Depersonalisation
https://www.zeit.de/zeit-wissen/2014/05/psychologie-momente-zeit-minute
Vergleich: Siehe: Gemütsverfassungen
The development of a cynical
attitude towards colleagues or clients, and the development a sense of alienation
from others in the workplace (Maslach, 2001:402).
Symptome der Depersonalisation:
Ich kann mich im Spiegel nicht erkennen
Mein Bein sieht komisch aus, wenn ich runterschaue, irgendwie gehört das nicht zu mir
Mein Schreibtisch fühlt sich so an als könnte ich da hindurch fassen
Ich kann meine Stimme nicht erkennen, manchmal ist das so als ob nur diese Stimme spricht, aber die erkenne ich dann nicht und mein Körper ist ganz weg
Ich kann gar nichts von meinem Körper spüren, nichts ist mehr da oder ist größer, als sonst, kleiner, eigensinnig oder fremd.
Ich möchte mein altes ICH wieder haben!
Viele Betroffene haben Angst "verrückt" zu werden.
[Inge Kutter]
https://www.zeit.de/zeit-wissen/2014/05/psychologie-momente-zeit-minute/seite-4
Die erste Minute der Wahrheit
Vielleicht ist ein Arzt der
Überbringer. Er sagt einen dieser Sätze, die man bis dahin nur aus dem
Fernsehen kannte: "Leider muss ich Ihnen mitteilen ..." Den Rest hört
man schon nicht mehr.
Man steht plötzlich neben sich und
starrt auf den blauen Kugelschreiber, der in der Brusttasche seines Kittels
klemmt. Seine Worte rauschen weiter, ohne dass man sie versteht. Das ist doch
nicht möglich! Damit meint er doch nicht mich!
Wer eine schlimme Nachricht
erfährt, erlebt innerlich dasselbe wie jemand, der körperlich bedroht wird.
Schutzmechanismen setzen ein, die unser Überleben sichern sollen.
Der erste: Depersonalisierung. "Durch eine Aufspaltung unseres Bewusstseins lassen wir Erlebnisse nicht an uns heran und nehmen sie als weniger qualvoll wahr", so erklärt
es Jürgen Margraf,
der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Er kennt diesen
Prozess aus seiner Forschung zur Therapie von Vergewaltigungsopfern.
Wenn uns direkt Gewalt angetan
wird, empfinden wir das als besonders traumatisch. In abgeschwächter Form
trifft uns so auch der Befund einer lebensgefährlichen Krankheit, der Moment
der Wahrheit brennt sich tief ein. Ähnlich ergeht es vielen bei der
Ankündigung, dass sie einen geliebten Menschen verlieren werden.
Ist es nicht seltsam, dass einem dabei zum Beispiel ausgerechnet der Kuli des Arztes auffällt? Und dass wir an diese Szene denken, wenn wir wieder einen Kuli sehen?
Das ist der zweite Schutzmechanismus: Automatisch verknüpfen wir die Bedrohung im Gehirn mit Sinneseindrücken. "In Gefahr lernen wir assoziativ – schnell und nicht
erst durch Wiederholung",
sagt Margraf. "Dadurch geraten wir sofort in
Alarmbereitschaft, wenn uns der Reiz beim nächsten Mal begegnet."
Das kann ein Bild sein, ein
Geräusch, ein Geruch. Schwer traumatisierte Patienten leiden unter solchen
Assoziationen. Weil sie aber nicht davon wissen, geraten sie scheinbar grundlos
in Panik. Jürgen Margraf betont allerdings, dass
klinisch natürlich diejenigen auffielen, die mit der Verarbeitung Probleme
haben. Die meisten würden jedoch allein mit Traumata fertig.
Lange ging man davon aus, dass
Menschen, die vorher schon depressiv waren, auch stärker zu posttraumatischen
Belastungsstörungen neigen. Nun legt die Forschung von Anke Ehlers, die 2013
den Deutschen Psychologie Preis bekam, nahe, dass viel darauf ankommt, wie wir
unser Verhalten während des belastenden Ereignisses bewerten.
Für die erste Minute der Wahrheit
hieße das: Wer beim Herzinfarkt-Tod eines Freundes sofort an das letzte
Training denkt, bei dem er ihn niedergerungen hat, den werden womöglich
Schuldgefühle daran hindern, über den Verlust hinwegkommen. Zudem gelte, sagt
Jürgen Margraf: "Je überraschender und
unkontrollierbarer ein Ereignis uns erscheint, desto schlechter können wir
damit umgehen."
Aber ist ein Herzinfarkt tatsächlich
so überraschend? Ganz zu schweigen davon, dass das Sterben natürlicherweise zum
Leben gehört.
Auch hier spielt die Wahrnehmung eine Rolle. Wir blenden Unangenehmes aus und unterschätzen Risiken. Deshalb trifft uns die Wahrheit dann plötzlich wie ein Faustschlag ins Gesicht.
[Interview von Michael Aust mit Martin Straube]
Wenn das Spiegelbild fremd aussieht
In einer Studie unter Schülern gaben 47% an, Depersonalisations-Symptome zu kennen.
Herr Michal, Sie forschen über die Störung Depersonalisation – das Gefühl, permanent neben sich zu stehen. Welche Symptome verbergen sich dahinter?
Die Betroffenen klagen über das Gefühl, nicht richtig da, von allem abgetrennt zu sein. Sie erleben ihre Umwelt unwirklich, empfinden sich wie ein Roboter. Das eigene Spiegelbild fühlt sich fremd an, die eigene Stimme klingt unvertraut und wie weit entfernt. Manche beschreiben es als „Truman Show“-Gefühl – als ob alle anderen Schauspieler wären.
Sich selbst nicht im Spiegel zu erkennen klingt für mich eher nach einem Vampir-Film.
Anders als Vampire sehen sich die Betroffenen im Spiegel, es fühlt sich nur fremd an. Daneben gibt es auch einige körperliche Symptome: Manche berichten, sie könnten nur noch zweidimensional sehen oder
würden alles wie durch dickes Glas wahrnehmen. Deswegen war ein Großteil unserer Patienten auch schon beim Augenarzt. Viele denken zuerst gar nicht an eine emotionale Ursache.
Das Gefühl, neben sich zu stehen, hat sicher jeder schon mal gehabt. Wann wird das zur Krankheit?
Die Redensart vom „Neben-Sich-Stehen“ macht das deutlich: Das ist ein allgemeinmenschliches Gefühl, das auch bei eigentlich Gesunden etwa durch Übermüdung oder Stress ausgelöst werden kann. Zur Krankheit werden solche Symptome erst, wenn sie dauerhaft anhalten, man darunter leidet und im Alltag beeinträchtigt ist.
Worunter leiden Betroffene denn am meisten?
Zunächst mal machen ihnen die Symptome Angst. Sie fürchten, die Kontrolle über sich zu verlieren, „verrückt“ zu werden oder sich komisch zu benehmen. Dabei wirken diese Menschen auf andere oft geradezu cool.
Aber innerlich macht ihnen diese Coolness Angst.
Ja. Viele sind verzweifelt, weil sie es aus eigener Kraft nicht schaffen, präsenter zu werden. Letztlich ist das oft die Verzweiflung darüber, das Leben zu verpassen, und ein Gefühl tiefer innerer Verlorenheit.
Sie haben in Rheinland-Pfalz knapp 4000 Schüler zu psychischen Belastungen befragt. 12% berichteten, sie seien durch Symptome von Depersonalisation stark belastet.
In der Studie gaben sogar 47% der befragten Schüler an, zumindest an einzelnen Tagen in den vergangenen zwei Wochen solche Symptome gehabt zu haben. Zwölf% erklärten, sie seien davon stark belastet gewesen. In der erwachsenen Allgemeinbevölkerung ist das nur bei ein bis zwei% der Menschen der Fall.
Warum sind solche Gefühle vor allem unter Jugendlichen verbreitet?
Wichtig ist, dass diese Symptome nicht bei allen einen Krankheitswert haben. Dass sie gerade in der Pubertät häufig sind, liegt daran, dass sich in dieser Zeit sehr viel verändert: Man löst sich vom Elternhaus, nimmt Kontakte mit anderen auf, muss neuen sozialen Anforderungen genügen. Alles Dinge, die Angst auslösen.
Und diese Ängste führen dazu, dass man neben sich steht?
Es ist der Umgang damit, der anfällig für eine Depersonalisation macht. Wir wissen, dass Menschen mit Depersonalisation oft unter einer relativ großen Selbstunsicherheit -also der Angst vor den eigenen Gefühlen und Wahrnehmungen- leiden. Weil sie gleichzeitig auch Angst vor Ablehnung haben, trauen sie sich aber auch nicht, sich anderen gegenüber zu öffnen.
Ein Dilemma.
Genau. Und aus dieser Not heraus trennt man sich vom eigenen Empfinden ab.
Gibt es eine genetische Veranlagung für die Störung?
Dazu wurde sehr wenig erforscht. Ich könnte mir vorstellen, dass die Patienten eine genetische Disposition dazu haben, etwas sensibler und gleichzeitig ängstlicher zu sein. Damit sind sie eigentlich besonders auf andere Menschen angewiesen, die ihnen Sicherheit geben. Wenn das nicht passiert – etwa weil die Eltern emotional nicht ausreichend verfügbar waren –, entwickelt man ein höheres Risiko für die Erkrankung.
Gibt es auch soziale Gründe?
Es ist bekannt, dass Depersonalisation in individualistischen Gesellschaften wie der unseren viel häufiger vorkommt als in kollektivistischen wie in Lateinamerika. Man erklärt das so, dass in individualistischen Gesellschaften der Einzelne weit mehr tun muss, um soziale Kontakte zu knüpfen, um Geborgenheit zu erleben.
Es heißt, dass auch Cannabis-Konsum ein Auslöser sein kann...
Bei der Cannabis-Vergiftung können typische Symptome ein bis zwei Tage lang bestehen. Leidet jemand aber dauerhaft darunter, kann das nicht mehr allein durch Cannabis erklärt werden.
Wie lässt sich eine Depersonalisation therapieren?
Es gibt kaum Studien dazu. Man weiß aber: Antidepressiva haben darauf in der Regel keinen Effekt – ganz anders als etwa auf Symptome einer Angststörung. Nach Expertenmeinung ist die Therapie der Wahl Psychotherapie
... die im Schnitt wie lange dauert?
Das hängt von der Komplexität der Probleme ab. Hinter den Symptomen verbergen sich oft erhebliche emotionale Probleme, deshalb muss man sich häufig auf eine lange Psychotherapie einstellen.
Wie stehen die Chancen, die Störung irgendwann loszuwerden?
Man kann auch noch nach Jahrzehnten einen chronischen Depersonalisations-Zustand überwinden. Man kann sich wieder lebendig und spontan fühlen. Um aber konkrete Zahlen nennen zu können, bräuchte es Studien.
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