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Großeltern
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Armin Weigel/dpa
Großeltern
Gedächtnis der Familien
Großeltern
geben nicht nur ihre Erfahrungen weiter, sondern auch Ansichten, Bräuche und Marotten.
Damit prägen sie maßgeblich ihre Enkelkinder.
Ein
Kind rennt in einem Park seinen Großeltern hinterher. Auch in ihren
Verhaltensweisen ahmen Enkel ihre Großeltern nach.
Es
ist eine Ehre, von der Oma das Familienrezept für die Weihnachtsgans verraten
zu bekommen. Auch alte Fotos oder Schmuckstücke der Großeltern sind etwas ganz
Besonderes.
Doch
die Ältesten der Familie vererben weit Wertvolleres als materielle Dinge und
Erinnerungsstücke. »Die Normen und Lebensweisen der Großeltern prägen die Jugend
maßgeblich«,
sagt
Axel Schölmerich, Entwicklungspsychologe an der Ruhr-Universität Bochum . Und
selbst ihre Marotten, Mimik oder Gestik leben in den Nachfahren weiter: Da
reißt der Enkel, wenn er
einer
aufregenden Geschichte lauscht, vor lauter Spannung auf genau dieselbe Art die
Augen auf wie der Großvater, der sie erzählt.
Durch
ihr alltägliches Verhalten sorgen Großeltern dafür, dass Familienbräuche
erhalten bleiben. »Auffällig häufig wird Oma und Opa zuliebe vor dem Essen ein
Gebet gesprochen«, sagt Schölmerich.
Weil
es den eigenen Eltern wichtig ist, wahren Mutter und Vater das Ritual, auch
wenn sie selbst nicht besonders religiös sind. »Dahinter steckt also oft die
Tradition der
Familie,
nicht inniger Glaube.« Ähnliches zeigt der Blick in andere Kulturen. Der
Psychologe hat in türkischen Familien beobachtet, dass Großmütter ihre
Enkelkinder oft ausdrücklich darauf hinweisen, respektierte Personen korrekt zu
begrüßen, mit einem Handkuss.
Kinder
lernen Werte und Normen ebenso leicht wie Sprachen
Solche
gelebten Bräuche machen Großeltern zu einer Brücke in die Vergangenheit der
Familie. »Die Alten relativieren aber auch die Beziehungen innerhalb der
Familie, zum Beispiel indem
sie
von Verfehlungen des Vaters in dessen Kindheit erzählen«, sagt Corinna Onnen,
Soziologin am Institut für Sozialwissenschaften und Philosophie an der
Universität Vechta. Der wird zwar
seine
Gründe haben, warum er nicht von seinen ständigen Raufereien mit dem
Nachbarjungen berichtet. Doch es sei gut, wenn Oma und Opa die Geschichten der
eigenen Familie preisgeben würden,
»weil
sie damit dem Kind zeigen, dass auch die Eltern nicht fehlerlos sind«, sagt
Onnen. Zu hören, wie die Eltern als Kind waren, ja dass sie einmal Kind waren,
ist für die Enkel
nicht
nur unterhaltsam, es eröffnet ihnen auch eine neue Sicht auf Mutter und Vater.
Zudem vermittelt es ein Gefühl von Zugehörigkeit und Vertrauen, Familie eben –
und trägt dazu bei, den
moralischen
Kompass einzustellen.
»Unbewusst
geben Großeltern durch ihr Verhalten eine ganze Menge weiter«, sagt der
Entwicklungspsychologe Schölmerich. Wenn die Großmutter mit dem Enkel den
Nachmittag verbringe,
erklärt
er, vermittle sie ihm automatisch bestimmte Einstellungen. Die Situationen, um
die es geht, sind ganz alltäglich: »Indem die Oma dem Kind zum Beispiel zeigt,
dass es etwas Besonderes
ist,
wenn sich ihre scheue Katze von ihm streicheln lässt, vermittelt sie ihm einen
sanften Umgang mit Tieren.« Würde sie mit der Zeitung nach dem Tier werfen,
damit es nicht an den Möbeln
kratzt,
würde sie natürlich eine völlig andere Einstellung weitergeben. Und während die
eine Oma einem Bettler etwas gebe, achte eine andere auf besonders viel
Distanz. »Kinder lernen Ansichten,
wie
sie eine Sprache lernen: ohne Anstrengung und einfach durch Kontakt«.
Großeltern
ermöglichen ihren Enkeln so einen zusätzlichen Blick auf die Welt, der sich
mitunter von dem der Eltern unterscheidet. Und das ist wichtig, denn
verschiedene Meinungen helfen
dabei,
eine starke Persönlichkeit zu entwickeln. »Eltern ist es wichtig, ihr Kind auf
die Welt von morgen vorzubereiten. Großeltern dagegen beziehen sich mehr auf
die Vergangenheit«, sagt Schölmerich. So würden die Enkel auch mit
traditionalistischeren Einstellungen konfrontiert, die sonst womöglich zu kurz
kommen könnten. »Großeltern achten oft mehr auf soziale Werte wie Anstand,
Ehrlichkeit
und
Achtung als Eltern, die sich häufig besonders um die Schulleistungen und
berufliche Zukunft ihres Kindes sorgen«.
Jede
Generation gibt so andere Erfahrungen und Einstellungen weiter, die nützlich
sein können – aber auch eine Last. »Die Kriegsgeneration hat beispielsweise
gezeigt, dass es nach einer großen Krise möglich ist, wieder auf die Beine zu
kommen«, sagt Schölmerich. Aber sie habe auch erlebt, dass Menschen jahrelang
vermisst wurden oder niemals wiederkehrten.
»Die
Unsicherheit der menschlichen Existenz war eine ganz dominierende Erfahrung«.
Auch sie wurde vererbt.
Beziehungen
sind komplex und daher nur schwer zu erforschen
»Es
gibt ein Gedächtnis der Familie, das sowohl positive als auch negative
Erlebnisse speichert«, sagt Marianne Leuzinger-Bohleber, Direktorin des
Sigmund-Freud-Instituts. Die Erfahrungen
der
Männer und Frauen im Krieg waren traumatisch. Oft erzählten sie ihren Kinder
zensierte Versionen und manchmal nicht einmal das. Aber auch das abrupt
einsetzende Schweigen über angesprochene Kriegs-, Sucht- oder Gewalterlebnisse,
sagt Leuzinger-Bohleber, sei ein starkes Signal für die Enkel. »Nichts ist so
wirksam wie das Schweigen. Auch wenn über ein Thema
nicht
gesprochen wird, wirkt es im Leben eines Kindes weiter und hat Einfluss auf
dessen Psyche«. Das Problem bleibt in einem toten Winkel. Es beschäftigt die
Enkel unbewusst, aber weil
ihnen
konkrete Informationen fehlen, können sie sich nicht damit konstruktiv auseinandersetzen
– und es somit auch nicht lösen.
So
einleuchtend und nachvollziehbar die Familienforscher die alltägliche Prägung
durch die Großeltern beschreiben: Sie stützen sich allein auf Fallbeispiele
einzelner Familien und versuchen daraus Grundsätzliches abzuleiten.
Typisierungen sind zwar notwendig, damit die Großeltern-Enkel-Beziehungen
überhaupt für systematische Analysen zugänglich sind. Doch in der Realität sind
diese Beziehungen sehr viel komplexer, keine gleicht der anderen. Diese
Unwägbarkeit ist ein Schwachpunkt des noch jungen Forschungszweigs. Das weiß
auch der Entwicklungspsychologe Schölmerich:
»Die
Erfahrungen mit den Großeltern prägen den Nachwuchs nicht immer. Und erst recht
nicht für immer. Vielmehr selektieren und bewerten wir das meiste im Laufe
unserer Entwicklung neu.
Manchmal
halten wir dann auch das Gegenteil für richtig«.
Wie
genau Großeltern ihre Enkel beeinflussen, darüber sind sich die Wissenschaftler
noch nicht ganz im Klaren. Aber dass sie es tun, ist erwiesen.
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Generationen
Elternstudie
Oma ist wichtiger als Papa
Mütter
und Väter sagen sich von der Hausfrauenehe los. Und sie entscheiden die
wichtigen Dinge gemeinsam. Aber eines wurde bisher unterschätzt: Die Bedeutung
der Großmutter steigt.
Gerade
erst hat sich die Familienministerin Kristina Köhler öffentlich über das
angeblich steigende Engagement junger Väter bei der Kindererziehung gefreut –
da muss sie schon bei einem
ihrer
ersten öffentlichen Auftritte eine Studie vorstellen, die ein ernüchterndes
Ergebnis zum väterlichen Erziehungsbeitrag enthält. Oma ist wichtiger als Papa
– so lässt sich eines der
Ergebnisse
der groß angelegten Untersuchung der Berliner Sozialwissenschaftler Hans
Bertram und Katharina Spieß zusammenfassen.
Wenn
es beispielsweise wegen Krankheiten Engpässe bei der Kinderbetreuung gibt,
sagen sowohl Mütter wie auch Väter, dass sie sich eher auf die Großeltern als
auf den Partner verlassen.
Oma
ist wichtiger, Opa immerhin genauso wichtig wie der Partner oder die Freunde,
so das Ergebnis des "Ravensburger Elternsurvey", für den je 1000
Väter und Mütter mit mindestens einem
Kind
befragt wurden.
"Durch
die vorschnelle Gleichsetzung von Haushalt und Familie wird die große Bedeutung
der Großeltern für die Entwicklung von Kindern in unserer Gesellschaft nicht
nur vernachlässigt,
sondern
vermutlich weit unterschätzt." Kinder würden in Deutschland nach wie vor
im Wesentlichen in der Familie erzogen, schreiben Spieß und Bertram, "aber
Familie umfasst eben nicht nur
Vater
und Mutter". Die Bedeutung der Großeltern sei in den vergangenen zehn
Jahren gestiegen.
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Essen
& Trinken
Kinder
und Ernährung Das Rätsel von Opawurst und Omakäse
Warum
Kinder bei den Großeltern die verrücktesten Dinge essen
Wenn
sich Kinder statt an den heimischen an den großelterlichen Esstisch setzen,
passiert etwas Magisches. Etwas, das als eines der letzten großen Rätsel der
Kindheit gelten kann, die ja
ansonsten
als von oben und unten, von hinten und vorn und damit als absolut erforscht
gelten darf: Diese Kinder sind dann nur noch scheinbar dieselben Wesen, die sie
beim vorigen
Mittagessen
noch waren. Sie nehmen wohlgesittet Messer und Gabel in die Hand und beginnen,
Fleisch- und Gemüsesorten zu durchschneiden, zu zerkauen und
hinunterzuschlucken, die sie zu
Hause,
bei Mama oder Papa, nicht einmal unter Androhung von mehreren Tagen Fernseh-
und Ballspielverbot anrühren würden. Hinterher schauen sie zufrieden und sagen:
»Kann ich bitte
noch
etwas mehr haben?«.
Eine
durch und durch empirische, aber nicht repräsentative Studie der
ZEITmagazin-Redaktion belegt: Ganz gewöhnliche
Pommes-und-Spaghetti-ohne-grüne-Soße-Kinder, wie man sie an
jeder
Straßenecke sehen kann, verzehren bei Oma und Opa plötzlich folgende Gerichte.
Gulasch. Hase in Blutsoße. Schwein in Aspik. Saumagen. Senfeier.
Rindfleischsuppe. Rippchen mit
Kraut
und Speck. Kalbsnierchen. Ja sogar: Dunkles Brot OHNE Nutella! In nicht wenigen
Familien tragen manche Lebenmittel Namen, von den Kindern erdacht, zu Ehren der
Großeltern:
Schinkenwurst
heißt mancherorts schlicht Opawurst, Harzer Käse heißt Omakäse.
Rezepte
und Nahrungsmittel sind das, die der Generation dazwischen, den Eltern, den
Magen wenn nicht umdrehen, so doch in eine gefährliche Schieflage bringen. Es
sind Nachkriegsrezepte,
die
modern waren, als man noch froh war, sich einfach nur satt zu essen – und die
Angst, an einer akuten Nicht-Bioware-Vergiftung zu sterben, noch
unterentwickelt war.
Und
genau das ist auch der Trick, nein, nicht der Trick, denn die Großeltern haben
Tricks gar nicht nötig, wenn die Enkel am Tisch sitzen. Es ist nicht der Trick,
sondern die Erklärung des magischen Phänomens: Kinder essen so etwas vielleicht
auch, weil Omabesuche immer den Reiz des Besonderen haben, aber vor allem, weil
sie ihren Eltern, die sie tagein, tagaus erziehen,
damit
eins auswischen können. Ein fünfjähriges Kind, das Hase in Blutsoße isst,
zwinkert Oma und Opa verschwörerisch zu. »Ätsch!«, sagt es zu Mama und Papa.
Das
ist auch der Grund, weshalb die ganzen unnützen Mütterforen im Internet voll
sind mit noch viel unnützeren Jammerorgien deutscher Mittelstandsmamis, die
immerzu beklagen, ihr Kind
werde
bei Oma und Opa nicht nur fahrlässig fehlernährt, sondern eigentlich halb
umgebracht. Manche dieser Mütter, deren Kinder fünfmal im Jahr bei den
Großeltern essen, zitieren gar eine
Studie
aus England herbei, die angeblich herausgefunden haben will, dass Kinder, die
bei Großeltern aufwachsen, ein paar Gramm dicker werden als andere Kinder. Ja,
ja.
In
Wahrheit ist es die Eifersucht, die da spricht. Und die auch deswegen so dumm
ist, weil, was die Kinder noch nicht ahnen, es irgendwann keinen Hasen in
Blutsoße mehr geben wird, so
wie
ihn die Oma machte.
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