranke versorgen (David van de Vijver, 2017 –
Vortrag als pdf). Die Tabletten, die pro Patient knapp 10.000 Euro pro Jahr
kosten, seien viel günstiger als die 17.000 Euro, die die Krankenkassen für die
Behandlung eines HIV-Infizierten ausgeben müssen. Das deckt sich mit Studien
aus den Niederlanden (The Lancet Infectious Diseases: Nichols et al., 2016) und
Großbritannien (The Lancet Infectious Diseases: Cambiano et al., 2017).
Andere Geschlechtskrankheiten werden häufiger
Ein Problem könnte der zunehmende Einsatz der Pillen aber
mit sich bringen: Geschlechtskrankheiten wie Syphilis, Herpes, Gonorrhö und
Chlamydien könnten weiter zunehmen. Weil Safer Sex seltener wird. "HIV und
seine Übertragungswege sind in der Bevölkerung sehr gut bekannt. Die
Bekanntheit anderer sexuell übertragbarer Infektionen liegt deutlich
niedriger", sagt Klaus Jansen von der Abteilung für
Infektionsepidemiologie des Robert Koch-Instituts. Die Anzahl von
Syphilis-Infektionen sei in den letzten Jahren besonders stark angestiegen, vor
allem unter homo- und bisexuellen Männern. 85% der Neuinfektionen, zeigt eine
Studie von Jansen, entfallen inzwischen auf diese Gruppe (Bundesundheitsblatt:
Bremer, Jansen et al., 2017).
Ein Grund dafür könnte ein verändertes Risikoverhalten
sein. Viele Männer, die Sex mit Männern haben, würden neuerdings gezielt nach
HIV-negativen Sexpartnern suchen, um ohne Kondom mit ihnen schlafen zu können.
Die Folge: die Fälle an Infektionen mit andere Geschlechtskrankheiten nimmt zu,
wie eine Studie aus Frankreich zeigt (21st International AIDS Conference:
Mascolini, 2016). Die Verfügbarkeit einer HIV-Prophylaxe könne zu diesem Trend
beitragen. Ob das wirklich so ist, ließe sich jetzt aber noch nicht beurteilen.
Truvada-Nutzer Michael Kappel jedenfalls ist sich der
Ansteckungsgefahr bewusst. Er hatte selbst schon einmal eine
Gonokokken-Infektion im After. "Die hatte ich aber auch schon mal vor zwei
Jahren, als ich beim Sex noch Kondome benutzt habe", sagt er. Kappel lässt
sich alle drei Monate routinemäßig auf HIV und andere Geschlechtskrankheiten
testen, eine Frequenz, zu der Ärzte wie Jessen auch anderen PrEP-Nutzern raten.
"So reduzieren Sie das Risiko, eine mögliche Infektion
weiterzugeben", erklärt Kappel.
Seit Kurzem: PrEP für 50 Euro im Monat
Er besorgt sich seine Pillen auf Grund der hohen Kosten
aus dem Internet. Dort bieten indische Hersteller wie der Pharmakonzern Cipla
Truvada-Verschnitte für 65 Euro an. Eine Forschergruppe
aus Großbritannien fand heraus, dass die online
erhältlichen Mittel genauso sicher sind wie das Originalpräparat Truvada (HIV
Medicine: Wang et al., 2017).
Seit Kurzem ist das Onlineshopping für billige Generika
gar nicht mehr nötig. Ein Kölner Apotheker hat mit der Pharmafirma Hexal, die
seit August bereits ein kostengünstigeres Generikum vertreibt, einen weiteren
Rabatt verhandelt. In mehreren Apotheken in Deutschland ist das
Truvada-Nachahmerpräparat seither für 50 Euro im Monat erhältlich. Rund 1.300
Menschen würden diese günstige PrEP bereits nehmen, sagt der Infektiologe
Jessen, die Hälfte von ihnen in Berlin. Und es werden sicherlich mehr werden.
Für Jessen ist das ein Durchbruch. Er ist sich sicher: "Das Medikament
wird noch zugänglicher und das wird viele weitere HIV-Infektionen
verhindern."
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