Aurum phosphoricum (Aur-p.)

 

Vergleich: Siehe: Aurum + Phosphorus

 

[Ernst Trebin]

Wohlgemeinte Versuche, die Leistungen unserer Therapieform, der hochgeschätzten Homöopathie, zu verbessern, sollte man nicht grundsätzlich abwehren, etwa als "Herumklügeln" oder "Herumbasteln" abtun, wie es Raimund Friedrich Kastner in der ZKH 2/2006 formulierte oder gar André Saine, der bekanntlich eine große

Diskussion heraufbeschwor darüber, was noch homöopathisch sei oder nicht - einem Fundamentalisten gleich, der nur die strenge und unbeugsame Tradition erlaubt.

Samuel Hahnemann war zeitlebens dem Experiment zugetan, ohne das er seinen Weg nicht gefunden hätte.

Die vielfältigen Verbesserungsversuche homöopathischer Mittelfindung und die daraus sich entwickelnden Strömungen und Schulen verstehe ich allerdings schon als Eingeständnis dafür, dass die genuine Homöopathie, so bewahrenswert sie als Fundament ist, viele Fälle ungelöst lässt und Patienten wie Therapeuten oftmals nicht hinreichend zufrieden stellt.

Die bisherigen Erkenntnisse unserer Methode sind im Detail wie im Überbau von unschätzbarem Wert - und dennoch sehe ich gute Gründe für eine Weiterentwicklung,

denn auch mir gingen, trotz sorgfältigstem Bemühen, mit der erlernten und über längere Zeit ausgeübten Vorgehensweise der Gegenwarts-Homöopathie viele Fälle

verloren.

Als problematisch betrachte ich jedoch die Zuspitzung mancher Arzneimittelfindungs-Strategien in die einseitig psychische Interpretation ebenso wie die unkritische Ausbreitung der Signaturenlehre. Soweit psychisch-personotrope Elemente eines Patienten offensichtlich sind, nützen sie uns vorzüglich, aber handfeste somatische

Symptome weiß ich auch zu schätzen, was andere Zeitgenossen manchmal sogar völlig negieren wollen, Sehgal und seine Anhänger z.B.. Das Gegenteil war der Fall

in der Vor-Vithoulkas-Ära, dennoch übten unsere Vorfahren vor etwa 80 bis 100 Jahren  meines Erachtens eine sehr erfolgreiche Homöopathie aus, an die anzuknüpfen

mir erstrebenswert erscheint.

Theorie

Die Arbeitsweise, die mir seit vielen Jahren zum Standard wurde, hat sich auch ein Stück weit von dem gegenwärtig üblichen homöopathischen Vorgehen entfernt, doch

sie hat sich mir als sehr nützlich erwiesen, sie hat mein Instrumentarium homöopathischer Arzneien nicht nur wesentlich erweitert, sondern vor allem auch besser zugänglich gemacht. Sie bietet freilich breite Angriffsflächen, um als hypothetisch oder unhomöopathisch abgewiesen zu werden. Dennoch bekenne ich mich zu den Strukturen und Pfaden, die ich mir erarbeitet habe und die den Weg zum Arzneimittel nicht mehr zur sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen machen. Sie knüpft aber,

das wird mir immer mehr deutlich, an die Arzneimittelwahl unserer Vorgänger vor mehreren Generationen an, denn die Arzneien, derer ich mich mittlerweile fast

ausschließlich bediene, stammen alle aus deren Fundus.

So arbeite ich in der chronisch-konstitutionellen Behandlung fast nur mehr mit zusammengesetzten Arzneien, auch Doppelmittel genannt, und erarbeite mir diese über miasmatische Überlegungen.

Obwohl ich keine rechte Erklärung dafür habe, warum gerade diese Mittel mir wesentlich mehr Nutzen bringen als die gängigen Polychreste, so sehe ich nicht nur in

Schüßler einen Vordenker, der fast ausschließlich (mit Ausnahme von Silicea) kompletten Salzen den Vorrang gab. Wobei ich allerdings die grob-orientierende Arzneimittelfindung und die raschen Wechsel bzw. Kombinationen des Schüßlerschen Systems nicht gut finde, vor allem nicht in Laienhänden, denn es handelt sich

hierbei um hochwirksame Arzneien, die auch schädigendes Potenzial haben.

Vor allem aber J.T. Kent war ein großer Freund solcher Salze, die er ausführlich wie kein anderer in seiner Arzneimittellehre beschrieb, die er vor allem um einige ganz erstaunliche Mittel erweiterte, wie in seinem postum herausgegebenen Buch Neue Arzneimittel der Materia Medica zu lesen ist.

Das andere Grundelement meiner Arbeit ist, dass ich diese Salze, zu verstehen als Rückgrat der konstitutionellen Behandlung, aber durchaus ergänzt mit pflanzlichen

oder animalischen Arzneien oder Nosoden, über miasmatische Überlegungen auswähle.

Die Miasmenlehre ist wohl seit Anbeginn nicht nur kontrovers diskutiert, sondern vor allem dadurch gekennzeichnet, dass a.) sehr viel Theorie darüber verbreitet wird,

aber b.) die konkreten daraus abzuleitenden Handlungsanweisungen ausgesprochen dürftig sind. Allein der Einsatz von Nosoden oder miasmatypischen Arzneien wie

z.B. Thuja in der Sykose reicht nicht für tragfähige Heilungen aus. J.C. Burnett verstand es offenbar mit gutem Erfolg, wenigstens durch Ergänzung der Nosoden mit organotropen Mitteln in Tiefpotenzen das Potential einer miasmenorientierten Therapie einigermaßen auszuloten.

Alles weitere Schrifttum darüber strotzt von Theorie, begonnen bei J.H. Allen, der vornehmlich der Sykose breiten Raum gibt und hierzu immerhin noch konkrete Mittelempfehlungen abgibt. Er hat mich für einige Zeit sehr beeindruckt, aber seine Sicht der Sykose als ein wahres Raubtier kann ich nicht mehr teilen, verglichen

mit dem destruktiven Potential der Syphilinie ist die Sykose noch relativ harmlos.

Schon Ortega zieht sich weit in philosophische Spekulationen zurück und der aktuellste Gegenwartsautor, Peter Gienow, jongliert mit Thesen und Gedankenspielen,

dies allerdings in einer durchaus genialen Art. Was aber konkrete Fälle anbelangt, so unterbreitet er uns gerade mal eine Handvoll Literaturfälle -neben einem einzigen

eigenen Fall- und darunter ist eine Heilung von Rheuma mit Puls. Schön wär's, wenn das gelingen würde, mit dieser Kinderpistole, wie Burnett es sieht, so eine schwere, organdestruktive Erkrankung zu heilen.

Yves Laborde hat zusammen mit Gerhard Risch Großes geleistet mit seinem Buch „Die hereditären chronischen Krankheiten“, eine umfassende Zusammenstellung nicht

nur der miasmentypischen Symptome, sondern auch der zugehörigen Arzneien. Konkrete eigene Erfahrungen behält er uns aber vor. Roland Methner hat in der Zeitschrift Homöopathie, Sonderheft Miasmen eine verkürzte, aber in Tabellenform vollständige Auflistung miasmatischer Symptome veröffentlicht (wobei die Syphilinie den breitesten Raum einnimmt - übereinstimmend mit meiner eigenen Beobachtung) und ebenso wie Laborde eine Aufzählung zugehöriger Arzneien angefügt. Dass hier -beim einen

wie beim anderen- eine große Fülle kleinerer, zusammengesetzter Mineralien aufgeführt sind, betrachte ich als Bestätigung meiner eigenen Arbeitsstruktur, und gerade

diese Arzneien sind es, die ich mir nach und nach erarbeitet habe. Unsere Vorgänger müssen sich diese zurechtgelegt und eingesetzt haben, denn gerade Laborde hat

diese aus der klassischen Literatur über geheilte Fälle typischer miasmatischer Ausprägung entnommen (mündliche Mitteilung).

Darunter sind Salze wie Kali-ars., Ars-s-f., Merc-p. oder Aur-i. u.v.a.m..

Ist es verwunderlich, dass in der Gegenwart kaum jemand damit arbeitet? Ihre Arzneimittelbilder sind so unspektakulär, entbehren -bislang jedenfalls- jeder erkennbaren Essenz oder besonderer psychotroper Elemente, dass der homöopathische Zeitgeist nicht viel damit anzufangen vermag. So mag man vielleicht verstehen, dass offenbar

weder Laborde noch Methner daraus Nutzen ziehen. Wenigstens die Fallbeispiele von letzterem beinhalten nichts anderes als die gängigen Polychreste unserer Zeit wie Sulph. Lyc. Sil. oder Tub.

Man kann sich diese Arzneien aber auch nicht anders als über ihre Einzelelemente erschließen, also als Doppelmittel erarbeiten. Weil dieser Weg aber seit jeher in der genuinen Homöopathie eher umstritten ist, ja oftmals geradezu ideologisch verbrämt, schließen sich viele Homöopathen von diesem Weg der Arzneimittelfindung aus.

Mein eigener Weg ging über die Entdeckung, dass Calc-p. oft wesentlich besser ankam als der elementare Phosphor, aber nur durch Zusammenführen der Symptome von Calc. Calc-p. Phos. Ph-ac. und Tub. erschlossen werden kann. Auf diese frühe Erfahrung folgte die Synthese von Nat-p. als einem wichtigen Antisykotikum, dem Phos. der sykotischen Ebene sozusagen mit der nachfolgenden Erkenntnis, dass alle Natrium-Salze sykotischer Natur sind. Später erschloss sich mir, dass alle Kali-Salze dem nächsttieferen Miasma (der Gienowschen Miasmenleiter folgend), nämlich der Karzinogenie entsprechen. Schließlich sah ich, dass dieses Zusammensetzen auch auf der syphilitischen Ebene zu wesentlich erfolgreicheren Verordnungen führte als die Gabe der einzelnen Metalle. Mir wurde bewusst, dass es im konstitutionellen Bereich vor

allem zwei Hauptlinien der Syphilinie gibt, nämlich die der Quecksilbersalze und, noch tiefer greifend, die der Goldsalze.

Diese decken nach meinem gegenwärtigen Erkenntnisstand wohl die Sphäre der tiefsten Pathologie ab, wo vor allem Organe betroffen sind wie ZNS, Herz und Kreislauf (Hypertonus), aber auch Gelenke (Rheuma und Arthrosen), Knochen, Gonaden und natürlich in bekannter Weise die Psyche. Gerne arbeitete ich bisher mit Salzen wie

Aurum arsenicosum, Aurum iodatum, Aurum muriaticum natronatum und Aur-s.

Terje Wulfsberg hat sich sehr lobend über die Goldsalze ausgelassen, sein Weg zu deren Wahl geht aber vornehmlich über psychische Elemente, seine Fälle sind aber

auch überwiegend Störungen psychischer Natur zuzuordnen. Meine Wahl stützt sich mit größerer Sicherheit auf somatisch-konstitutionelle Symptome, unter meinen Fällen finden sich allen Erkrankungsarten, an vorderster Stelle zu nennen Rheuma, Fibromyalgie, MS, Parkinson, Hypertonus, Herzerkrankungen, Myome, Magenulzera, schwere Akne und natürlich auch Depressionen.

Meine Überlegungen zum Nutzen von Doppelmitteln gehen in die Richtung, dass diese möglicherweise mehrere Miasmen abdecken, deren Kombination vielleicht für

das Auftreten von ernsten Erkrankungen erst die Voraussetzung ist. Ein Aufsatz von Norbert Winter in der AHZ über C.M. Boger bestätigt mich in dieser Hinsicht mit Aussagen wie "miasmatische Mischungen" und "multimiasmatische Polychreste". So ist Aurum muriaticum natronatum mit Sicherheit sowohl der Sykose als auch der Syphilinie zugehörig und wird von Methner tatsächlich auch unter beiden Miasmen dreiwertig aufgeführt.

Ende 2005 führte mir eine Kollegin, die bei mir hospitiert hatte und so meine Arbeitsweise kennen gelernt hatte (Dank an Frau Kollegin Bachl aus Altdorf) das Arzneimittel Aurum phosphoricum zu, das sie im Herstellungsprogramm der Firma Remedia aus Eisenstadt/Österreich entdeckt hatte, was mir in seiner Zusammensetzung nicht nur theoretisch sehr sinnvoll erschien, sondern auch als praktische Erweiterung meines Arzneimittelschatzes ungemein willkommen war.

Meine Nachfragen beim Hersteller Apotheker Robert Müntz über den Ursprung, den Initiator, über Literatur zum Mittel erhielten nur die Antwort, man wisse nichts weiter,

die Ausgangssubstanz bezöge man von Ainsworths in London. Korrespondenz mit dieser Firma erbrachte die Auskunft, es handle sich um einen alten Ladenhüter, Näheres wisse man nicht. Im übrigen bezweifle man die Stabilität dieser Substanz als Phosphor-Verbindung mit dem doch sehr inerten Gold.

Literatur zu Aur-p. fand ich nicht außer der Mitteilung eines Heilpraktikers auf seiner Website, es habe Eigenschaften von Gold und Phosphor. An dieser Stelle sei angemerkt, dass die klassisch-homöopathisch arbeitenden Heilpraktiker wesentlich aufgeschlossener gegenüber nicht nur solchen Arzneien sind sondern auch gegenüber der gesamten Miasmenlehre als es mir unter ärztlichen Kollegen bisher begegnet ist. So sind ja Yves Laborde und Roland Methner auch Heilpraktiker und die oben zitierte Zeitschrift Homöopathie deren Organ. Die ZKH hingegen hat bis vor einiger Zeit die Miasmenlehre als Tabuthema vermieden, das Lehrbuch von Genneper und Wegener [3] räumt einer Miasmentheorie kaum eine Daseinsberechtigung ein.

Die Entscheidung für eines dieser Mineralien führt also nicht nur über das individuelle Symptom, im Falle von Aurum phosphoricum eben über sichere Phosphor-Elemente

des Patienten, sondern auch über die Pathologie, also Ort und Art der Erkrankung, nährt sich geradezu von einer Diagnose, dem -wie die Homöopathie der Gegenwart es

gerne sieht- eigentlich unwichtigsten Element der Anamnese.

Hier stünden demnach ernsthafte Beschwerden der oben genannten Zielorte der Aurum-Patholgie an, also ZNS, Herz, Gonaden, Bewegungsapparat und Psyche etc.,

um die Entscheidung zu Aur-p. zu lenken. Dies bezieht sich sowohl auf das Symptomenbild des Patienten (sekundärer Miasmatik nach Laborde) als auch auf die familiäre Krankheitsbelastung (primäre Miasmatik).

Klassische Aurum-Merkmale müssen gar nicht im Vordergrund stehen, wenngleich alle für die genannten Krankheiten zuständigen Rubriken mit Sicherheit Aurum-Salze aufführen. Dass die derzeit so beliebte Computer-Repertorisation mit Berücksichtigung der summenmäßig führenden Arzneien schwerlich zu solchen Salzen führen wird, ergibt sich aus den bisherigen Ausführungen von selbst.

Frau von der Planitz hat in einem brilliant formulierten Aufsatz sich zum gegenwärtigen Stand der Miasmenlehre geäußert und darin angedeutet, dass innerhalb einer miasmenorientierten Arzneimittelwahl auch andere Elemente in die Entscheidung einfließen können als lediglich das reine Symptom. Und J.C. Burnett, den ich nicht nur als Vordenker sehr schätze, sondern auch wegen seiner kraftvollen unverschleierten Ausdrucksweise, hat einen Satz formuliert, den ich immer wieder gerne zitiere:

Wenn die Homöopathie einmal ihre Säuglingswindel ablegt, dann werden die subjektiven Symptome für die höhere Homöopathie das sein, was das Buchstabieren für das Lesen ist.

Das Ähnlichkeitsprinzip unserer Arbeit ist von dieser Vorgehensweise ja nicht angetastet, nur wissen wir zu wenig, manchmal rein gar nichts über differenzierende Arzneimittelbilder zu diesen kleinen Medikamenten. Dies zu erarbeiten, wird noch eine große Aufgabe sein.

Ich habe das Mittel Aur-p. bereits in einer großen Zahl von Fällen angewendet und bin sehr froh über diese Neuerwerbung. Die meisten sind Fälle bislang noch nicht hinreichend behandelter Patienten, denen wenigstens der Weg über annäherungsweise passende Similia weiterhelfen konnte; diese Fälle sind zur Darstellung oftmals zu verworren und größtenteils auch noch nicht abgeschlossen. Die Tiefe der Pathologie scheint es mit sich zu bringen, dass die so behandelten Leiden durchaus einen langen Heilungsverlauf brauchen, Rheuma und Fibromyalgie allen voran. Auch fällt auf , dass die ersten Gaben von Aur-p. manchmal zunächst noch wenig bewegen, dass das Mittel sogar anfangs häufiger gegeben werden will als wir gewöhnlich dosieren. Da ich die Arznei nur in der Potenz C200 besitze und keinen Hersteller einer Q- bzw. LM-Potenz kenne (Fa. Remedia?), habe ich mit einer Lösung zu experimentieren begonnen, die es mir erlaubt, anfangs unter Umständen tägliche oder immerhin wöchentliche Gaben

zu verordnen, nachdem das Mittel durch Schüttelschläge von Gabe zu Gabe weiter dynamisiert werden kann. Dies funktioniert gut, im Gegensatz wiederum zu anderen

Fällen, wo eine einmalige Gabe monatelange Besserung erreichen konnte.

 

Praxis

Der nachfolgende Fall ist zwar nicht sehr spektakulär, zeigt aber deutlich den Weg der Arzneimittelfindung auf ebenso wie das Potential der Arznei:

Der Patient kam im Jahr 2004 im Alter von 52 Jahren erstmals in meine Behandlung. Er sei seit ca. 18 Jahren nicht mehr bei einem Arzt gewesen, da er sich gesund fühlte.

Sein Interesse an einer homöopathischen Anamnese sei prophylaktischer Art. Er ist selbstständiger Unternehmer und gab zu seiner gesundheitlichen Entwicklung folgende Dinge an:

Als Kind habe er Rachitis gehabt, später alle gängigen Kindererkrankungen zur rechten Zeit und ohne Komplikationen durchgemacht. In seiner Jugendzeit seien starke Wirbelsäulenprobleme aufgetreten, zeitweise konnte er kaum aufrecht stehen oder laufen, sei deshalb auch von der Wehrpflicht ausgenommen worden. Durch körperliche Ertüchtigung mittels Karate hätte er seine Gesundheit wiedergewonnen. Bis zum Alter von ca. 25 Jahren hätte er drei- bis viermal pro Jahr Tonsillitiden gehabt.

Die allgemeine Befragung ergab Folgendes: Er sei eher warmblütig, kaum kälteempfindlich, halte sich gerne im Freien auf, genieße den starken Wind, fährt auch gerne Motorrad. Er vermeidet die direkte Sonne, liebt Gebirgs- und Seeklima und offene Fenster, bleibt nachts gut bedeckt, lehnt drückende Hitze ab. Früher hätte er regelmäßig Nachtschweiß gehabt, heute schwitzt er noch beim Essen an der Stirn. Er verausgabt sich gerne, was ihm ein Wohlgefühl verursache. An Nahrungsmodalitäten berichtet er, gerne Fisch zu essen, Kartoffeln zu mögen. Nachts hat er gern etwas Lichtschimmer, schläft meist rechts. Er ist kurzsichtig, hätte als Kind Nasenbluten gehabt.

Familienanamnese: Der Vater starb mit 72 Jahren an Hautkrebs, die Mutter leide unter Herzbeschwerden, die Großeltern erreichten allesamt ein gutes Alter.

Die körperliche Untersuchung zeigt einen großen, schlanken, dunkelhaarigen Mann mit ausgeprägter Körperbehaarung, zusammenwachsenden Augenbrauen und einigen

roten Muttermalen. Viele Zähne sind überkront, der Brustkorb leicht hochgewölbt.

Da keine akute Krankheitssymptomatik vorliegt, wird beschlossen, sein vermutetes Konstitutionsmittel im Wechsel evtl. mit der zugehörigen Nosode in großen Abständen zu geben. Er erhält zunächst Nat-p. C200 und zwei Monate später Medorrhinum C200. Danach werden zwei Symptome berichtet, einerseits - nach einer ernsthaften ehelichen Auseinandersetzung - Herzschmerzen mit Ausstrahlung in den linken Arm, später ein einige Wochen andauernder Schwindel beim Kopfbewegen bzw. Umdrehen im Bett. Beide Beschwerdebilder werden mit jeweils einem homöopathischen Mittel beantwortet: Ignatia C1000 für das eine und Conium C200 für das andere.

Später berichtet er von einem Lipom, welches sich nach Gabe von Thuja C200 deutlich verkleinert (ein Ergänzungsmittel zu dem von uns zunächst als Konstitutionsmittel gewählten Nat-p.). Bei einer weiteren Konsultation wird von auffallenden Schweißausbrüchen erzählt, die ihn schon früher belastet hätten. Er erhält wieder das

ursprüngliche Medikament Nat-p. C200.

Im Herbst 2005 leidet er unter Husten, welcher sich in Rückenlage verschlimmert. Hier greift unser Konstitutionsmittel auffäligerweise nic mehr.

Im Januar 2006 erzählt er von Schmerzen der Mittelfingergelenke beidseits. Unter Verdacht auf Gicht bei bekanntermaßen mäßig erhöhter Harnsäure wird seine vorläufige konstitutionelle Linie fortgesetzt mit einer erneuten Gabe von Medorrhinum C200. Einen Monat später erweisen sich die Schmerzen als beständig, es entwickelt sich sogar noch eine Verdickung des rechten Mittelfingergelenks. Nun wird eine Änderung der Vorgehensweise beschlossen, er erhält nun Aurum phosphoricum C200, worauf sich binnen fünf Wochen der Schmerz verliert und die Gelenksschwellung deutlich rückläufig ist. Bei der letzten Konsultation erwähnt er auch noch, dass eine ursprünglich vorhandene Schmerzhaftigkeit des rechten Schultergelenkes sich ebenso verloren hätte.

Analyse und Beurteilung:

Nach der Erstanamnese schätzte ich den Patienten überwiegend tuberkulinisch ein (Rachitis, gerne im Wind, verausgabt sich gerne) mit klaren sykotischen Komponenten (starke Behaarung, Blutschwämmchen). Nachdem er jahrelang völlig gesund war, schien mir zunächst keine tiefere Pathologie vorzuliegen, zumal auch die Familienanamnese mit Ausnahme der Krebserkrankung des Vaters relativ leer war. In der Repertorisation dominiert Phosphor. Ich wählte aber zunächst als Konstitutionsmittel den Phosphor der sykotischen Ebene (meiner eigenen Systematik folgend), nämlich Nat-p. - gewissermaßen ein Brückenmittel zwischen Tuberkulinie und Sykose. Dies wurde als erstes Medikament gegeben und im späteren Verlauf wiederholt, ergänzend dazu erhielt er die Nosode der Sykose, nämlich Medorrhinum (Unternehmer passen außerdem auch gut zum expansiven Geist von Medorrhinum). Akute Krisen wie die Herzschmerzen nach Streit mit seiner Frau wurden mit Ignatia C1000 behandelt, der später auftretende Schwindel beruhigte sich unter Conium C200. Das Lipom reduzierte sich nach einer Gabe von Thuja C200, was ja ebenso eine wichtige Ergänzung auf der sykotischen Ebene ist. Später war Nat-p. noch einmal erfolgreich bei der Verringerung der Schweißneigung, versagte aber beim Husten. Als schließlich die Fingergelenksschmerzen mit nachfolgender Schwellung auftraten, wurde zunächst Medorrhinum versucht unter Verdacht auf Gicht, erwies sich aber als unwirksam. Schließlich lag der Verdacht nahe, dass mit der sykotischen Ebene das passende Miasma noch nicht erreicht war, vielmehr dass sich eine tiefere miasmatische Belastung offenbarte, ja möglicherweise durch die bisherige Strategie sogar hervorgerufen wurde. Unter Berücksichtigung der häufigen Tonsillitiden, der Rachitis in der Kindheit, der schweren Wirbelsäulenprobleme in der Jugend sowie der rasch fortgeschrittenen Karies erkannte ich nun klarer das Vorliegen des syphilitischen Miasmas und kombinierte Phosphor mit dem Metall, das meines Erachtens Gelenkserkrankungen am besten gerecht wird, nämlich Aurum. Obwohl dieses Schwermetall in der Repertorisation bisher kaum zutage trat und er auch von der Psyche her keine Hinweise dafür bot (wenn man mal von seinem beruflichen Eifer und Erfolg absieht), so taucht es doch in Rheumarubriken bevorzugt auf. Er erhielt schließlich Aur-p., was erfolgreich seine Fingergelenkserkrankung bereinigte. Im nachhinein gesehen sind die flüchtigen Herzbeschwerden und der Schwindel schon ebenfalls als diskrete Hinweise zu werten auf Aurum bzw. auf die Syphilinie.

Schlusswort

Am Beispiel von Aur-p., einem zwar produzierten, aber dennoch kaum bekannten Goldpräparat, habe ich meine Arbeitsweise vorgestellt, die sich durch folgende Merkmale auszeichnet, nämlich durch

die Bevorzugung kompletter Salze gegenüber einzelnen chemischen Elementen in der Behandlung chronischer Fälle sowie durch deren Auswahl anhand miasmatischer Einflüsse. Damit fand ich zu einer strukturierten Arbeitsweise, die mir nicht nur eine wesentlich verbesserte Sicherheit in der Arzneimittelwahl gibt, sondern auch dem vorherrschenden Miasma besser gerecht wird und überhaupt erst eine praktische Umsetzbarkeit des bislang nur überwiegend theoretisch verstandenen Miasmenmodells erlaubt. Sie hilft mir auch, Unterdrückungen und die Provokation schlummernder tiefer Pathologien zu vermeiden bzw. zeitig zu erkennen, wie sie mir mit der herkömmlichen Arbeitsweise in zum Teil dramatischer Form begegnet sind.

Die Verwendung derartiger Arzneien dürfte aber in der Generation um J.T. Kent nicht unüblich gewesen sein, weshalb ich vermute, damit nur altes, aber vielleicht nicht in dieser Konsequenz formuliertes Wissen wieder ausgegraben zu haben. Dies weiterzugeben erscheint mir besonders wichtig in der Hoffnung, dass unsere geschätzte Homöopathie ihr Potential noch weiter entfalten kann und endlich zu der Anerkennung kommt, welche ihr zusteht.

 

Fallbeispiel 1

Die ältere Dame Gerda H. (Name geändert) betreute ich zum Zeitpunkt der ersten Niederschrift dieser Arbeit seit beinahe 25 Jahren. Ihre anfängliche Skepsis gegenüber

der Homöopathie konnte ich im Laufe der Zeit durch kleine, spürbare Reaktionen - positive, aber auch manchmal negative - beiseite schieben. Der letzte Schritt, über den

es heute zu berichten gilt, hat sie aber vollends überzeugt.

Anamnese

Mein Wissen über sie habe ich nach und nach zusammentragen müssen, da sie sich einer Anamnese verweigerte mit der Begründung, sie möchte mir doch nicht ihr ganzes Innenleben preisgeben. An Eitelkeit mangelte es ihr nie, genauer ausgedrückt, wirkte sie immer mit Ehrgeiz darauf hin, in gutem Lichte zu erscheinen und ihr gutes Ansehen, aber auch ihre vortreffliche äußere Erscheinung immer wieder bestätigt zu bekommen. Sie fühlte sich immer verehrens- und bewundernswert.

 

An Beschwerden brachte sie vor:

    - eine Neigung zu Schwäche- und Kollapszuständen,

    - einen empfindlichen Magen mit der Bereitschaft zu stenosierenden Duodenalulzera,

    - gelegentliche Ausbrüche einer Psoriasis,

    - einen Tinnitus in Form eines lästigen brummenden Ohrgeräusches, das eintrat, sobald sie sich zum Schlafen niederlegte.

Und nächtliche Panikattacken sowie eine Angst vor dem Alleinsein prägten ihr Gemüt.

Ganz auffallend war immer ihre hohe Empfindlichkeit gegen Medikamente aller Art; schon Bruchteile der verordneten allopathischen Arzneien taten ihre Wirkung.

Repertorisation

Aus dem Gesagten tritt uns schon ein wenig der Arsen-Charakter entgegen, und ein paar Symptomendetails weisen in dieselbe Richtung. So erzählte sie einmal von

einem Hitzeempfinden in den Blutgefäßen (Kent, Bd. I: u.a. ARS., Aur., Calc., med., nat-m., Sulf.), ein andermal von einem Brennen der rechten Thoraxseite

(Kent, Bd.II: u.a. ars., nat-p., sulf. [2]). Ihre scharfzüngig-provokante Art (Sarkasmus) ließ schließlich keinen Zweifel an Arsenicum mehr zu.

Mittelgabe und Verlauf

Ich gab ihr, lange ist es her, für einige Monate Arsenicum album in aufsteigenden Potenzen, was ihr zunächst recht gut bekam, irgendwann aber nicht mehr weiterführte.

Die nachträgliche Durchforstung ihrer dicken Akte zeigt, dass danach Gründe auftauchten, mit Phosphor und seinen Salzen, v.a. Calcium phosphoricum weiter zu arbeiten. Neu aufgetretene Rückenschmerzen, hinter denen die begründete Befürchtung stand, sie würde die schlimme Osteoporose ihrer Mutter geerbt haben, waren damals der

Grund.

Auch diese Strategie führte weiter, blieb aber auf Dauer wiederum unbefriedigend ebenso wie die Rückkehr zu Arsenicum album und -als neuer Ansatz- die Hinwendung

zu seinen Salzen wie Aurum- , Kalium- oder Natrium arsenicosum.

Details, die für Phosphorus sprachen, waren unter anderem ein Schmerz der rechten Schulter (nachgetragen im Murphy als ein durchaus wichtiges und wahlanzeigendes Symptom, das sich mir so häufig klinisch bestätigt hat, dass sich seine Erhebung in den dritten Grad rechtfertigen würde), aber auch ein Engegefühl des Pylorus

(Murphy: u.a. calc., lyc., phos., sulf. [3]), nicht zuletzt auch der bekannte Husten beim Gehen in die kalte Luft.

Phosphor alleine steht aber in der Rubrik Degeneration der Netzhaut – und darüber berichtete sie mir erst in den letzten Monaten. Mit Schrecken nahm ich zur Kenntnis,

dass ihr Augenlicht vehement abgenommen hatte und sie nur mehr mit Lupe lesen konnte. Sie hatte mich darüber zunächst nicht in Kenntnis gesetzt (der Tod ihres Mannes zwei Jahre zuvor beherrschte unsere Gespräche in dieser Zeit). Ein Glaukom ebenso wie die Degeneration der Retina hatten ihren Augen aber zwischenzeitlich schwer geschädigt.

Nun war mir im Laufe des Jahres 2010 die Arznei Arsenicum phosphoricum zugefallen, und meine Patientin erhielt sie erstmal im Januar 2012. “Haben Sie kein Mitleid

mit mir?”, klagte sie damals (also ein Verlangen nach Mitgefühl), und bestätigte mir damit die Wahl eines Phosphor-Präparates.

Nach der ersten Gabe von Arsenicum phosphoricum C200 fiel ihr Augendruck ab, um gegen Ende der Wirkdauer von 35 Tagen wieder zu steigen von 14 auf 37 mm Hg.

Ein “dröhnender” Schmerz im Auge begleitete diesen Rückfall (Glaucoma with pain: Phos., laut Murphy!). Eine zweite und nach drei Monaten dritte Gabe beruhigte das

Auge weiterhin und tat ihr auch allgemein sehr gut. Da bei der darauffolgenden Konsultation die letzte Dosis erst vier Wochen zurück lag und keine aktuellen

Beschwerden zu beklagen waren, wollte ich die Arznei noch wirken lassen und gab ihr nur ein Fläschchen von 5 ml 30%igem Ethanol und darin aufgelöst fünf Globuli

Ars-p. C200 mit, damit sie diese bei Bedarf einnehmen konnte nach vorherigem Verschütteln, wie man es mit flüssigen LM- oder Q-Potenzen macht.

Drei Monate später sah ich sie wieder und hörte ihren Bericht: Tage zuvor habe sie Blitze und rot-grüne Gitterstrukturen gesehen, ihre Augenärztin sprach von einer Makulopathie und prophezeite ihr eine qualvolle Zeit mit fortbestehenden lästigen Gesichtsillusionen. Da habe sie sich ihres Fläschchens erinnert, das sie bis dahin gar

nicht benutzen musste, nahm ein paar Tropfen, und binnen weniger Stunden verschwanden die Erscheinungen.

Neuer Anlauf

Als ich diesen Bericht vor über zwei Jahren in dem Bedürfnis, meine freudigen Erlebnisse der homöopathischen Öffentlichkeit mitzuteilen, bei der AHZ einreichte, kamen angesichts der kurzen Beobachtungszeit Bedenken auf, dass dieser Fall schon definitiv abgeschlossen werden könnte. Und tatsächlich nahm die Behandlung eine neue Wendung, musste ich mich auf die Suche nach einer neuen Strategie machen.

Meine Arbeitsweise

Bevor ich den weiteren Gang der Dinge beschreibe, möchte ich meine mittlerweise recht komplex geratene Arbeitsstruktur kurz skizzieren; sie reibt sich an manchen Konventionen der klassischen Homöopathie (wie z.B. die hohe Wertschätzung des Einzelsymptoms oder die geringe Wahrnehmung der Pathologie), ohne aber die gemeinsamen Grundlagen zu verlassen oder in Frage zu stellen. Sie ist vielmehr die Frucht meiner 30-jährigen Verehelichung mit unserer Heilmethode.

Nicht nur, dass ich die Mineralien und Metalle für die unentbehrlichen Ausgangssubstanzen in der Behandlung chronischer Krankheiten halte (natürlich unterstützt

durch flankierende Gaben von Nosoden oder weiteren Satellitenmitteln), nicht nur, dass ich die kompletten Salze seit längerem bevorzuge, ich sehe in den letzten Jahren

immer deutlicher die Notwendigkeit einer dualen Therapie-Strategie, die auf der einen Seite die Genetik berücksichtigt, also das, was unsere Vorfahren uns in die Wiege

gelegt haben, und die auf der anderen Seite unsere Sozialisation als krankmachenden Faktor benennt und mit entsprechenden Arzneien beantwortet.

Während es verbreiteter Usus ist, im Laufe einer konstitutionellen Behandlung mehr oder weniger häufige Mittelwechsel vorzunehmen, was schon Hahnemann zu tun

pflegte, brauche ich, wenn ich mich denn zur passenden Kombination vorgearbeitet habe, außer mit den oben genannten Ergänzungen keine weiteren Haken zu schlagen. Jedoch erlebte ich in einigen Dutzend Fällen bisher, dass schwere biografische Belastungen oder Krebsfälle in der Aszendenz parallel oder in Abfolge die Berücksichtigung des karzinogenen Miasmas erfordern, was mit der Gabe von Carcinosinum und den diesem Miasma zugeordneten Kalium-Salzen gelingt.

Über diese Strategie und warum ich diese Zuordnung postuliere, habe ich anderenorts schon mehrfach berichtet, für die AHZ bereite ich derzeit eine Stellungnahme vor.

Der weitere Therapieverlauf

Das Farbsehen war nach Arsenicum phosphoricum wieder hergestellt, dieses Symptom also bereinigt, aber die MS und speziell die Störung des Sehnervs blieb bestehen, äußerte sich aber nun in einem intermittierenden Trüb- oder Nebelsehen des linken Auges mit den merkwürdigen Modalitäten einer Verschlimmerung in Wärme, nach dem Duschen und nach Anstrengung. Auch die Sensibilitätsstörungen tauchten hin und wieder einmal auf.

Die den genannten Visusveränderungen zugeschriebenen Repertoriumsrubriken sind klein, Pulsatilla, aber auch Kalium carbonicum finden sich hier. Nach längeren Irrwegen entschied ich mich für Kalium sulfuricum (die chronische Pulsatilla [6]), welches in mehreren Gaben C200 das Sehvermögen deutlich normalisierte, während die Sensibilitätsstörungen befriedigend mit Mercurius phosphoricus beantwortet wurden – womit sich mir bestätigte, dass doch so gut wie jeder Fall von MS eines Quecksilbersalzes bedarf. Leider fehlt mir in diesem Falle ein deutlicher anamnestischer Hinweis auf das karzinogene Miasma, abgesehen von der hohen Tierliebe, die das Leben dieser Patientin ausfüllt.

Resümee

Arsenicum phosphoricum und Mercurius phosphoricus sind sogenannte kombinierte Arzneien, auch Doppelmittel genannt. Dieser Begriff wurde schon von Hahnemann und Aegidi gebraucht, die sich in ihrer Debatte über den Wert derartiger Arzneien klar auf diese Salze bezogen. „Das haben wir ja schon die ganze Zeit so gemacht, schreibt Hahnemann an Aegidi, indem wir zum Beispiel Quecksilber und Schwefel als Quecksilbersulfid, nämlich Zinnober verabreicht haben“. Er wollte nach Aussagen von Lutze im Organon V den sogenannten Doppelmittel-Paragrafen unterbringen:

„Einzelne zusammengesetzte (complizierte) Krankheitsfälle gibt es, in welchen das Verabreichen eines Doppelmittels ganz homöopathisch und rationell ist; wenn nämlich jedes von den zwei Arzneimitteln dem Krankheitsfalle homöopathisch angemessen erscheint, jedes jedoch von einer anderen Seite; oder wenn der Krankheitsfall auf mehr als einer der von mir aufgefundenen drei Grundursachen chronischer Leiden beruht, und außer der Psora auch Syphilis und Sykosis mit im Spiel sind.“

Er nahm aber schließlich davon Abstand, da er sich der Vorhaltung der „Vielmischerei“ nicht aussetzen wollte, die ja gerade er heftig bekämpfte (die genannten Zitate stammen aus Otto Weingärtner: Homöopathische Kombinationsarzneimittel. Als schließlich auch Aegidi die Verabreichung von Doppelmitteln unterließ, äußerte sich Hahnemann zufrieden über das Ende „dieser gräulichen Ketzerei“. Dass die Doppelmittel in der Homöopathie nicht besonders geschätzt sind, beruht nicht nur auf der ungenügenden Prüfungssituation, sondern ist auch Produkt dieser Diskussion; ihre Ablehnung hat also eine lange Tradition.

Warum dennoch diese Doppelmittel, warum diese kombinierten Arzneien? Zum Auftreten einer bedeutenden Pathologie bedarf es möglicherweise des Zusammenwirkens,

des Verkomplizierens mehrerer Miasmen. Doppelmittel können, wie Hahnemann schon ansprach, zwei Miasmen repräsentieren und decken so den genetischen Hintergrund umfangreicher ab. Schüßler und Kent erkannten den Wert dieser Präparate, welche es auch mir erlaubten, mit ihrer Hilfe, und nur mit ihrer Hilfe, auch nicht durch den Einsatz ihrer Einzelelemente in Folge, tiefe Pathologien zu erreichen, die ich ohne sie nicht auflösen konnte.

So repräsentieren Arsen und Mercurius die Syphilinie und Phosphor die Tuberkulinie. Ihre Kombination war mir hilfreich bei je einem Fall von Multipler Sklerose und Degenerativer Retinopathie, die neben der Erkrankung nervaler Strukturen – Syphilinie! – als auffallende Gemeinsamkeit eine Rot-Grün-Verschiebung der visuellen Wahrnehmung hatten, eine Keynote von Phosphor [10]. Ein weiterer Nutzen in zuvor ungelösten Fällen zeichnet sich ab und wird voraussichtlich Gegenstand künftiger Betrachtungen sein.

Fallbeispiel 2

Klara M., 39 Jahre, kam immer mit freudestrahlender Miene in meine Praxis. Mit 23 Jahren hatte sie bereits den ersten Schub einer Encephalomyelitis disseminata erlebt,

der mit einer Sehnerventzündung einherging. Zwei Jahre später kam es zu einem zweiten Schub, der begleitet war von Änderungen der Rot-Grün-Wahrnehmung.

Die Jahre danach war sie symptomfrei, kam aber nun, Mitte 2011, erstmals in meine Behandlung wegen eines Rückfalls. Eine Therapie mit Cortison war schon in die Wege geleitet, hatte nebenbei ein diffuses Exanthem mit intensiver Hautrötung, aber ohne Juckreiz ausgelöst, was aber spontan schon wieder abgeklungen war.

Der aktuelle MS-Schub hatte begonnen mit Nackenschmerzen, mit Steifigkeit der Muskulatur und einem Prickeln entlang der Brustwirbelsäule beim Kopfbeugen, setzte sich fort mit einer Steifheit der Kleinfinger sowie mit einer Pelzigkeit von Fingern und Zehen, die später Brust, Bauch und schließlich den ganzen Körper überzog. Eine MRT zeigte einen frischen Herd im Halsmark.

Der erste Ausbruch der MS mit 23 Jahren wurde in Zusammenhang mit beruflichem Stress gesehen, der jetzige Schub hatte als Hintergrund eine massive Auseinandersetzung mit einer Kollegin am Arbeitsplatz. Die übrige Anamnese war denkbar unergiebig, sie bezeichnete sich als tierlieb, besitzt Pferd und Hund, charakterisiert sich (und erscheint auch so) als gutgelaunt und gesellig. Sie trinkt gerne Milch, isst gern würzig und scharf. In der Familienanamnese findet sich Altersdiabetes, Glaukom, Hypertonus, Magenulkus und Pollinose mit Asthma.

 

Die wenigen verfügbaren Symptome sind in der Repertorisation (Tabelle 1) aufgelistet und verweisen auf eine hohe Prävalenz von Phosphor. Nun halte ich Phosphor für eine Arznei der Tuberkulinie; es hat aber sicher auch einen hohen Stellenwert in der Behandlung der MS. Nach meinem Dafürhalten fehlt aber angesichts dieses destruktiven neurologischen Leidens eine syphilitische Komponente. Und nach der Arbeitsweise, für die ich bekanntlich eintrete, entschied ich mich für eine Kombination mit Aurum, da das Gold noch am deutlichsten in der Repertorisation hervortrat. Ich gab also Aurum phosphoricum C200 und später in LM (Korsakoff).

Die noch verbliebene MS-Symptomatik bildete sich daraufhin langsam zurück, die Nackenschmerzen verringerten sich, ebenso das Prickeln der Brustwirbelsäule beim Kopfbeugen sowie die Taubheit von Handteller und rechtem Fuß. Weil ein Globusgefühl neu auftrat und der Auslöser des aktuellen Krankheitsschubs eine Kummersituation war, gab ich intermittierend Ignatia C200. Während der nächsten Monate verloren sich die Sensibilitätsstörungen nach und nach, es schien mir aber, dass die Wirkdauer der jeweiligen Gaben etwas kürzer war als ich erwarten mochte. Nach einem Jahr der Behandlung waren die Parästhesien der Hand nur mehr ganz sporadisch wahrzunehmen.

Sechs Wochen nach der vorläufig letzten Gabe von Aurum phosphoricum LMK berichtet sie aber über ein Trübsehen des rechten Auges, über ein Schleiergefühl und vor allem über ein Verblassen der Farben. Bevor ich eine erneute diagnostische Abklärung veranlasste, überprüfte ich nun meine Arzneimittelwahl und zog das Symptom Gegenstände erscheinen grau für meine weitere Entscheidung heran. Hier fand sich ebenso wie in der Rubrik Entzündung des Sehnervs Arsenicum album (siehe Tab.1). Da an dem Phosphor-Grundcharakter meiner Patientin kaum zu zweifeln war, entschied ich mich nun für die Kombination Arsenicum phosphoricum C200.

Binnen fünf Tagen war die neu aufgetretene Symptomatik wieder abgeklungen, fünf Wochen später tauchte vorübergehend ein leichtes Kribbeln der rechten Hand auf, waren die Augen aber weiterhin in Ordnung. Jetzt gab es eine weitere Dosis Arsenicum phosphoricum C200, und ich ging davon aus, dass wir nun -nach Umwegen- für diesen Fall die geeignete Arznei gefunden hatten.

 

 

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